Der rechtshistorische Wahnsinn


Die Prüfungsordnung an unseren Rechtsfakultäten ist ein mißglücktes Gesetz und blieb deshalb durch Jahrzehnte bis heute in Geltung. Eigentlich bildet sie ein schmachvolles testimonium paupertatis für die zünftigen Juristen Österreichs, an deren Eignung zur kodifikatorischen Tätigkeit sie sehr berechtigte Zweifel aufkommen läßt. Sie konnten nicht einmal pro domo, für ihre ureigensten Bedürfnisse ein zweckmäßiges Gesetz zustande bringen.

Um dem Laien eine ungefähre Vorstellung von der Verkehrtheit dieser Prüfungsordnung zu verschaffen, seien hier ihre Grundzüge angedeutet.

Der gesamte Rechtsstoff zerfällt in drei große Gruppen, aus denen je eine Staatsprüfung, und wenn das Doktorat angestrebt wird, je ein Rigorosum zu machen ist. Die erste Staatsprüfung, die der Einführung in das Studium modernen Rechtes gewidmet ist, muß spätestens innerhalb der ersten zwei Jahre erfolgen, während bezüglich aller übrigen Prüfungen die einzige Vorschrift besteht, dass sie erst nach Ablauf der gesamten Studienzeit (normal mindestens vier Jahre) abgelegt werden dürfen.

Lassen wir diese Ordnung funktionieren:

Der Jurist macht die erste Staatsprüfung und bereitet sich hierauf zur zweiten vor. Was soll er auch sonst anfangen? Nach dem Absolutorium legt er sie ab und schließt daran auch das entsprechende (zweite) Rigorosum, wenn er auf das Doktorat reflektiert. Dasselbe wiederholt sich bei der nachfolgenden dritten Staatsprüfung, resp. dem dritten Rigorosum. Nun besitzt er bereits die Eignung für den praktischen Dienst und tritt ihn in den meisten Fällen auch sofort an. Zum Doktorate fehlt ihm aber noch immer das erste Rigorosum, bei dem ein Anschluß an die entsprechende (erste) Staatsprüfung unmöglich war, weil die Ablegung der Rigorosen durchwegs das Absolutorium voraussetzt. So tritt nun das Verblüffende ein: der fertige Jurist, mitten in der Praxis, muß noch einmal — die Einführung in das Rechtsstudium durchmachen.

Man denke nur diesen tiefen Unsinn durch: den praktisch wichtigen Stoff, der in der zweiten und dritten Staatsprüfung, resp. in den Rigorosen enthalten ist, studiert er nur einmal, die Einführung und den daran angehängten Ballast dagegen zweimal: am Anfang und zum Schluß!

Als man an dieser famosen Ordnung zu rütteln begann, erhob sich sofort ein lebhafter Widerspruch seitens der Rechtsfakultäten. Die Rigorosen, hieß es damals, kämen nicht so sehr für die praktischen Berufe, wie für die Pflege der Wissenschaft in Betracht. Das mag heute noch bei der theologischen und der philosophischen Fakultät zutreffen, bei der medizinischen trifft es gar nicht, bei der juridischen in minimalem Ausmaß zu. Das Rechtsdoktorat ist vor allem Erfordernis für die Advokatie, hat also mit der Pflege der Wissenschaft garnichts zu tun. Es wird jedoch darüber hinaus von jedem, der die Mittel hat, angestrebt, der besseren Qualifikation und vor allem des Titels wegen. Bezieht man schon keinen Gehalt, so will man wenigstens einen anständigen Titel führen. Da heißt man sonst nach jahrelangem Studium »Praktikant« und muß diesen odiosen Titel in einzelnen Verwaltungszweigen jahrelang genießen. Der simpelste Mann aus dem Volke bekundet mehr Taktgefühl als alle Kodifikatoren zusammen, da er sich schämt, einen so großen und gelehrt aussehenden Menschen, der bald ein Familienvater sein könnte, »Herr Praktikant« anzureden.

Das Doktorat hilft darüber hinweg. Es ist nicht einzusehen, warum es gerade den Juristen erschwert werden sollte, nachdem es den Technikern zugänglich gemacht wurde.

