Erotik der Kleidung
Die Philister oder Moralisten (oder wie man die Leute des engsten geistigen Horizontes sonst nennen will) haben eine eigene Art, die Umwelt des Menschen, die sich in vieltausendjähriger Berührung mit ihm allmählich vergeistigt hat, wieder geistlos zu machen. Sie entdecken nämlich von jedem Ding, von jeder Fähigkeit, von jedem Trieb die Bestimmung«. Alles in der Welt hat bei ihnen einen Zweck, alles ist »zu etwas da«, und zwar hat der Ordnung halber jedes Ding nur einen Zweck und ist nur »dazu da«. Sie spannen Dinge, Fähigkeiten und Triebe in das Joch irgendeiner »Nützlichkeit« und verstümmeln sie solange, bis sie endlich »zweckmäßig« sind. Der Geist selbst zum Beispiel ist in diesem System eines harmonischen Idiotismus »dazu da«, unser ganzes Leben in das Zweckmäßigkeitsprinzip einzurenken; die Kunst, die leider einmal da ist und daher auch einen Zweck haben muß, ist »dazu da«, uns zu »erheben« (das Gesindel steckt immer im Morast und will immer »erhoben« sein); der Geschlechtstrieb ist »dazu da«, eine Nachkommenschaft zu sichern, also die Idioten nicht alle werden zu lassen; der Wein ist »dazu da«, »uns in fröhlicher Gesellschaft, mäßig genossen, die Grillen zu verscheuchen«; die Kleidung ist »dazu da«, uns gegen Kälte und Schmutz zu schützen; das Leben überhaupt ist »dazu da«, dass »du« immer Treu' und Redlichkeit übest und die Mogelei in den Mantel der Ehrbarkeit hüllest — und die Philister sind »dazu da«, dies alles festzustellen ... Signor Bartolo, den Spucknapf!
Weil aber die Welt nicht von den Philistern erbaut wurde, ist sie glücklicherweise ganz unzweckmäßig eingerichtet. Sie ist so unzweckmäßig eingerichtet, dass die wertvollen und köstlichen Dinge darin erst dann ihren Wert und ihre Köstlichkeit erhalten, wenn sie ihre »Bestimmung« und Utilität vergessen und, gegen diese Bestimmung und Utilität, nach ureigenen Gesetzen sich entfalten. Erst wenn der Intellekt sich über seine »Bestimmung«, seinem Besitzer das Fortkommen im Leben zu erleichtern, erhebt, wird er zum Geiste, der an seinem eigenen, zwecklosen Spiel, an seinem gefahrvollen Fluge und an seinen Rätseln sich ergötzt, der ganz unnütze, ja sogar höchst nihilistische philosophische Systeme ersinnt und die Natur ganz überflüssigerweise in Kunstwerken vergeistigt. Erst wenn der Geschlechtstrieb den Frondienst der Fortpflanzung abschüttelt und, am Geiste sich emporrankend, selbstherrlich wird, wenn er, jeder fürsorglichen Einfriedung spottend, übermächtig, vernichtend anstatt zeugend, auf allen verbotenen Pfaden wandelt, dann erst — jenseits aller Utilitäten und Bestimmungen — sublimiert er sich zu der sich selbst genießenden Erotik. Und wenn die Kleidung und Wohnung des Menschen nicht mehr bloße Schutzmittel gegen Witterung und Schmutz sind, sondern Ausdrücke des Stolzes und der Macht, Abzeichen der sozialen Distanz, Betätigungen der Prachtliebe und des Kunsttriebes, dann erst sind sie ein Wertvolles, eine Emanation des Geistes, Symbole und Kunstwerke.
