XIX.6. Allgemeine Betrachtung


Sehen wir zurück auf die Gestalt, die unser Weltteil durch die Wanderungen und Bekehrungen der Völker, durch Kriege und Hierarchie erlangt hatte: so werden wir eines kraftvollen. aber unbehülflichen Körpers, eines Riesen gewahr, dem nur sein Auge fehlte.

Volkes genug war in diesem westlichen Ende der Alten Welt; die von Üppigkeit entkräfteten Länder der Römer waren mit starken Körpern von einem gesunden Mute besetzt und hatten sich reich bevölkert.299) Denn in den ersten Zeiten des neuen Besitzes dieser Gegenden, ehe noch der Unterschied der Stände zu einem erblich-unterdrückenden Ansehn gelangte, war der rohen Gnügsamkeit dieser ungebildeten Völker mitten unter andern Nationen, die zu ihrer Bequemlichkeit lange gebaut und vorgearbeitet hatten, die eroberte römische Welt ein wahres Paradies. Sie achteten der Zerstörungen nicht, die ihre Züge veranlaßt und damit das Menschengeschlecht mehr als ein Jahrtausend zurückgesetzt hatten; denn man fühlt nicht den Verlust eines unbekannten Gutes, und für den sinnlichen Menschen war der westliche Teil dieser Nordwelt auch mit dem schwächsten Rest seines Anbaues doch in jedem Betracht mehr als sein altes Sarmatien, Scythien oder die fernere östliche Hunnenwelt. In den Verheerungen, die seit der christlichen Epoche entstanden, in den Kriegen, die diese Völker unter sich erregten, in den neuen Seuchen und Krankheiten, die Europa trafen, litt freilich das Menschengeschlecht in diesem Erdstrich; doch aber erlag es endlich durch nichts so sehr als durch die despotische Lehnherrschaft. Europa wurde voller Menschen, aber voll leibeigner Knechte; die Sklaverei, die diese drückte, war um so härter, da sie eine christliche, durch politische Gesetze und das blinde Herkommen in Regeln gebrachte, durch Schrift bestätigte, an die Erdscholle gebundene Sklaverei war. Die Luft machte eigen; wer nicht durch Verträge entbunden oder durch seine Geburt ein Despot war, trat in den angeblich natürlichen Zustand der Zugehörigkeit oder der Knechtschaft.

 Von Rom aus war dagegen keine Hülfe zu erwarten; seine Diener selbst hatten sich mit andern in die Herrschaft Europas geteilt, und Rom selbst gründete sich auf eine Menge geistlicher Sklaven. Was Kaiser und Könige frei machten, mußte, wie in den Ritterbüchern den Riesen und Lindwürmen, durch Freiheitbriefe entrissen werden; dieser Weg war also auch lang und beschwerlich. Die Kenntnisse, die das abendländische Christentum hatte, waren ausgespendet und in Nutz verwandelt. Seine Popularität war eine elende Wortliturgie; die böse patristische Rhetorik war in Klöstern, Kirchen und Gemeinen ein zauberischer Seelendespotismus geworden, den der gemeine Haufe mit Geißel und Strick, ja büßend mit dem Heu im Munde auf Knien verehrte. Wissenschaften und Künste waren dahin; denn unter den Gebeinen der Märtyrer, dem Geläut der Glocken und Orgeln, dem Dampf des Weihrauchs und der Fegefeuergebete wohnen keine Musen. Die Hierarchie hatte mit ihren Blitzen das freie Denken erstickt, mit ihrem Joch jede edlere Betriebsamkeit gelähmt. Den Duldenden wurde Belohnung in einer andern Welt gepredigt; die Unterdrücker waren gegen Vermächtnisse ihrer Lossprechung in der Todesstunde sicher: das Reich Gottes auf Erden war verpachtet.

 Außerhalb der römischen Kirche war in Europa kein Heil. Denn an die verdrängten Völker, die an den Ecken der Welt in kläglichem Zustande saßen, nicht zu gedenken, konnte man weder vom griechischen Kaisertum, noch weniger von dem einzigen Reich, das sich östlich in Europa außerhalb dem Gebiet des römischen Papstes und Kaisers zu bilden angefangen hatte, etwas erwarten.300 Also blieb dem westlichen Teile nichts übrig als er selbst oder die einzige südliche- Nation, bei welcher eine neue Sprosse der Aufklärung blühte, die Mohammedaner. Mit ihnen kam Europa bald und lange, und an seinen empfindlichsten Teilen, ins Gedränge; in Spanien dauerte der Konflikt sogar bis auf die Zeit der völligen Aufhellung Europas. Was war der Kampfpreis? Und wem ist der Sieg geworden? Die neuerregte Tätigkeit der Menschen war ohne Zweifel der beste Preis des Sieges.


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