Die Klassiker


Es gibt eine fürchterliche Sorte von Leuten, die ich Bildungs-Nekrophilen nennen möchte. Sie sind vom Nimbus der fürnehmsten geistigen Abgeklärtheit umwoben und ihr billiger Kniff besteht darin, immer, wenn von Gegenwärtigem die Rede ist, mit hieratischen Gesten die Vergangenheit zu beschwören und mit dem milden Lächeln allesverstehender Güte auf die sogenannten Klassiker zu weisen. Der hirnloseste Flachkopf wird in der »gebildeten Gesellschaft« als Kulturbringer verehrt, wenn er nur bei jeder Gelegenheit salbungsvoll »Mehr Goethe!« lispelt. Wer aber gar einen Vereinsvortrag »Zurück zu Schiller!« hält und als Broschüre drucken läßt, der braucht um seinen Ruf als ernster Denker sein Lebelang nicht mehr besorgt zu sein. Je unverschämter ein solcher Geistesindustrieritter mit seinen arrogierten Beziehungen zur Klassik flunkert, desto sicherer wirkt er damit auf den Pöbel, der allem zujubelt, was seiner Instinktwut gegen die lebendige Kultur entgegenkommt.

Man braucht nur zu beobachten, in was für eine verzweifelte Erbitterung so ein Bildungssumper gerät, wenn er ein aufrichtiges Wort über einen jener toten Schriftsteller hört, deren unverstandene und unvergessene Lektüre seine Bildung ausgemacht. Sie haben eine eigene schlechtgespielte Verachtung für diese intellektuelle Ehrlichkeit erfunden. Man gehört nicht mehr zu den »gebildeten Menschen«, nicht mehr zu ihnen, man ist Luft für sie. Aber der Haß, der sich als Verachtung maskiert, verrät sich jedesmal. Nicht die Klassiker erfüllen ihr Herz, sondern der gemeine Haß des Gesindels gegen alles Echte, Noble und Unbekümmerte. Nicht dass »Schiller zum alten Eisen« geworfen wird, betrübt diese Guten, aber darüber sind sie außer sich, dass es Menschen gibt, die eine wirkliche Kultur besitzen, für die sie keine Organe haben. Ihre Liebe zu den Toten ist nichts als der Vorwand für den grundlosen und deshalb fanatischen Haß gegen die Lebenden und gegen alle jene, die nichts, auch nicht die Klassiker, mit ihnen gemein haben wollen. Es gereicht mir daher zur aufrichtigen Befriedigung, durch einige unbefangene Bemerkungen über die deutschen Klassiker und die deutschen Philister meinen Anspruch auf den Schandtitel eines im Sinne deutscher Philister »gebildeten Menschen« zu verwirken.

Die »deutschen Klassiker« sind eine bloße Erfindung der leider wirklichen deutschen Philister, ich brauche also nicht zu sagen, dass sie eine geschmacklose Erfindung sind. Ich wundere mich immer wieder, dass noch nicht laut gegen den Unfug protestiert wurde, ein Dutzend wehrloser toter Schriftsteller vom verschiedensten Rang und Wesen durch das Philisterwort »Klassiker« zu verkoppeln, auf das Podium der ordinärsten und scheinheiligsten Standbilder- und Jubiläumsbegeisterung zu stellen und den lebenden, mit ihren eigenen Problemen ringenden Schriftstellern als unerreichbare Vorbilder aufzwingen zu wollen. Der Schaffende kennt keine anderen Klassiker als diejenigen, die er auf dem genugsam mühevollen Weg zu seinem eigenen Selbst findet. Er weiß am besten, was seiner Art ist und ihn zu befruchten vermag, und muß jede Einmengung in seine urinnersten Angelegenheiten zurückweisen. Aber auch das bloße Interesse an wirklicher Kultur, der gute Geschmack, verpflichtet dazu, den Versuch des Philisterressentiments, eine Afterkultur zu oktroyieren, tapfer abzuwehren. Es würde allerdings nichts nützen, denn — Gott sei's geklagt! — es gibt Klassiker-Verleger und Literaturprofessoren, und diese Gattung hat den unbedingten Willen zum Leben, zum Geschäft und zur Fortpflanzung! Ohne die Klassiker aber würde sie aussterben. Und ohne die Klassiker hätten die Mikrokephalen keine Gelegenheit mehr, ihren Geist zu dokumentieren ...