Vor allem die Kleidung. Ihre höchste Vergeistigung erlangt sie als Lockmittel erotischer Wünsche. In der Glut der Erotik wird sie zum glühendsten und spirituellsten aller Dinge: zum Fetisch. In vieltausend Jahren hat die Kleidung soviel des Geistes vom Menschen in sich aufgenommen, dass wir alle Probleme menschlicher Kultur begreifen würden, wenn wir den Geist der Kleidung völlig und unmittelbar verstünden. In jeder Erfindung steckt nämlich unendlich mehr Geist als in ihrem Erfinder. Aber für das, was wir immer vor uns sehen, sind unsere Augen stumpf, und so intensiv auch unser unbewußtes Leben von diesem Geiste beeinflußt wird, so ist es uns doch unmöglich, uns hierüber klar bewußt zu werden. Während die Kleidung dem oberflächlichen Denken als eine Verkleidung, als ein Mittel der Täuschung, als Maske erscheint, welche die wahre Gestalt und das Wesen des Menschen verbirgt, spricht sie in Wirklichkeit das un-bewußte Wesen eines Menschen am deutlichsten aus. Sie erzählt uns direkt und ohne Umschweife vom Innersten des Menschen, aus dem alle Wünsche, Gedanken und Erlebnisse entspringen. Aber diese Sprache hat noch keine Grammatik. Die Äußerlichkeiten der Kleidung, die vielfach vom Zufall abhängen, bedeuten wenig, sie lenken nur das Auge vom eigentlich Charakteristischen ab. Und nicht die allgemeine Form der Kleidung (die Façon) ist für den Träger absolut charakteristisch — die Form der Kleidung, die Mode, erzählt uns etwas anderes: die Geschichte der menschlichen Kultur —, sondern das Leben dieser Form an seinem Körper. Wie die Form, der Geist der Allgemeinheit sich mit dem Individuum verbindet, wie diese Form zu ihm paßt und was der Geist des Individuums aus ihr macht, wie er sie von innen umgestaltet, wie er sie belebt — darin spricht sich das Wesen eines Menschen unfehlbar aus. Die Form des Kleides, die von der Psyche einer Gesamtheit bestimmt wird, ist zugleich auch der subtilste und korrekteste Meßapparat für das Besondere und Eigene eines Menschen, für das Individuum in ihm. Das verschiedene Leben der gleichen Form an verschiedenen Trägern tritt bei der Uniform am reinsten in die Erscheinung. Für einen guten Beobachter ist das individuelle Leben der Kleidung bei Uniformierten am frappantesten und bezeichnendsten. Eine interessante erotische Verwendung findet die Uniform beim Ballet. Hier wirkt die Gleichheit der Kleidungsform, unterstrichen durch die Gleichheit der Bewegung, bereits als konkreter, sinnfälliger Organismus, dessen individualisierende Analyse dem Betrachter den erotischen Reiz einer intimen Enthüllung bietet. Die Mode oder Uniform ist der Ausdruck einer Entwicklungsstufe der Gesamtheit, in der alle vorausgegangenen Entwicklungsstufen einverleibt sind; die Kleidung des Individuums ist der Reflex der Gesamtheit am Persönlichen. Für den Psychologen ist die Verfolgung gerade dieses Reflexes wertvoll, weil er von allen gleichartigen der direkteste und am meisten unbewußte ist. Ich beschränke mich jedoch auf eine kurze, andeutungsweise Schilderung der allmählichen Verbindung von Kleid und Erotik.
Die Erotik hat durch die Erfindung der Kleidung erst ihren wesentlichen Inhalt bekommen. Die Ausgestaltung der Erotik ist mit der Ausgestaltung der Kleidung Hand in Hand gegangen und in unserem unbewußten Empfinden sind Erotik und Kleidung überhaupt nicht mehr zu trennen. Wir wissen kaum, wie sehr unsere ganze Erotik eine Erotik der Kleidung ist. Selbst unsere Vorstellung der Nacktheit ist noch unlöslich mit der Vorstellung der Kleidung verbunden. Wir empfinden das Bekleidetsein als den natürlichen Zustand und das Nackte ist für uns in erster Linie das Entkleidete und erscheint uns als Blöße, als Nudität.
