XX.4. Kultur der Vernunft in Europa

 

 In den frühesten Zeiten des Christentums bemerkten wir zahlreiche Sekten, die durch eine sogenannte morgenländische Philosophie das System der Religion erklären, anwenden und läutern wollten; sie wurden als Ketzer unterdrückt und verfolgt. Am tiefsten schien die Lehre des Manes einzugreifen, die mit der alten persischen Philosophie nach Zoroasters ( Zerduscht) Weise zugleich ein Institut sittlicher Einrichtung verband und als eine tätige Erzieherin ihrer Gemeinen wirken wollte. Sie wurde noch mehr verfolgt als theoretische Ketzereien und rettete sich ostwärts in die tibetanische, westlich in die armenische Gebirge, hie und da auch in europäische Länder, wo sie allenthalben ihr asiatisches Schicksal vorfand. Längst glaubte man sie unterdrückt, bis sie in den dunkelsten Zeiten aus einer Gegend, aus welcher man's am wenigsten vermutete, wie auf ein gegebnes Zeichen hervorbrach und auf einmal in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland einen entsetzlichen Aufruhr machte. Aus der Bulgarei kam sie hervor, einer barbarischen Provinz, um welche sich die griechische und römische Kirche lange gezankt hatte; da war unsichtbar ihr Oberhaupt, das, anders als der römische Papst, Christo in Armut ähnlich zu sein vorgab. Geheime Missionen gingen in alle Länder und zogen den gemeinen Mann, insonderheit fleißige Handwerker und das unterdrückte Landvolk, aber auch reiche Leute, Grafen und Edle, besonders die Frauen, mit einer Macht an sich, die auch der ärgsten Verfolgung und dem Tode trotzte. Ihre stille Lehre, die lauter menschliche Tugenden, insonderheit Fleiß, Keuschheit und Eingezogenheit predigte und sich ein Ziel der Vollkommenheit vorsteckte, zu welchem die Gemeine mit strengen Unterschieden geführt werden sollte, war das lauteste Feldgeschrei gegen die herrschenden Greuel der Kirche. Besonders griff sie die Sitten der Geistlichen, ihre Reichtümer, Herrschsucht und Ausgelassenheit an, verwarf die abergläubigen Lehren und Gebräuche, deren unmoralische Zauberkraft sie leugnete und statt aller derselben einen einfachen Segen durch Auflegung der Hände und einen Bund der Glieder unter ihren Vorstehern, den Vollkommenen, anerkannte. Die Verwandlung des Brots, Kreuz, Messe, Fegefeuer, die Fürbitte der Heiligen, die einwohnenden Vorzüge der römischen Priesterschaft waren ihnen Menschensatzungen und Gedichte; über den Inhalt der Schrift, insonderheit des Alten Testaments, urteilten sie sehr frei und führten alles auf Armut, Reinheit des Gemütes und Körpers, auf stillen Fleiß, Sanftmut und Gutherzigkeit zurück, daher sie auch in mehreren Sekten bons hommes, gute Leute, genannt wurden. Bei den ältesten derselben ist der morgenländische Manichäismus unverkennbar; sie gingen vom Streit des Lichtes und der Finsternis aus, hielten die Materie für den Ursprung der Sünde und hatten insonderheit über die sinnliche Wohllust harte Begriffe; nach und nach läuterte sich ihr System. Aus Manichäern, die man auch Katharer (Ketzer), Patarener, Publikaner, Passagieri und nach Lokalumständen in jedem Lande anders nannte, formten einzelne Lehrer, insonderheit Heinrich und Peter de Bruis, unanstößigere Parteien, bis die Waldenser endlich fast alles das lehrten und mit großem Mut behaupteten, womit einige Jahrhunderte später der Protestantismus auftrat; die früheren Sekten hingegen scheinen den Wiedertäufern, Mennoniten, Böhmisten und andern Parteien der neuen Zeit ähnlich. Alle breiteten sich mit so stiller Kraft, mit so überredendem Nachdruck aus, daß in ganzen Provinzen das Ansehen des geistlichen Standes äußerst fiel, zumal dieser ihnen auch im Disputieren nicht widerstehen konnte. Insonderheit waren die Gegenden der provenzalischen Sprache der Garten ihrer Blüte; sie übersetzten das Neue Testament (ein damals unerhörtes Unternehmen) in diese Sprache, gaben ihre Regeln der Vollkommenheit in provenzalischen Versen und wurden seit Einführung des römischen Christentums die ersten Erzieher und Bildner des Volks in seiner Landessprache.308)