Ehemals bestand zwischen den Kandidaten und Examinatoren die tacita conventio, dass beim letzten Rigorosum aus der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte nur das sogenannte Privatrecht zu prüfen sei, man betrachtete das Ganze mehr als eine lästige Formalität und drückte gern ein, und wenn es nötig war, beide Augen zu. Was sollte es auch heißen, einen fertigen Juristen durchfallen zu lassen, damit er »die Einführung« gründlicher studiere? Der Kandidat empfindet es als eine Kränkung und Beleidigung. Jedenfalls ist es Senf nach dem Essen. Aber das Vernünftige währt bei uns selten am längsten, Eines Tages erwachte ein Germanist mit dem Entschlüsse, die ganze Reichs- und Rechtsgeschichte zu prüfen, und sofort war die Ausnahme zur Regel geworden. Das Unglück kommt jedoch selten allein: zwei Germanisten — anstatt zweier Romanisten — fungierten bald als Examinatoren, und ohne genaue Kenntnis des ominösen Gegenstandes gab es kein Doktorat mehr.

Man muß sich nur vor Augen halten, was er alles in sich birgt! Nicht weniger als sieben Materien (Reichs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, Straf- und Zivilrecht, Straf- und Zivilprozeß), die sich auf einen Zeitraum von anderthalb Jahrtausenden erstrecken. Die Vorträge darüber umfassen jetzt schon über 1400 Folioseiten, und das Ende der »Forschung« ist gar nicht abzusehen. Man ist heute eifrig bemüht, die historische Entwicklung jedes einzelnen Rechtsinstitutes zu erfassen. Ein echter Germanist verfolgt sie aber nicht etwa nach vorne, um die richtigen Anknüpfungspunkte an die moderne Rechtsbildung zu gewinnen, — sondern nach hinten, möglichst in das Säuglingsalter der Germanen hinein. Man kann sich leicht denken, was da alles zu Tage gefördert wird. Das ärgste Übel ist jedoch die Behandlungsmethode. Das Kulturgeschichtliche wird durch den Spürsinn eines nach Rechtsregeln lechzenden Gehirns zu einem geschmacklosen Zerrbild, der Rechtsstoff selbst durch geist- und witzlose Darstellung und öden wissenschaftlichen Apparatus völlig ungenießbar gemacht. Es ist doch eine alte Wahrheit: Je weniger in einem Gegenstande steckt, desto mehr Kathederweisheit wird hineingetragen. Wo nur schwache Ansätze gedanklicher Abstraktion durchschimmern, werden schon Prinzipien abgeleitet. Überall werden Distinktionen gehäuft, unnütze Theorien aufgestellt und in dem, was nur ein Ausdruck der Unbeholfenheit ist, allerlei Tiefsinn erblickt. Der Ruhm der Romanisten läßt die Germanisten noch immer nicht schlafen und in ihrem nationalen Übereifer ahmen sie jene blind nach. Aber aus dem römischen Recht sprühen Funken, wo und wie man es nur anfaßt, und das deutsche Recht wird zu einem Misthaufen, dessen Gestank desto größer wird, je mehr man darin wühlt.

Man muß sich das doch endlich einmal offen eingestehen: unsere Altvordern besaßen das zur Rechtsbildung nötige Zeug nicht. Wenn irgend ein Zweifel daran möglich gewesen wäre, so hätten ihn die Ergebnisse germanistischer Forschung gründlich zerstreut. Man betrachte nur ihre Rechtseinrichtungen: das Kompositionssystem, die Fehde, den Reinigungseid, den ein Fremder siebenmal nacheinander schwören mußte, die Ordalien, den Zweikampf als Rechtsmittel u. a. m. Wie rührend mutet einen die Unbeholfenheit an, die sich z. B. in der Entwicklung der Obligationen spiegelt! Wenn ich jemandem 5 fl. borge, so ist er mir 5 fl. schuldig und ich kann sie von ihm fordern. Das begreift heute jedes Kind. Was gibts da zu entwickeln? Unsere Altvordern konnten es dennoch nicht einsehen. Auf x Seiten wird da breit und lang auseinandergesetzt, wie sie jedesmal, wenn man schon freudig ausrufen will: Ha, jetzt haben sie es!, immer noch daneben greifen. Sie waren eben ein im abstrakten Denken schwerfälliges, mit naiver Weltanschauung behaftetes Volk und behandelten das Recht mehr als ein Spielzeug. Ihr Horizont war eng begrenzt: jedes Dorf bildete einen Staat für sich. Unfähig, sich in fremder Gedankenwelt zurecht zu finden, trugen sie, so oft sie die Grenzen ihrer Heimat verließen, das Recht wie ein Hemd mit sich herum. War zwischen zwei Angehörigen verschiedener Dörfer ein Rechtsgeschäft abzuschließen, so mußten zunächst umständliche Vorfragen gelöst werden. »Nach welchem Rechte lebst du?« fragte der Eine mißtrauisch den Andern. »Nach dem Salmannsdorfer. Und du?« »Ich nach dem Inzerdorfer.« Bald war ein internationaler Konflikt da und bevor die zwei über einen Ochsenkauf schlüssig wurden, dürfte bei der fidelen Gewohnheit der Germanen, jedes Rechtsgeschäft zu »begießen«, ein hübsches Quantum Wein ausgetrunken worden sein. Vielleicht rührt gar die von Tacitus ihnen nachgerühmte Trunksucht von dieser Rechtskompliziertheit her? Doch ich will mit meiner unmaßgeblichen Meinung keineswegs der »Forschung« vorgreifen.