Dies trifft nicht etwa nur auf Frömmler und »Nuditätenschnüffler«, sondern, einige Maler oder Bildhauer, die ihr Auge mühsam umerzogen haben, vielleicht ausgenommen, auf die Gesamtheit zu. Unser Auge ist durchaus der Optik der Kleidung angepaßt und die Erotik der Nacktheit ist für uns zum allergrößten Teile eine Erotik der Entblößung. Was der Mann im allgemeinen an weiblicher Nacktheit sieht, ist zumeist eine stückweise Nacktheit, eine Entblößung. Das Erregende einer Entblößung besteht darin, dass ein Körperteil durch die bekleidete Umgebung isoliert zur Schau gestellt wird. Während die Harmonie des völlig nackten Körpers das Auge zur synthetischen Erfassung eines Organismus zwingt, lenkt der entblößte Körperteil den Blick hypnotisch auf sich und wird zum Träger einer erotischen Idee, zum Fetisch. Auch die Betonung einzelner Körperteile durch die Kleidung, durch Farbe, Pressung, Schoppung, Ornamentik oder Faltenwurf, ist nur eine ideelle, erotisch doppelt wirksame Entblößung. Fast immer ist der Fetischismus der Körperteile mit einem Fetischismus der Kleidungsstücke verbunden, denn er ist, wie das körperliche Schamgefühl, nur ein Produkt der Kleidung. Wie das Schamgefühl eine Entblößung stärker empfindet als völlige Nacktheit, so wird auch das direkte erotische Empfinden durch die Blöße ungleich heftiger erregt als durch die Nacktheit.
Die ungeheure Mehrzahl der Männer kennt überhaupt den Frauenkörper nicht (»kennen« im Sinne von Kennerschaft), sie kennt, liebt und heiratet nur Kleider und Blößen. Noch abhängiger von der Kleidung ist die Vorstellung der Frau vom Manne. Die Verschiedenheit der Kleidung für die Geschlechter, welche hauptsächlich durch die Verschiedenheit der Lebensführung be- dingt ist und kaum eine erotische Ursache hat, bedeutet gleichwohl für die Erotik eine wichtige Etappe ihrer Entwicklung und erschloß eine unabsehbare Fülle erotischer Möglichkeiten. Die Kleidung des andern Geschlechtes ist ein sexuelles Symbol. Das weibliche Kleidungsstück wird für den Mann ein erotischer Fetisch und die Vertauschung der Trachten (eine Lieblingspassion des erotischen Spieltriebes) lockt die überall schlummernden homosexuellen Triebe. Die Frau in Männerkleidung ist eine der verbreiteisten Lockungen unbewußter Bisexualität. Wir sehen sie auf Schaubühnen, bei Maskeraden und beim Sport, beim Photographen und in den erotischen Witzblättern. Auch die zeitweilige Anähnlichung der weiblichen Kleidung an die männliche, der männliche Hut auf einem Frauenhaar, der Stehkragen um den Frauenhals und der männliche Paletot als Frauenkleidung entspringen — wie die erotische Wirkung auf den Mann, der es als »chik« oder »pikant« empfindet, beweist — der unbewußten Bisexualität. Eine besondere Erwähnung verdient hier noch der aus praktischen Gründen erfundene, aber in seiner allmählichen Ausgestaltung deutlich seine besondere Eignung zum erotischen Fetisch zeigende weibliche Pantalon.
Eine zweite wichtige Etappe in der Entwicklung der Erotik der Kleidung ist deren Zerlegung, die Erfindung der Unterkleidung (welche dem Bedürfnis öfterer Auswechslung und Reinigung, dem Bedürfnis der Waschbarkeit ihre Entstehung dankt) und in deren Folge die Erfindung der Taille. Die Zerlegung der Kleidung schuf für die Erotik vor allem den Reiz der umständlichen allmählichen Entkleidung, die auch in der Orgie und im erotischen Schauspiel aller Kulturen als beliebtes Requisit auftritt. Ebenso wurde der Akt der Ankleidung (»die Toilette«) zur erotischen Szene und findet in zahlreichen Werken der bildenden Künste sein Echo. Die weibliche »Wäsche« ist das Objekt des allgemeinsten männlichen Fetischismus und daher der besonderen Sorgfalt und Aufmerksamkeit der Frau. Eine »Brautausstattung« besteht im Wichtigsten und Teuersten aus luxuriösen Fetischen. Die Zerlegung der Kleidung, welche eine knappere und geschlossenere Umhüllung des Körpers ermöglicht, verleiht ferner der wirklichen Entblößung einen Reiz der Seltenheit und erhöhten Illusion und ermöglicht erst alle Arten der andeutenden, ideellen Entblößung. Wenn eine Frau, die ihre Toilette mit naivem Stolz zur Schau trägt, eine Ahnung von der erotischen Symbolik hätte, welche in der jahrhundertlangen Entwicklung einer Tracht in diese eingesponnen wurde, — ihr konventionelles Schamgefühl, das in jahrhundertlanger, der Entwicklung des Lebens konträr zuwiderlaufender Moralideologie zur intelligiblen Gemütseigenschaft geworden ist, würde sie unbedingt verhindern, diese Toilette zu tragen. Aber jene Symbolik erwies sich als stärker, sie wurde gerade durch ihre Sinnfälligkeit dem Auge gewohnt und den Begriffen verschleiert, sie wurde zur Sitte und schlug der »Sittlichkeit« ein Schnippchen. Die heilige Moral predigt das Gewand, und die unheiligste Lüsternheit guckt erst recht aus ihm hervor. »Mehr Verhüllung!« schreit der Moralanwalt. »Und ich mache aus jeder Hülle eine doppelt verführerische Blöße«, kichert der Geist der Erotik. Si naturam expelles furca, tamen usque recurret ...
