XVIII.5. Nordische Reiche und Deutschland

 

 Die bis zum achten Jahrhundert dunkle Geschichte der nordischen Reiche hat vor den Geschichten der meisten europäischen Länder den Vorzug, daß ihr eine Mythologie mit Liedern und Sagen zum Grunde liegt, die ihre Philosophie sein kann. Denn in ihr lernen wir den Geist des Volks kennen, die Begriffe desselben von Göttern und Menschen, die Richtung seiner Neigungen und Leidenschaften in Liebe und Haß, in Erwartungen dies- und jenseit des Grabes: eine Philosophie der Geschichte, wie sie uns außer der Edda nur die griechische Mythologie gewährt. Und da die nordischen Reiche, sobald der finnische Stamm hinaufgedrängt oder unterwürfig gemacht war, von keinen fremden Völkern feindlich besucht wurden; denn welche Nation hätte nach dem großen Zuge in die mittäglichen Gegenden diese Weltgegend besuchen wollen?, so wird ihre Geschichte auch vor andern einfach und natürlich. Wo die Notdurft gebietet, lebt man lange derselben gemäß, und so blieben Nordens deutsche Völker länger als andere ihrer Mitbrüder im Zustande der Eigengehörigkeit und Freiheit. Berge und Wüsten schieden die Stämme untereinander; Seen und Flüsse, Wälder, Wiesen und Felder samt dem fischreichen Meere nährten sie, und was im Lande nicht Unterhalt fand, warf sich auf die See und suchte anderweit Nahrung und Beute. Wie in einer nördlichen Schweiz also hat sich in diesen Gegenden die Einfalt deutscher Ursitten lange erhalten und wird sich erhalten, wenn solche in Deutschland selbst nur noch eine alte Sage sein wird.

 Als mit der Zeit auch hier, wie allenthalben, die Freien unter Edle kamen, als mehrere Edle Land- und Wüstenkönige wurden, als aus vielen kleinen Königen endlich ein großer König entsprang, da waren Dänemarks, Norwegens und Skandiens Küsten abermals glücklich, daß, wer nicht dienen wollte, ein anderes Land suchen mochte; und so wurden, wie wir gesehen, alle Meere umher lange Zeit das Feld ziehender Abenteurer, denen der Raub, wie ein Herings- oder Walfischfang, ein erlaubtes, örtliches Gewerbe schien. Endlich mischten sich auch die Könige in dies Familiengewerbe: sie eroberten einander oder ihren Nachbarn die Länder; ihre auswärtigen Eroberungen gingen aber meistens bald verloren. Am grausamsten litten darunter die Küsten der Ostsee; nach unsäglichen Plünderungen haben die Dänen nicht geruht, bis sie dem Handel der Slawen und ihren reichen Seestädten Vineta und Julin ein trauriges Ende machten, wie sie denn auch über die Preußen, Kuren, Liven und Esten, lange vor den sächsischen Horden, das Eroberungs- und Brandschatzungsrecht übten.

 Einem solchen Leben und Weben der Nordländer trat nichts so sehr in den Weg als das Christentum, mit welchem Odins Heldenreligion ganz aufhören sollte. Schon Karl der Große war bemüht, die Dänen wie die Sachsen zu taufen, bis es seinem Sohn Ludwig gelang, an einem kleinen Könige aus Jütland zu Mainz die Probe zu machen. Die Landsleute desselben aber nahmen es übel auf und übten sich noch lange mit Raub und Brand an den christlichen Küsten; denn das Beispiel der Sachsen, die das Christentum zu fränkischen Sklaven gemacht hatte, war ihnen zu nahe vor Augen. Tiefgewurzelt war der Haß dieser Völker gegen das Christentum, und Kettil, der Unchrist, ging lieber drei Jahre vor seinem Tode lebendig in seinen Grabhügel, um nur nicht zur Taufe gezwungen zu werden. Was sollten auch diesen Völkern auf ihren nordischen Inseln oder Bergen jene Glaubensartikel und kanonische Lehrsätze eines hierarchischen Systems, das alle Sagen ihrer Vorfahren umwarf, die Sitten ihres Stammes untergrub und sie bei ihres Landes Armut zu zollenden Sklaven eines geistlichen Hofes im fernen Italien machte? Ihrer Sprache und Denkart war Odins Religion so einverleibt, daß, solange noch eine Spur des Andenkens von ihm blieb, kein Christentum aufkommen konnte; daher die Mönchsreligion gegen Sagen, Lieder, Gebräuche, Tempel und Denkmale des Heidentums unversöhnlich war, weil an diesem allen der Geist des Volkes hing und dagegen ihre Gebräuche und Legenden verschmähte. Das Verbot der Arbeit am Sonntage, Büßungen und Fasten, die verbotenen Grade der Ehe, die Mönchsgelübde, der ganze ihnen verächtliche Priesterorden wollte den Nordländern nicht in den Sinn, daß also die heiligen Männer, ihre Bekehrer, ja ihre neubekehrten Könige selbst viel zu leiden hatten oder gar verjagt und erschlagen wurden, ehe das fromme Werk gelingen konnte. Wie aber Rom jede Nation mit dem Netz zu fangen wußte, das für sie gehörte, so wurden auch diese Barbaren unter der unablässigen Bemühung ihrer angelsächsischen und fränkischen Bekehrer, am meisten durch das Gepränge des neuen Gottesdienstes, den Chorgesang, Weihrauch, die Lichter, Tempel, Hochaltäre, Glocken und Prozessionen, gleichsam in einen Taumel gebracht; und da sie an Geister und Zaubereien innig glaubten, so wurden sie samt Häusern, Kirchen, Kirchhöfen und allem Geräte durch die Kraft des Kreuzes vom Heldentum dergestalt entzaubert und zum Christentum bezaubert, daß der Dämon eines doppelten Aberglaubens in sie kehrte. Einige ihrer Bekehrer waren indes, der heil. Ansgarius vor allen andern, wirklich verdiente Männer und für das Wohl der Menschheit Helden auf ihre Weise.

 


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