XVI.6. Allgemeine Betrachtungen und Folgen
So ungefähr erscheint das Gemälde der Völkerschaften Europas; welch eine bunte Zusammensetzung, die noch verworrener wird, wenn man sie die Zeiten, auch nur die wir kennen, hinabbegleitet. So war's in Japan, Tsina, Indien nicht; so ist's in keinem durch seine Lage oder Verfassung eingeschlossenen Lande. Und hat doch Europa über den Alpen kein großes Meer, so daß man glauben sollte, daß die Völker hier wie Mauern nebeneinander hätten stehen mögen. Ein kleiner Blick auf die Beschaffenheit und Lage des Weltteils sowie auf den Charakter und die Ereignisse der Nationen gibt darüber andern Aufschluß.
1. Siehe dort ostwärts zur Rechten die ungeheure Erdhöhe, die die asiatische Tartarei heißt; und wenn du die Verwirrungen der mittlern europäischen Geschichte liesest, so magst du wie Tristram seufzen: »Daher stammt unser Unglück!« Ich darf nicht untersuchen, ob alle nordische Europäer und wie lange sie dort gewohnt haben; denn einst war das ganze Nordeuropa nicht besser als Siberien und die Mungalei, jene Mutter der Horden; dort und hier war nomadischen Völkern das träge Umherziehen und die Khan-Regierung unter tatarischen Magnaten erblich und eigen. Da nun überdem das Europa über den Alpen offenbar eine herabgesenkte Fläche ist, die von jener völkerreichen tatarischen Höhe westwärts bis ans Meer reicht, auf welche also, wenn dort barbarische Horden andere Horden drängten, die westlichen herabstürzen und andere forttreiben mußten, so war damit ein langer tatarischer Zustand in Europa gleichsam geographisch gegeben. Dieser unangenehme Anblick nun erfüllt über ein Jahrtausend hin die europäische Geschichte, in welcher Reiche und Völker nie zur Ruhe kommen, weil sie entweder selbst des Wanderns gewohnt waren oder weil andere Nationen auf sie drängten. Da es also unleugbar ist, daß in der Alten Welt das große asiatische Gebirge mit seinen Fortgängen in Europa das Klima und den Charakter der Nord- und Südwelt wunderbar scheide, so lasst nordwärts der Alpen uns über unser Vaterland in Europa wenigstens dadurch trösten, daß wir in Sitten und Verfassungen nur zur verlängerten europäischen und nicht gar zur ursprünglichen asiatischen Tatarei gehören.
2. Europa ist, zumal in Vergleichung mit dem nördlichen Asien, ein milderes Land voll Ströme, Küsten, Krümmen und Buchten: schon dadurch entschied sich das Schicksal seiner Völker vor jenen auf eine vorteilhafte Weise. Am See bei Asow sowohl als am Schwarzen Meere waren sie den griechischen Pflanzstädten und dem reichsten Handel der damaligen Welt nahe; alle Nationen, die hier verweilten oder gar Reiche stifteten, kamen in die Bekanntschaft mehrerer Völker, ja gar zu einiger Kunde der Wissenschaften und Künste. Insonderheit aber wurde die Ostsee den Nordeuropäern das, was dem südlichen Europa das Mittelländische Meer war. Die preußische Küste war durch den Bernsteinhandel schon Griechen und Römern bekannt worden; alle Nationen, die an derselben wohnten, welchen Stammes sie waren, blieben nicht ohne einiges Kommerz, das sich bald mit dem Handel des Schwarzen Meers verband und sogar bis zum Weißen Meer erstreckte; mithin wurde zwischen Südasien und dem östlichen Europa, zwischen dem asiatischen und europäischen Norden eine Art Völkergemeinschaft geknüpft, an der auch sehr unkultivierte Nationen teilnahmen.257) An der skandinavischen Küste und in der Nordsee wimmelte bald alles von Handelsleuten, Seeräubern, Reisenden und Abenteurern, die sich in alle Meere, an die Küsten und Länder aller europäischen Völker gewagt und die wunderbarsten Dinge ausgeführt haben. Die Belgen knüpften Gallien und Britannien zusammen, und auch das Mittelländische Meer blieb von Zügen der Barbaren nicht verschont: sie wallfahrteten nach Rom, sie dienten und handelten in Konstantinopel. Durch welches alles dann, weil die lange Völkerwanderung zu Lande dazukam, endlich in diesem kleinen Weltteil die Anlage zu einem großen Nationenverein gemacht ist, zu dem ohne ihr Wissen schon die Römer durch ihre Eroberungen vorgearbeitet hatten und der schwerlich anderswo als hier zustande kommen konnte. In keinem Weltteil haben sich die Völker so vermischt wie in Europa; in keinem haben sie so stark und oft ihre Wohnplätze und mit denselben ihre Lebensart und Sitten verändert. In vielen Ländern würde es jetzo den Einwohnern, zumal einzelnen Familien und Menschen, schwer sein zu sagen, welches Geschlechtes und Volkes sie sind, ob sie von Goten, Mauren, Juden, Karthagern, Römern, ob sie von Galen, Kymren, Burgundern, Franken, Normannen, Sachsen, Slawen, Finnen, Illyriern herstammen und wie sich in der Reihe ihrer Vorfahren das Blut gemischt habe. Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer europäischen Nationen gemildert und verändert, ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europas schwerlich hätte erweckt werden mögen.
