Status cridae
Ich erhalte die folgende Zuschrift:
In Ihren höchst interessanten Artikeln über die Beamtenfrage haben Sie bisher zwei Theoretiker zu Worte kommen lassen. Erlauben Sie heute einem Praktiker, der das Beamtenelend sattsam am eigenen Leibe spürt, einige Zeilen an dieses Thema zu wenden.
Die zahlreichen Staatsbeamtenversammlungen, in welchen die Herren Volksvertreter von rechts und von links den Mund gewaltig vollgenommen und teils verschämt, teils unverschämt Stimmenfang getrieben haben, sind nun vorüber und die Regierung hat, zwar nicht um die Beamten, aber wenigstens um die Abgeordneten zu beruhigen, einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Beamtenfreundlichkeit dieses Beamtenkabinetts ad oculos demonstriert und in den betroffenen Kreisen neuerlich Empörung hervorgerufen hat. Wäre es den Herren »Reichsräten« mit ihrem Interesse für unseren Stand wirklich ernst, so hätte mindestens einer von den fünfzig Parlamentariern, die in der Protestversammlung im neuen Rathaus erschienen waren, gegen diese Fopperei energisch Stellung nehmen müssen. Gelegenheit war den Herren reichlich geboten, denn dieses Gesetz — über die partielle Einrechnung der Aktivitätszulagen in die Pension — hat bereits den Budgetausschuß passiert. Es ist der nackte Hohn auf alle bisherigen Bestrebungen und Kundgebungen der Beamtenschaft.
Anstatt uns eine Dienstespragmatik zu geben, anstatt die Verkürzung der Dienstzeit auf 35 Jahre zuzugestehen — Maßnahmen, deren erste dem Staat garnichts, deren zweite keine auch nur halbwegs nennenswerte Summe kosten würde —, will man ein Gesetz schaffen, das unseren gegenwärtigen kärglichen Standard of life noch mehr herabdrückt, indem es die Staatsbeamten zwingt, die Auslagen für eine künftige Pensionsaufbesserung ganz aus eigener Tasche zu bestreiten. Was würde man etwa zu einem Fabrikanten sagen, der seinen Arbeitern auf ihre begründete Bitte um Lohnaufbesserung das Folgende antwortet: »Lohnaufbesserung kann ich euch keine gewähren, aber ich werde euch von euren Bezügen wöchentlich soundsoviel abziehen, damit ihr bei Unglücksfällen mehr herausbekommt«? Welche Antwort erhielte der Fabrikant von seinen Arbeitern? Was würde die große Öffentlichkeit zu solcher Sozialpolitik sagen? Der Staatsbeamte aber, der natürlich zu allen Drangsalierungen kuschen muß, wird auch diese Pille schlucken, weil im Parlament sich niemand findet, die ganze Hinterhältigkeit dieses Gesetzentwurfes zu entlarven. In allen Staatsbeamtenversammlungen der letzten Zeit wurde darüber geklagt, dass die Gehaltsregulierung vom Jahre 1898 ganz unzulänglich war, dass deren Wirkungen längst durch die allgemeinen Teuerungsverhältnisse überholt worden sind, dass die erdrückende Mehrzahl aller Staatsbeamten auch weiterhin darben muß — die Regierung aber legt dem Abgeordnetenhause einen Gesetzentwurf vor, der uns eine weitere empfindliche Schmälerung unserer Bezüge verspricht. Und das soll die halbverhungerten Beamten kirre machen, die furchtbare Erbitterung in unseren Kreisen bannen? Wäre die Beamtenfreundlichkeit der Herren Volksvertreter eine echte, sie hätten sie nicht besser dokumentieren können, als durch einstimmige Ablehnung des Gesetzentwurfes im Budgetausschusse. Das gerade Gegenteil ist, wie stets in diesem Lande der unbegrenzten Unmöglichkeiten, auch diesmal geschehen. Der Budgetausschuß hat den Entwurf einstimmig akzeptiert ... In diesem Ausschusse aber sitzen zahlreiche Abgeordnete, die gerade in Beamtenversammlungen das große Wort zu führen pflegen. Hoffentlich geben die bevorstehenden Wahlen auch der Beamtenschaft die gewünschte Gelegenheit, mit ihren falschen Freunden entsprechend abzurechnen.
Ein Staatsbeamter.
Nr. 198, VII. Jahr
12. März 1906