Wie anders war dies alles bei den Römern! Weltbewandert, erhaben über die Vorurteile der Heimat, mit weitem, die ganze damalige Welt umfassenden Ausblick, verschwendeten sie auf die Jurisprudenz mit erstaunlicher Leidenschaftlichkeit tausend Jahre hindurch die ganze Fülle ihrer scharfen, alles durchdringenden Logik und Findigkeit und schufen so ein Werk von unsterblicher, nie versiegender Schönheit.

Die Germanen sind über die Anfangsschwierigkeiten nie hinausgekommen. Der übertriebene Individualismus wirkte das ganze Mittelalter hindurch auf die Rechtsbildung lähmend und destruktiv. Es gab eine Unzahl von Stammes-, Land-, Stadt- und Dorfrechten. Aber auch einzelne Stände besaßen ihr eigenes Recht: Dienst-, Hof-, Familien- und Lehnrecht. Alle diese Rechtsarten waren ineinander so verzwickt, dass schließlich Niemand mehr wußte, was in einem konkreten Falle rechtens wäre, und jeder schwang sich lieber gleich selbst zum Richter auf. Faust- und Fehderecht wurden zu förmlichen Rechtseinrichtungen, so dass ein Kardinal summarisch nach Rom berichten konnte: tota Germania unum latrocinium est. Der Volksmund aber prägte die bezeichnende Parömie: Das Stehlen ist keine Schande, das tun die Besten im Lande.

Da kamen endlich die Weisen, entwanden dem Volke sein Recht und schenkten ihm dafür das erhabene Meisterwerk der Römer. Das dumme Volk brummte und schimpfte und benahm sich ungebärdig wie ein Kind, dem man ein Spielzeug aus der Hand nimmt. Aber drei Jahrhunderte genügten, um die gewaltige Erziehungskraft des römischen Rechtes unanfechtbar zu dokumentieren. Kaum war die Kinderpassion überwunden, eilten die Deutschen mit Riesenschritten voran und überflügelten im Nu alle übrigen Nationen. Und wer waren sie, die den Ruhm deutschen Namens in die Welt trugen? Ihering, Savigny, Puchta, Mommsen, Arndts, Windscheid, Dernburg, Bruns — lauter Romanisten.

Anderthalb Jahrhunderte dauert nun schon die germanistische Forschung. Kaum ein anderer Zweig wurde mit größerer Verve und Hingebung gepflegt. Und das Resultat? Kein noch so glühender Patriotismus kann über die Sterilität der Sache mehr hinwegtäuschen! Die ganze Epoche trägt deutlich die Spuren einer sauern und peniblen Lehrzeit, und nur blinder Chauvinismus kann sich an dem Treiben der Lehrlinge ergötzen.

Der Einfluß des spezifisch deutschen Rechtes auf die modernen Disziplinen ist lächerlich gering. Unser bürgerliches Gesetzbuch ist trotz der bewußten Opposition seiner Redaktoren gegen das römische Recht gänzlich auf diesem aufgebaut und die dem deutschen Recht entnommenen Rechtssätze kann man an den Fingern einer Hand zusammenzählen. Der Strafprozeß lehnt sich an das französische Vorbild an. Bei der Reform des Zivilprozesses mußte man mit der Vergangenheit vollständig aufräumen und dort einsetzen, wo die Römer aufgehört hatten. Das Staatsrecht? Das heilige römische Reich deutscher Nation, das »monstrum tantum simile«, wie es der geniale Puffendorf benamste, mußte gänzlich in Trümmer geschlagen werden, ehe man an seiner Stelle ein neues herrliches Gebäude errichten konnte. Von all den mittelalterlichen Dingen ist nur der Name »Reichskanzler« übrig geblieben ... Das Strafrecht bedarf zu seinem Verständnis keinerlei historischer Vorkenntnisse. Gehört doch unser Strafgesetz selbst bald der Geschichte an! Eher tut hier ein Rundblick auf die modernen Strafeinrichtungen anderer Staaten not.