 Dafür aber verfolgte man sie auch, wie man wußte und konnte. Schon im Anfange des eilften Jahrhunderts wurden in der Mitte von Frankreich, zu Orleans, Manichäer, unter ihnen selbst der Beichtvater der Königin, verbrannt; sie wollten nicht widerrufen und starben auf ihr Bekenntnis. Nicht gelinder verfuhr man mit ihnen in allen Ländern, wo die Geistlichkeit Macht üben konnte, z.B. in Italien und Süddeutschland; im südlichen Frankreich und in den Niederlanden, wo die Obrigkeit sie als fleißige Leute schützte, lebten sie lange ruhig, bis endlich nach mehreren Disputationen und gehaltenen Konzilien, als der Zorn der Geistlichen aufs höchste gebracht war, das Inquisitionsgericht gegen sie erkannt wurde und, weil ihr Beschützer, Graf Raimund von Toulouse, ein wahrer Märtyrer für die gute Sache der Menschheit, sie nicht verlassen wollte, jener fürchterliche Kreuzzug mit einer Summe der Grausamkeiten auf sie losbrach. Die wider sie gestifteten Ketzerprediger, die Dominikaner, waren ihre abscheulichen Richter, Simon von Montfort, der Anführer des Kreuzzuges, der härteste Unmensch, den die Erde kannte; und aus diesem Winkel des südlichen Frankreichs, wo die armen bons hommes zwei Jahrhunderte lang verborgen gewesen waren, zog sich das Blutgericht gegen alle Ketzer nach Spanien, Italien und in die meisten christkatholischen Länder. Daher die Verwirrung der verschiedensten Sekten der mittleren Zeit, weil sie diesem Blutgericht und dem Verfolgungsgeist der Klerisei alle gleich galten; daher aber auch ihre Standhaftigkeit und stille Verbreitung, also daß nach drei- bis fünfhundert Jahren die Reformation der Protestanten in allen Ländern noch denselben Samen fand und ihn nur neu belebte. Wiclef in England wirkte auf die Lollarden, wie Huß auf seine Böhmen wirkte; denn Böhmen, das mit den Bulgarn eine Sprache hatte, war längst mit Sekten dieser frommen Art erfüllt gewesen. Der einmal gepflanzte Keim der Wahrheit und des entschiednen Hasses gegen Aberglauben, Menschendienst und das übermütige, ungeistliche Klerikal der Kirche war nicht mehr zu zertreten; die Franziskaner und andere Orden, die, als ein Bild der Armut und Nachahmung Christi jenen Sekten entgegengestellt, sie stürzen und aufwiegen sollten, erreichten selbst beim Volke diesen Zweck so wenig, daß sie ihm vielmehr ein neues Ärgernis wurden. Also ging auch hier der zukünftige Sturz der größesten Tyrannin, der Hierarchie, vom ärmsten Anfange, der Einfalt und Herzlichkeit, aus; zwar nicht ohne Vorurteile und Irrtümer, jedoch sprachen diese einfältigen bons hommes in manchem freier, als nachher selbst manche der Reformatoren tun mochten.

 Was einenteils der gesunde Menschenverstand tat, wurde auf der andern Seite von der spekulierenden Vernunft zwar langsamer und feiner, doch aber nicht unwirksam befördert. In den Klosterschulen lernte man über des h. Augustinus und Aristoteles Dialektik disputieren und gewöhnte sich, diese Kunst als ein gelehrtes Turnier- und Ritterspiel zu treiben. Unbillig ist der Tadel, den man auf diese Disputierfreiheit als auf eine gar unnütze Übung der mittleren Zeiten wirft; denn eben damals war diese Freiheit unschätzbar. Disputierend konnte manches in Zweifel gezogen, durch Gründe oder Gegengründe gesichtet werden, zu dessen positiver oder praktischer Bezweifelung die Zeit noch lange nicht da war. Fing nicht die Reformation selbst noch damit an, daß man sich hinter Disputiergesetze zog und mit ihrer Freiheit schützte? Als aus den Klosterschulen nun gar Universitäten, d. i. mit päpst- und kaiserlicher Freiheit begabte Kampfund Ritterplätze wurden, da war ein weites Feld eröffnet, die Sprache, die Geistesgegenwart, den Witz und Scharfsinn gelehrter Streiter zu üben und zu schärfen. Da ist kein Artikel der Theologie, keine Materie der Metaphysik, die nicht die subtilsten Fragen, Zwiste und Unterscheidungen veranlaßt hatte und mit der Zeit zum feinsten Gewebe ausgesponnen wäre. Dies Spinnengewebe hatte seiner Natur nach weniger Bestandheit als jener grobe Bau positiver Traditionen, an welche man blindlings glauben sollte; es konnte, von der menschlichen Vernunft gewebt, als ihr eigenes Werk von ihr auch aufgelöst und zerstört werden. Dank also jedem feinen Disputiergeist der mittleren Zeiten und jedem Regenten, der die gelehrten Schlösser dieser Gespinste schuf! Wenn mancher der Disputanten aus Neid oder seiner Unvorsichtigkeit wegen verfolgt oder gar nach seinem Tode aus dem geweihten Boden ausgegraben wurde, so ging doch die Kunst im ganzen fort und hat die Sprachvernunft der Europäer sehr geschärft.

 Wie das südliche Frankreich der erste daurende Schauplatz einer aufstrebenden Volksreligion war, so wurde sein nördlicher Teil, zumal in der berühmten Pariser Schule, der Ritterplatz der Spekulation und Scholastik. Paschasius und Ratramnus hatten hier gelebt, Scotus Erigena in Frankreich Aufenthalt und Gunst gefunden, Lanfranc und Berengar, Anselm, Abälard, Petrus Lombardus, Thomas von Aquino, Bonaventura, Occam, Duns Scotus, die Morgensterne und Sonnen der scholastischen Philosophie, lehrten in Frankreich entweder zeitlebens oder in ihren besten Jahren, und aus allen Ländern flog alles nach Paris, diese höchste Weisheit des damaligen Zeitalters zu lernen. Wer sich in ihr berühmt gemacht hatte, gelangte zu Ehrenstellen im Staat und in der Kirche; denn auch von Staatsangelegenheiten war die Scholastik so wenig ausgeschlossen, daß jener Occam, der Philipp den Schönen und Ludwig von Bayern gegen die Päpste verteidigte, zum Kaiser sagen konnte: »Beschütze du mich mit dem Schwert; mit der Feder will ich dich schützen.« Daß sich die französische Sprache vor andern zu einer philosophischen Präzision gebildet, kommt unter andern auch davon her, daß in ihrem Vaterlande so lange und viel, so leicht und fein disputiert worden ist; denn die lateinische Sprache war mit ihr verwandt, und die Bildung abstrakter Begriffe ging leicht in sie über.

 


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