Das hätte ich nicht erfinden können


(Ein vierfacher Wagenzusammenstoß.) Durch die Unvorsichtigkeit eines Kutschers wurde gestern nachmittag auf dem Franz Josefskai der Zusammenstoß von vier Wagen verursacht. Gegen 3/4 6 Uhr abends stand ein Fiaker, den der Kutscher Oskar Schner lenkte, vor dem Café Residenz auf dem Franz Josefskai 31. Der bei der Internationalen Transportgesellschaft bedienstete Kutscher Franz Ertel kam mit seinem zweispännigen, mit Kisten beladenen Wagen vom Morzinplatz auf den Kai und wollte ordnungswidrig die Kurve schneiden Er fuhr an den Fiaker derart heftig an, dass der Türschlag beschädigt wurde. Als nun die beiden Wagen aneinandergefahren waren, war die Straße verlegt, und der Kutscher Georg Erschinger wollte, als er von der Marienbrücke mit seinem zweispännigen Paketwagen der Poststation Simmering, Am Kanal Nr. 527, gegen den Morzinplatz fuhr, den beiden Wagen ausweichen. Er fuhr aber bei dem Versuch an einen entgegenkommenden Straßenbahnwagen der Linie »EK« an. Durch den Zusammenstoß wurde Erschinger vom Bocke geschleudert. Er blieb zum Glücke unverletzt. An dem Motorwagen wurde die Vorderwand eingedrückt. Ertel ist an dem doppelten Unfälle schuldtragend. Die Strafamtshandlung ist eingeleitet.

Das hätte ich nicht erfinden können. Es ist ein Stück Wiener Natur, gesehen durch das Temperament eines Weltblattes. Es ist die endgiltige Plastik des hiesigen Daseins, das vor seiner Unabänderlichkeit zum dasigen Hiersein zwingt. Nicht, dass sie zusammenstoßen müssen, wenn hier vier Wagen fahren, und nicht, dass was hier geschieht, auch in seiner Unmittelbarkeit gesehen wird, sondern die Identität des Geschehens und Sehens schafft das Bild dieser Welt. Es ist so: auf der Straße des Wiener Lebens hat jeweils nur eine Individualität Platz: der Kutscher Oskar Schner oder der Kutscher Franz Ertel oder der Kutscher Franz Erschinger oder der Straßenbahnwagen, der auch eine Individualität ist, denn wenn man auch nicht weiß, wie der Motorführer heißt, so heißt jener doch »EK«. Nur eine Individualität hat Raum, will sich ausleben, gesehen werden. Nun geschieht es aber, dass der Kutscher Oskar Schner um 3/4 6 Uhr abends auf dem Franz-Josefs-Kai steht. Aber wo? Bei Nr. 31. Was befindet sich dort? Das Café Residenz, das unter der bewährten Leitung steht. Wir würden uns gern dabei aufhalten, aber es handelt sich jetzt nicht um den Cafétier, sondern um den Kutscher. Er steht da. Vor dem Café Residenz, welches sich auf dem Franz-Josefs-Kai 31 befindet. Das ist klargestellt. Da kommt nun der Kutscher Franz Ertel, der bei der Internationalen Transportgesellschaft bedienstet ist — für Details ist keine Zeit — mit seinem zweispännigen, mit Kisten beladenen Wagen. Von wo? Vom Morzinplatz. Wohin? Auf den Kai. Und fährt den Fiaker, eines der gediegensten Zeugein, heftig an, so dass. Nachdem nun einmal der Türschlag beschädigt ist, bleibt die Straße verlegt. Der Ausblick war schon durch die riesenhafte Erscheinung des Kutschers Oskar Schner gesperrt, jetzt ist es auch der Verkehr, der sich bis dahin doch mühsam durchquetschen konnte. Wenn man nur wüßte, wie der Wachmann heißt, der nicht da ist! Dafür ist plötzlich der Kutscher Georg Erschinger da. Sehen wir uns einstweilen den Kutscher Georg Erschinger an, von wannen er kam und wohin er fahren wollte. Er kam von der Marienbrücke mit seinem zweispännigen Paketwagen der Poststation Simmering, Am Kanal Nr. 527, und fuhr gegen den Morzinplatz. Ja, was will denn der da? Das ist ja ein dritter! Wir möchten uns vor Zerstreuung bewahren, aber er ist nun einmal hier und zieht uns in seinen Bannkreis. Er wollte ausweichen, wollte sich unserer Beachtung entziehen, aber wenn eine Individualität ausweichen will, stößt sie bei dem Versuch unfehlbar an einen entgegenkommenden Straßenbahnwagen der Linie »EK« an. Das verwirrt vollends. Das hat uns noch gefehlt! Durch den Zusammenstoß wurde Erschinger vom Bocke geschleudert. Das ist bedauerlich, er blieb aber gewiß in der Luft hängen, wie auf einem Bild von Schönpflug, von dem ja dieser ganze Zusammenstoß und dieses ganze Wiener Leben überhaupt ist. Er blieb zum Glücke unverletzt. Zum Glücke: da klingt das goldene Wiener Herz! Aber es kann ja auch nicht anders sein; was vom Schönpflug kommt, fällt nicht auf die Erde. Was geht, steht; was steht, fällt. Das sind Gefahren. Aber — zum Glücke — was fällt, hängt; was hängt, steht; was steht, bleibt; was bleibt, ist ein Dreck. Also eine Individualität. Drei waren zuviel. Man soll das Schicksal nicht versuchen. Es kann einmal schief gehen. Seien wir froh, wenn nur das geschieht, was ich nicht hätte erfinden können.

 

 

Januar, 1914.


 © textlog.de 2004 • 24.12.2024 03:50:29 •
Seite zuletzt aktualisiert: 15.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen