Nordau
Herr Max Nordau ist wieder einem Eckstein der Kunst begegnet. Gewohnheitsmäßig hob er das Hinterbein und besprengte ihn mit dem unedlen Naß eines Feuilletons in der 'Neuen Freien Presse'. Diesmal, ist's Flaubert. Während die 'Neue Freie Presse' bei jeder Gelegenheit mit ihren Beziehungen zur französischen Intelligenz protzt und den Hanswurst Marcel Prevost als Interpreten französischer Kultur auftreten läßt, sitzt Herr Nordau seit langen Jahren in Paris und mißbraucht die französische Gastfreundschaft, um bei jeder Gelegenheit die erlauchtesten Dichter und Künstler Frankreichs in den Kot seiner geistigen Verdauung zu zerren. Wenn der Gedenktag eines Großen gefeiert wird, wenn ein von aller Welt mit Spannung erwartetes Buch oder ein Werk der bildenden Kunst der Öffentlichkeit übergeben wird, jedesmal verspritzt Herr Nordau in der 'Neuen Freien Presse' seinen eklen Geifer. Soeben sind die Briefe Flauberts an seine Nichte Karoline erschienen. Für Herrn Nordau ist also der Anlaß gegeben, das Grab Flauberts zu bepissen. Er wirft ihm »Größenwahn« vor, weil er Philister und Banausen von der Art des Herrn Nordau verachtete. »Seine Urteile über die Menschen ermangeln überhaupt jeder Nachsicht, jeder Nächstenliebe. Die Worte, die er am häufigsten im Munde führt, sind: Idiot, Trottel, Esel, Dummkopf.« So schreibt Herr Nordau, der Maeterlink für einen Trottel, Mallarmé für einen Schwindler, d'Aurevilly für einen Idioten, Huysmans für einen Paralytiker, Gobineau für einen Dummkopf, Baudelaire und Verlaine für Deliranten, Zola für einen Schweinekerl, Maupassant für einen verrückten Erotomanen, die Brüder Goncourt für Fasler, deren Hauptleidenschaft im Sammeln von Nachttöpfen bestehe, Puvis de Chavanne für einen Schmierer und Rodin für einen Patzer erklärt hat! Es gibt fast keinen französischen Namen, der dem modernen Kulturmenschen bedeutungsvoll und teuer ist, den nicht Herr Nordau zu besudeln versucht hätte. Flaubert scheint ihm von »beklemmender Dürftigkeit«, »innerlich arm«, ein »Papiermensch«. Der Schöpfer der »Madame Bovary« verstand nichts vom Leben. »Er sah in die Welt und das Menschenleben hinaus, wie es ein Gefangener täte, der in einer Turmzelle auf einem hohen Berggipfel eingeschlossen wäre und aus seinem Gitterfenster viele Berge und Täler überschauen könnte, doch ohne sie zu betreten und ohne zu ihren Einzelheiten ein persönliches Verhältnis zu gewinnen.« Ein paar Spalten weiter wird ihm der Vorwurf gemacht, dass er sich zuviel um Einzelheiten kümmere, dass er sich bei Fachleuten informiere und sogar Reisen unternehme, um genaue Eindrücke zu erhalten. »Seine Zeit- und Kraftvergeudung ärgert beinahe«, meint Herr Nordau, denn Flaubert sei es doch nur um »Scheinwissen« zu tun gewesen. »Um ein an der Rachenbräune erkranktes Kind zu beschreiben, läuft er in das Rouener Krankenhaus Sainte Eugénie und beobachtet, nicht ohne eigene Gefahr, stundenlang Diphtheritisfälle.« Dass sich ein Schriftsteller um seinen Stil bemüht, findet Herr Nordau ganz unbegreiflich. »Er betete den Dämon des Stils an.« »Er rang tagelang in Qualen mit sich, um ein qui oder que zu vermeiden. Gelang ihm dieses Kunststück, so war er glücklich und stolz. Er hatte keinen Sinn dafür, wie nebensächlich, ja kindisch derartige Wortsiege waren.« Flaubert brauchte »sieben Jahre, um einen Roman aufzubauen«, er »brachte in einem vierzehnstündigen Arbeitstage sechs Zeilen zu Papier, die er am folgenden Tage wieder ausstrich.« Dies geht über die Fassungskraft des Herrn Nordau. »Nie«, ruft er aus, »ist schöngeistige Oberflächlichkeit gründlicher und mühseliger gewesen!« Ja, wahrhaftig, Gott sei's geklagt, Herr Nordau macht sich's leichter. Er ringt nicht tagelang in Qualen mit sich, um eine vornehme Erscheinung zu bespucken. Er vollbringt's ohne jede Hemmung, ganz automatisch. Er betet nicht den Dämon des Stils an und erficht keine Wortsiege. In der kürzesten Arbeitszeit füllt er viele Feuilletonspalten mit dünnflüssiger Jauche ... Besonders stolz scheint Herr Nordau auf die blitzdummen politischen Rückblicke zu sein, in denen er an jedem Neujahrstage das verflossene Jahr in der 'Neuen Freien Presse' mit der Weltgeschichte verkuppelt. Er verweist Flaubert den Mangel an politischem Interesse und bezeichnet seine politischen Anschauungen als die Weisheit »kannegießernder Reiseonkel«. Flaubert sagt nämlich: »Die Gesellschaft, die aus unseren Trümmern (1871) hervorgeht, wird militärisch und republikanisch, das heißt allen meinen Instinkten zuwider sein. Alle Feingeistigkeit, wie Montaigne gesagt haben würde, wird ihr unmöglich sein; diese Überzeugung, weit mehr als der Krieg, ist der eigentliche Grund meiner Traurigkeit. Es wird kein Platz sein für die Musen.« So sprechen doch die »kannegießernden Reiseonkel«, nicht wahr? Herr Nordau aber heult: »Welches Bekenntnis! Das fürchterliche Unglück seines Vaterlandes greift ihm hauptsächlich darum ans Herz, weil er voraussieht, dass Frankreich sich eine zeitlang nicht viel um Romane von Karthago und Erzählungen aus Jerusalem im Zeitalter Christi kümmern werde.« Aber um diese Romane und Erzählungen wird man sich irr Frankreich und anderswo noch kümmern, wenn die Feuilletons des Herrn Nordau längst nicht mehr den Stolz der 'Neuen Freien Presse' und den Ärger aller reinlichkeitsliebenden Menschen bilden werden. »Armer Flaubert!« ruft er zum Schlüsse aus, »er war ein Märtyrer seines kranken Nervensystems.« Dies ist leider das Los aller feineren Naturen, sie erkranken an dem Ekel, den ihnen die vielen Nordaus verursachen. Im letzten Satze wird aber Herr Nordau sogar sentimental. »Ich wollte, Karoline hätte den Schleier von den kleinen täglichen Geschicken ihres Oheims nicht weggezogen, die ein einziger Leidensgang ohne Ruhestationen waren.« Ein frommer Wunsch! Wenn aber irgendwo ein Schleier von kleinen täglichen Geschicken weggezogen wird, dann sorgt Herr Nordau mit seiner kleinen täglichen Geschicklichkeit, dass der, der den Leidensgang zurückgelegt hat, auch im Grabe noch keine Ruhestation finde.
H.
Nr. 200, VII. Jahr
3. April 1906.