3. Daß wir die ältesten Bewohner dieses Weltteils jetzt nur in die Gebirge oder an die äußersten Küsten und Ecken desselben verdrängt finden, ist eine Naturbegebenheit, die in allen Weltgegenden, bis zu den Inseln des asiatischen Meers, Beispiele findet. In mehreren derselben bewohnte ein eigner, meistens roherer Völkerstamm die Gebirge, wahrscheinlich die altern Einwohner des Landes, die jungem und kühnem Ankömmlingen hatten weichen müssen; wie konnte es in Europa anders sein, wo sich die Völker mehr als irgendwo anders drängten und forttrieben? Die Reihen derselben gehen indes an wenige Hauptnamen zusammen, und, was sonderbar ist, auch in verschiednen Gegenden finden wir dieselben Völker, die einander gefolgt zu sein scheinen, meistens beieinander. So zogen die Kymren den Galen, die Deutschen ihnen beiden, die Slawen den Deutschen nach und besetzten ihre Länder. Wie die Erdlagen in unserm Boden, so folgen in unserm Weltteil Völkerlagen aufeinander, zwar oft durcheinandergeworfen, in ihrer Urlage, indessen noch kenntlich. Die Forscher ihrer Sitten und Sprachen haben die Zeit zu benutzen, in der sie sich noch unterscheiden; denn alles neigt sich in Europa zur allmählichen Auslöschung der Nationalcharaktere. Nur hüte sich der Geschichtschreiber der Menschheit hiebei, daß er keinen Völkerstamm ausschließend zu seinem Lieblinge wähle und dadurch Stämme verkleinere, denen die Lage ihrer Umstände Glück und Ruhm versagte. Auch von den Slawen hat der Deutsche gelernt; der Kymr und Leite hätte vielleicht ein Grieche werden können, wenn er zwischen den Völkern anders gestellt gewesen wäre. Wir können sehr zufrieden sein, daß Völker von so starker, schöner, edler Bildung, von so keuschen Sitten, biederm Verstande und redlicher Gemütsart, als die Deutschen waren, nicht etwa Hunnen oder Bulgarn die römische Welt besetzten; sie aber deswegen für das erwählte Gottesvolk in Europa zu halten, dem seines angebornen Adels wegen die Welt gehörte und dem dieses Vorzugs halber andere Völker zur Knechtschaft bestimmt waren, dies wäre der unedle Stolz eines Barbaren. Der Barbar beherrscht, der gebildete Überwinder bildet.
4. Von selbst hat sich kein Volk in Europa zur Kultur erhoben; jedes vielmehr hat seine alten rohen Sitten so lange beizubehalten gestrebt, als es irgend tun konnte, wozu denn das dürftige, rauhe Klima und die Notwendigkeit einer wilden Kriegsverfassung viel beitrug. Kein europäisches Volk z.B. hat eigene Buchstaben gehabt oder sich selbst erfunden; sowohl die spanischen als nordischen Runen stammen von der Schrift anderer Völker; die ganze Kultur des nord-, öst- und westlichen Europa ist ein Gewächs aus römisch- griechisch-arabischem Samen. Lange Zeiten brauchte dies Gewächs, ehe es auf diesem hartem Boden nur gedeihen und endlich eigne, anfangs sehr saure Früchte bringen konnte; ja auch hiezu war ein sonderbares Vehikel, eine fremde Religion, nötig, um das, was die Römer durch Eroberung nicht hatten tun können, durch eine geistliche Eroberung zu vollführen. Vor allen Dingen müssen wir also dies neue Mittel der Bildung betrachten, das keinen geringem Zweck hatte, als alle Völker zu einem Volk, für diese und eine zukünftige Welt glücklich, zu bilden, und das nirgend kräftiger als in Europa wirkte.
Das Zeichen wurde jetzt prächtig aufgerichtet,
Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht,
Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet,
Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht,
Das die Gewalt des bittern Tods vernichtet,
Das in so mancher Siegesfahne weht;
Ein Schauer durchdringt des wilden Kriegers Glieder;
Er sieht das Kreuz und legt die Waffen nieder.