Die Erfindung der deutschen Klassiker ist eine posthume Beleidigung Goethes. Wenn das Jubiläen feiernde Geschmeiß ein Hundertstel von dem geheuchelten Respekt vor Goethe und ein Millionstel von dem angemaßten Verständnis für Goethe hätte, es hätte ihm nicht mit solcher beispiellosen Banausenfrechheit einfach eine Reihe »Kollegen« gegeben. Dass ein Volk nach hundert Jahren den Rangunterschied zwischen Goethe und Schiller nicht begriffen hat, beide auf ein Postament stellt und von den »beiden Dichterfürsten« spricht, ist eigentlich betrübend. Aber für ein Volk, bei dem dank der Klassikerkollegialität auch die Verbindung »Goethe und Körner« oder »Goethe und Hauff« möglich wäre, ist eine Erscheinung wie Goethe umsonst gewesen, einem solchen Volke geschieht kein Unrecht, wenn es zum Gaudium der Welt unter der Spitzmarke »Volk der Denker« aus der Gemeinschaft internationaler Kultur ausgeladen wird. Es ist unglaublich, was als Goethes »Kollegen« sich auf dem Podium der Klassiker herumtummelt. Leute von kleiner bürgerlicher Herkunft mit unerträglich olympischen Gesten. Jeder hat den Gott im Busen, jeder wird von Inspirationen gebläht, kommt aus höheren Sphären und ist nur uneigentlich auf Erden. Der Grund alles Seins bemüht sich persönlich um ihn. Er ist Seher, Richter und Heiland. Er ist mit Pallas Athene aus Zeus' Haupt gekrochen. Seine Sprache geht auf Stelzen und ist heiser wie die aller Demagogen. Aber nichts gefällt dem Volke besser, als wenn einer gut blitzen und donnern kann. Dann muß er ja wohl mit dem Himmel verwandt sein. Goethes Kollegen!*)

Für den deutschen Bildungsphilister konnte das Phänomen Goethe nichts bedeuten. Goethe ist nicht in seinen 36 Bänden eingeschlossen und pflegte nicht zu blitzen und zu donnern. Der deutsche Bildungsphilister braucht einen gehobenen Busen. Die Bedeutung eines Genies liegt in seiner Persönlichkeit, in seinem bloßen Dasein, in der Impression, die es ausstrahlt, ich möchte sagen, eben in seiner Phänomenalität. Sein Vorhandensein ist bereits alles, seine »Werke« sind eine Begleiterscheinung, das unvollständige und unvollkommene Protokoll seiner Entfaltung, seines Sich-Erlebens. Und diese Protokolle — man denke z. B. an die »Wahlverwandtschaften« — werden mit der Zeit immer unverständlicher und wertloser. Was von Goethe noch lebt, lebt nur in Lebendigen. Der Künstler zeugt sich in Künstlern fort, die Werke sind dem Untergang geweiht. In den lebenden Dichtern — es macht wenig aus, ob sie auch wirklich »Gedichte« machen — steckt ein tieferer und größerer Goethe als in »Goethes Werken«. Und wer »Mehr Goethe!« sagt, weiß nicht, was er redet, denn es kann nicht mehr Goethe sein, als in den Lebenden lebendig ist. Weil du Goethe liest, wird er noch nicht lebendig; du sollst es dir sogar ersparen, wenn er nicht zu dir spricht. In anderen wirst du ihn, ohne es zu wissen, hören, aus anderen ihn in dich aufnehmen. Aber plage dich nicht fruchtlos mit »Goethes sämtlichen Werken«, sonst fährt die Seele eines verstorbenen Literaturprofessora in dich hinein — und nie wirst du dann Goethe hören! Genies, mein Freund, wollen weniger gelesen und besser gehört sein. Horch in dich und horch ins Leben, sei dein eigener Klassiker und — laß dich deine Unbildung nicht verdrießen! ...

Lucianus.

 

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*) Die höchste Schätzung Schillers muß in die Spaltung jenes Doppeldenkmals einwilligen. Der deutsche Hochgedanke, der für Poesie und Normalwäsche den Weg durch Einheit zur Unreinheit wählt und der die Individualitäten nur im »Verein« duldet, hat diese fatale Verbrüderung ausgeheckt. Auch wer Schiller vor der Begeisterung der Flachen schützen möchte, muß gegen die Paarung mit Goethe protestieren. Vermutlich hat der Trottelrespekt vor den »Xenien«, jener unbedeutenden Laune zweier Großen, die noch heute Literaturprofessoren auf die Suche nach der speziellen »Autorschaft« treibt, die Dioskurenidee genährt. Aber wahrlich, dem Volk der Denker, dem Compagniefirmen imponieren, stehen Loeser & Wolf noch immer näher.

Anm. d. Herausgeb.

 

 

Nr. 194, VII. Jahr

31. Januar 1906.


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