Nur bei drei Materien finden sich nützliche Anknüpfungspunkte an die deutsche Rechtsbildung: beim Grundbuchs-, Handels- und Wechselrecht. Aber gerade auf diesen Gebieten versagt die Kathederweisheit vollständig und der Kandidat steht ihnen nach zwei Jahren wie einer Sphinx gegenüber. Wenn er sich durch all den historischen Kram zu ihnen durchwindet, besitzt sein Gehirn keine Aufnahmsfähigkeit mehr.

Als Rechtsstoff ist demnach die Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte praktisch wertlos. Als Kulturgeschichte gehört sie aber gar nicht in die juridische, sondern teils in die philosophische Fakultät, teils ins Gymnasium.

Und nun stelle man sich die Qualen unserer jungen Juristen vor, die, meistens mitten im praktischen Dienst, dieses entsetzliche Zeug genau lernen müssen! Cui prodest? Da sie davon für ihre Zukunft nicht ein Jota brauchen können, müssen sie sich glücklich schätzen, wenn es ihnen gelingt, es so schnell als möglich zu vergessen, damit es am Ende nicht den modernen Stoff völlig verdränge. Nach ein paar Tagen bleibt ihnen davon nichts übrig als das bittere Gefühl vieler verlorenen Stunden und eine unüberwindliche Abneigung gegen jede Wissenschaft. Die wird, wie immer, durch die Wissenschafterei totgeschlagen.

Es ist nicht lange her, dass uns der nach Deutschland entführte Mitteis herüberrief: »Ihr verdummt ja eure Jugend!« Sein Mahnwort ist ohne Widerhall verklungen. Verdummung, ach, das Wort hat ja einen heimatlichen Klang, bildet ja die Devise unseres Lokalpatriotismus. Und so erleben wir noch immer das erhebende Schauspiel, dass unsere jungen Juristen, während sie den Flug nach oben unternehmen sollen, um die Kompliziertheit der jetzigen Verhältnisse aus einer besseren Perspektive kennen zu lernen, mit nichtsnutzigem Ballast vollgepfropft werden. An der Schwelle des XX. Jahrhunderts, wo täglich neue Probleme an den jungen Menschen heranstürmen, wird sein Blick gewaltsam in die dunkelste Vergangenheit gelenkt. Akademische Lehrfreiheit — eine hehre Sache in Händen lebenskluger Männer, die Kopf und Herz auf dem rechten Fleck haben! Von der Lebensfremdheit, dem Eigendünkel und der Wichtigtuerei geleitet, wird sie zum geschliffenen Messer, das man einem Wahnsinnigen in die Hand drückt.

Der ganze Jammer der österreichischen Lebensunfähigkeit wird aber erst dann recht sichtbar, wenn man bedenkt, wie winzig wenig zur Beseitigung jenes Übels genügen würde! Man brauchte bloß mit dem kindischen Prinzip — eigentlich nur eine petitio principii — zu brechen, wonach das Absolutorium auch für das erste Rigorosum notwendig sei, und zu dekretieren: Das erste Rigorosum kann bereits nach Ablauf von drei Semestern abgelegt werden, — und sofort gewinnt die Sache ein gefälligeres Aussehen. Das erste Rigorosum erhält Anschluß an die erste Staatsprüfung, und die triste, von Lebensüberdruß umflorte Erscheinung des ewigen Doktoratskandidaten, der manchmal sogar die praktische Prüfung hinter sich hat, verheiratet ist, von seiner Umgebung mit verletzender Diskretion per Doktor angesprochen wird, verschwindet sofort. Nicht einmal mit der Rückwirkung brauchte man sich den Kopf zu zerbrechen. Man lasse einfach das Gesetz sofort wirken. Jene Kandidaten, die noch nicht allzu tief im judiziellen Studium stecken, werden von dieser Rechtswohltat noch Gebrauch machen können, die übrigen werden es wohl unterlassen. Zugleich restituiere man bezüglich der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte die frühere Praxis und vergesse insbesondere nicht zu verfügen, dass zwei Romanisten als Examinatoren zu fungieren haben. Denn Gott bewahre uns davor, dass der Schwerpunkt des Rigorosums vom römischen ins deutsche Recht verlegt werde!

