Das Leben nach dem Leitartikel


Ort der Handlung: ein Ort der Handlung. Personen: Vater und Sohn. Beide blicken verklärt.

Sohn:

In unserer Zeit der sinkenden Schöpferkraft und der abnehmenden Fähigkeit, das Kunstwerk zur Angelegenheit der ganzen Menschheit zu gestalten, ist diese Wiedereroberung wie eine Erlösung nach jahrelanger Sehnsucht.

Vater:

Dass dieses Bild nicht mehr im Prunksaale des Louvre zu bewundern war, daß dieser Akkord in dem wunderbaren Zusammenklang von Schönheit fehlte, das schien trotz aller Wirklichkeit immer etwas Unglaubliches. Das war eine jener Tatsachen des Lebens, mit denen man sich nicht abzufinden vermag, denen immer der Schein der inneren Lüge anhaftet.

Sohn: Du sprichst die Wahrheit, aber von welchem Louvre sprichst Du?

Vater: Von welchem Louvre? Was heißt von welchem Louvre? Von dem Louvre, wo sie nicht achtgeben!

Die Mona Lisa gestohlen! Das war so, als würde man sagen, eine Farbe, ein Duft ist weggenommen aus der Gesamtheit alles Schönen. Ein geistiges Organ, in dem wir alle lebten, das auf alle rückstrahlend seine Herrlichkeit erstreckte, war brutal, mit einem Hieb von uns abgetrennt worden. Die Mona Lisa gestohlen —

Sohn: Auch ich muß zugeben, mich hat seit damals das ganze Leben nicht mehr gefreut.

Vater: Nicht mehr gefreut? Ein Tineff war es ohne der Mona Lisa!

Sohn: Auf die Art hätt’ man die Venus von Milo auch stehlen können! Das hätt’ noch gefehlt!

Vater: Von mir aus! Die soll ohnehin nicht mehr das sein, was sie einmal war. Ich schwärm nur für der Mona Lisa.

Sohn:

Der ganze Instanzenzug bis zum Staatssekretär der Schönen Künste, bis zum Polizeipräsidenten wurde abgewandelt mit der Frage, wo ist die Mona Lisa? Und niemand fand eine Antwort.

Vater: Schöne Künste das, wo man nicht einmal weiß!

Sohn: Was sind das eigentlich schöne Künste?

Vater: Schöne Künste sind solche, wo nicht verdient wird und wo niemand weiß, wenn gestohlen wird.

Und die Angst war lebendig, daß dieser seltsamste Edelstein in dem Diadem der Kunst verloren sei, verloren —

Hat Pollak aus Gaya gezahlt?

Sohn: Ob er gezahlt hat!

Nun ist dieser Bann gebrochen.

Was war eigentlich so besonderes an der Mona Lisa?

Vater: Das Lächeln!

Wie viel ist gesprochen und geschrieben worden über dieses Lächeln. Wie viele haben die Schwingungen dieses Mundes, die, man möchte sagen, geisterhaft weiche Rundung der Wange abgetastet und alle Rätsel des Lebens und der Liebe hineingelegt.

Sohn: Abgetastet haben sie sie? Ich hätt sie auch abgetastet! War sie fesch?

Vater:

Man sah förmlich, wie die Brauen aus den Poren der Haut hervorkommen und sich wölben, so natürlich, als es nur zu denken ist, und die feinen Öffnungen der Nase seien rosig und zart, aufs treueste nachgebildet. Sohn: Schattenstein trefft das auch!

Vater: Auch, aber nicht so.

Wer die Halsgrube aufmerksam betrachtete, der glaubte wahrhaftig, das Schlagen der Pulse selbst unter der seidenweichen Haut zu spüren.

Sohn: Mir scheint stark, sie war eine Maske, in welche Leonardo seine eigene Sehnsucht hineinlegte, sein eigenes inneres Heidentum, das sich gleichsam begütigend und ein klein wenig ironisch zu madonnenhafter Freundlichkeit abzuklären verstand?!

Vater: Auch möglich.

Wie immer diese ewige Frage entschieden werden mag, die vielleicht nur so reizend ist, weil sie niemals lösbar sein wird, wir werden es wiedersehen, dieses Lächeln. Wir können uns den Festtag in Paris vorstellen, wenn die Verlorene im Triumphe eingeholt —

Sohn: Die Verlorene? Sie war doch anständig?

Vater: Selbstredend, aber

wären wir noch in Leonardos Zeiten, eine Prozession würde gebildet werden —

Sohn: Schad.

Vater: Warum schad? Was bist Du auf einmal so traurig?

Sohn: Wenn wir noch in Leonardos Zeiten lebten, würden wir nicht dabei sein dürfen!

Vater: Also ein Glück, daß wir nicht noch leben in Leonardos Zeiten! Ich wer’ dir sagen,

wir leben nicht mehr in der Epoche, wo die Phantastik in das tägliche Leben eindrang.

Sohn: Wieso? Wir haben doch den Leitartikel?!

 

 

Januar, 1914.


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