Die Taille, die eigentlich schon durch Hüftkette oder Gürtel gegeben ist, aber durch die fortschreitende Zerlegung der weiblichen Kleidung gewissermaßen prinzipiell wird — das Empirekleid durchbricht dieses Prinzip eine zeitlang —, teilt den Frauenleib in Ober- und Unterleib. Die bekleidete Frau wird zum Insekt, zur Wespe, mit scharf abgegrenzter Gemüts- und Geschlechtssphäre, mit einer himmlischen und einer irdischen Partie. Schon die Isolation der »Erde« ist eine geistige Entblößung. Der Hinterleib der Wespe hypnotisiert das Auge des Männchens. Und tatsächlich hat der Gesäßfetischismus (eine der stärksten und allgemeinsten Manien der letzten hundert Jahre) die wunderlichsten Blüten weiblicher Mode gezeitigt: die Krinoline, den cul de Paris und das Bauchmieder.
Die Erfindung des Trikots ist für die Erotik in erster Linie durch die Einführung der langen Trikotstrümpfe bedeutsam geworden. Das Trikot wirkt erotisch, weil es die Plastik des Körpers durch die einheitliche Farbe hervorhebt; es vereinfacht und isoliert die Körperform für das Auge und gewinnt an Wirkung, je mehr seine Farbe von der Umgebung absticht und mit der sichtbaren oder unsichtbaren Fleischfarbe kontrastiert. Fleischfarbene Trikots sind eine plumpe, für einen feineren erotischen Sinn unwirksame oder störende Vortäuschung der Nacktheit. Ein Bein wirkt im Strumpfe auf die meisten Männer erotischer als ein nacktes, und lange Strümpfe wirken wieder erotischer als kurze. Rops bekleidet seine nackten Frauen gerne mit Strümpfen. (In anderen Bildern genügt ihm ein Hut, ein einziges Band oder eine schmale Gesichtslarve, um aus der Nacktheit eine Blöße zu machen.)
Der durchsichtige Stoff — der (z. B. als Schleier) auch praktischen und moralisch-religiösen Zwecken dient — und die Spitze (ursprünglich ein bloßes Luxusprodukt) haben ihre feinste Ausgestaltung und sinnreichste Anwendung erst durch den erfinderischen Geist der Erotik erhalten. Sie verwischen oder verwirren die Konturen des Körpers, um die erotische Phantasie zu ihrer kühneren Nachbildung anzuregen, sie lassen die Nacktheit aus einem zarten Nebel hervorschimmern, um sie dem Verlangen begehrlicher zu machen. Beardsley hüllte die Sünde, die er zeichnete, in durchschimmernde Gewänder von kindlich-frommem Schnitt, mit langen Spitzenmanschetten an den Ärmeln und zog ihr weite, lange Spitzenhosen an. Denn er wußte, dass die Kleidung nackter ist als die Nacktheit, und dass wir hinter einem Schleier mehr sehen als im Unverhüllten ...
Wenn wir den Geist der Kleidung ganz verstünden, würden wir alle Probleme des Menschen begreifen. Aber wir vermögen ihn erst zu fühlen, und der Philister gibt sich mit dem Schlagwort »Modetorheit« zufrieden.
Lucianus.
Nr. 198, VII. Jahr
12. März 1906