Man munkelt ja schon, dass an dieser Reform »gearbeitet« werde. Die Berge in Österreich kreißen. Hoffentlich erleben wir keinen Abortus! Denn der ist bei uns, selbst wenn es sich um die kleinste Maus handelt, zu befürchten. —

*

Über kurz oder lang wird man jedoch dem ganzen Rechts-Doktorat an den Leib rücken müssen. In der gegenwärtigen Gestalt bildet es, wie schon sein Name andeutet, ein antediluvianisches Monstrum. Die Zeiten, wo der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit im römischen und kanonischen Rechte lag, sind längst und definitiv vorbei. Heute umfaßt es zehn umfangreiche Fächer, unter denen das römische Recht zwar immer noch seinen Ehrenplatz behauptet, das kanonische sich dagegen mehr wie ein Anhängsel ausnimmt. Mit dem Anschwellen des Rechtsstoffes vollzog sich ein ständiges Abflachen der wissenschaftlichen Ausbildung. Ein tieferes Wissen in allen zehn Fächern — eine Aufgabe für das ganze Leben — zu verlangen, wäre ja absurd, und kann man es nicht in allen verlangen, so verlangt man es schließlich in keinem. So sind heute die Rigorosen kaum mehr denn eine Wiederholung der bezüglichen Staatsprüfungen. Das Gehirn eines JUDr. gleicht aber einer Encyklopaedie der Rechtswissenschaften. Es enthält multa, non multum. Es entspricht also keineswegs den Anforderungen der nach einer Spezialisierung drängenden Wissenschaft. Es wird aber auch den Postulaten des praktischen Lebens nicht gerecht. Die strenge Scheidung zwischen Rechtspflege und Verwaltung verlangt gebieterisch eine entsprechende Spaltung des Doktorates. Was soll ein Richter mit der wissenschaftlichen Ausbildung in politicis, was ein Verwaltungsbeamter mit einer solchen im judiziellen Fach anfangen?

Da nun die Staatsprüfungen die nötige Abrundung des juristischen Wissens garantieren, läßt sich eine Reform des Rechtsdoktorates ohne jede umstürzende Änderung des bisherigen Studienplanes, die immer an dem zähen Widerstand des österreichischen Konservativismus zerschellen würde, etwa folgendermaßen durchführen:

1. Zum Rechtsdoktorate genügen von nun an zwei Rigorosen: das erste und zweite (praktisch für Richter und Advokaten), oder das erste und dritte (praktisch für jene, die sich dem Verwaltungsdienst, und jene, die sich dem politischen Leben widmen wollen). 2. Das erste Rigorosum kann bereits nach drei Semestern, die übrigen erst nach dem Absolutorium abgelegt werden. 3. Der Prüfungsstoff bleibt unverändert. Bloß beim ersten Rigorosum wird im Sinne der früheren Praxis aus der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte das deutsche Privatrecht geprüft, und zwar so weit es Bestandteil des gemeinen Rechtes geworden ist und in besonderer Berücksichtigung der österreichischen Rechtsbildung (also im Umfange des Gerberschen Systems). Die Zahl der Examinatoren wird auf drei herabgesetzt. Um jedoch dem römischen Becht seine Stellung zu sichern, erhält der Romanist zwei Stimmen. 4. Die Prüfungstaxe wird beim ersten Rigorosum herabgesetzt (etwa auf 100 Kronen), bei den zwei anderen dagegen erhöht (etwa auf 180 Kronen). 5. An dem Prinzip der Unersetzlichkeit der Staatsprüfungen durch die Rigorosen wird festgehalten. Da hiebei jedoch nur der eine Zweck verfolgt wird, die praktische Ausbildung der Juristen neben der theoretischen sicherzustellen, wird nach der Regel: cessante ratione cessat lex ipsa bei der ersten Staatsprüfung eine Ausnahme statuiert: das erste Rigorosum ersetzt die Staatsprüfung. Zum Vorrücken genügt jedoch allenfalls das Bestehen der Staatsprüfung.

Mit Hilfe einiger Übergangsbestimmungen könnte auf diese Weise das Rechtsdoktorat mit einem Schlage auf die Höhe der Zeit gebracht und überdies die folgenden Vorteile erzielt werden: Die Möglichkeit entsprechender wissenschaftlicher Vertiefung. Entlastung der Professoren ohne Beeinträchtigung der Einkünfte. (Die Überbürdung der Professoren mit Prüfungen ist namentlich an großen Universitäten enorm.) Verbilligung des Doktorates und Ausfall zweier überflüssiger Prüfungen. Erfüllung des Wunsches nach Einführung eines Doktorates der Staatswissenschaften. Das römische Rigorosum würde in der angedeuteten Gestalt gewiß kein Hindernis für dessen Erreichung bilden

Ein Jurist.

 

 

Nr. 199, VII. Jahr

23. März 1906


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