XIX.3. Weltliche Schirmvogteien der Kirche

 

2. In allen Reichen war die Gerichtsbarkeit erzkatholisch. Den Dekreten der Päpste und Kirchenversammlungen mußten Statuten und Sitten der Völker weichen; ja, selbst noch als das römische Recht in Gang kam, ging das kanonische Recht ihm vor. Es ist nicht zu leugnen, daß durch alles dieses manche rohe Schärfe den Völkern abgerieben worden sei; denn indem die Religion sich herabließ, selbst die gerichtlichen Zweikämpfe zu weihen oder durch Gottesurteile zu ersetzen, schränkte sie solche ein und brachte den Aberglauben wenigstens in eine unschädlichere Regel.287) Äbte und Bischöfe waren die Gottes- und Friedensrichter auf Erden, Geistliche meistens Schreiber in Gerichten, die Verfasser der Gesetze, Ordnungen und Kapitulare, oft auch in den wichtigsten Fällen Staatsgesandte. Das gerichtliche Ansehen, das sie bei den nordischen Heiden gehabt hatten, war auch ins Christentum übergegangen, bis sie erst spät durch die Doktoren der Rechte von diesen Stühlen verdrängt wurden. Mönche und Beichtväter waren oft das Orakel der Fürsten, und der heilige Bernhard wurde in der bösen Sache der Kreuzzüge das Orakel Europas.

3. Die wenige Arzneikunst der mittlern Zeiten, wenn sie nicht von Juden oder Arabern getrieben wurde, war in dem Gewahrsam des Priesterstandes; daher sie auch, wie bei den nordischen Heiden, mit Aberglauben durchwebt war. Der Teufel und das Kreuz, Heiligtümer und Wortformeln spielten darin ihre große Rolle; denn die wahre Naturkenntnis war bis auf wenige Traditionen verschwunden aus Europa. Daher so manche Krankheiten, die unter dem Namen des Aussatzes, der Pest, des schwarzen Todes, des St.-Veits-Tanzes mit ansteckender Wut ganze Länder durchzogen; niemand tat ihnen Einhalt, weil niemand sie kannte und die rechten Mittel dagegen anwandte. Unreinlichkeit in Kleidern, Mangel des Leinenzeuges, enge Wohnungen, selbst die vom Aberglauben benebelte Phantasie konnte sie nicht anders als befördern. Das wäre eine wahre Schirmvogtei gewesen, wenn ganz Europa unter dem Geheiß des Kaisers, des Papsts und der Kirche sich gegen den Einbruch solcher Seuchen, als wahrer Teufelswerke, vereinigt und weder Blattern noch Pest und Aussatz in ihre Länder gelassen hätten; man ließ sie aber kommen, wüten und toben, bis das Gift sich selbst verzehrte. Die wenigen Anstalten, die man dagegen machte, ist man indes auch der Kirche schuldig; man trieb als Werk der Barmherzigkeit, was man als Kunst noch nicht zu treiben wußte.288)

4. Die Wissenschaften waren nicht sowohl im Staat als in der Kirche. Was diese wollte, wurde gelehrt und allenfalls geschrieben; aus Mönchsschulen ging alles aus; eine Mönchsdenkart herrscht also auch in den wenigen Produkten des Geistes, die damals erschienen. Selbst die Geschichte wurde nicht für den Staat, sondern für die Kirche geschrieben, weil außer den Geistlichen äußerst wenige lasen; daher auch die besten Schriftsteller des Mittelalters Spuren des Pfaffentums an sich tragen. Legenden und Romane, das einzige, was der Witz der Menschen damals ersann, drehten sich in einem engen Kreise; denn wenige Schriften der Alten waren in einigem Gebrauch, man konnte also wenig Ideen vergleichen, und die Vorstellungsarten, die das damalige Christentum gab, waren im großen bald erschöpft. Eine poetische Mythologie gewährte dies ohnedem nicht; einige Züge aus der allen Geschichte und Fabel von Rom und Troja, mit den Begebenheiten näherer Zeitalter vermischt, webten den ganzen rohen Teppich der mittleren Dichtkunst. Auch als diese in die Volkssprache überzugehen anfing, begann man von geistlichen Dingen, die auf eine seltsame Weise mit Helden- und Ritterfabeln vermengt wurden, übrigens kümmerten weder Papst noch Kaiser289) sich um die Literatur, als ein Mittel der Aufklärung betrachtet; die einzige Rechtswissenschaft ausgenommen, die beiden in ihren Anmaßungen unentbehrlich wurde. Ein Papst wie Gerbert, der die Wissenschaften als Kenner liebte, war ein seltener Phönix; der Ballast der Klosterwissenschaften fuhr im Schiff der Kirche.

5. So hielt sich auch von den Künsten nur das wenige fest, ohne welches Kirchen, Schlösser und Türme nicht sein konnten. Die sogenannte gotische Baukunst hängt mit dem Geist der Zeiten, mit der Religion und Lebensweise, mit dem Bedürfnis und Klima ihrer Zeitgenossen dergestalt zusammen, daß sie sich völlig so eigentümlich und periodisch als das Pfaffen- und Rittertum oder als die Hierarchie und Lehnherrschaft ausgebildet. Von kleinem Künsten erhielt und vervollkommte sich, was zum Waffenschmuck der Ritter, zum Putz und Gebrauch der Kirchen, Kastelle und Klöster gehörte; ihre Produkte waren eingelegte Arbeit und Schnitzwerk, gemalte Fenster und Buchstaben, Bilder der Heiligen, Teppiche, Reliquienkästchen, Monstranzen, Becher und Kelche. Von diesen Dingen, die Kirchenmusik und das Jagdhorn nicht ausgenommen, fing in Europa die Wiedergeburt der Künste, wie so ganz anders als einst in Griechenland, an!290)

6. Auch Gewerb und Handel bekamen von dem alles umfangenden Kirchen- und Lehnwesen in Europa ihren tief eingreifenden Umriß. Die edelste Schirmvogtei der Kaiser und Könige war's ohne Zweifel, daß sie der Gewalt des Raubes Städte und dem Joch des Leibeigentums Künstler und Gewerke entzogen, daß sie den freien Fleiß und Handel durch Gerechtigkeiten, Zollfreiheit, den Marktfrieden und sichere Geleite beschützt und befördert, das barbarische Stranderecht zu vertilgen und andere drückende Lasten dem nützlichen Einwohner der Städte und des Landes zu entnehmen gesucht haben; wozu allerdings auch die Kirche ruhmwürdig beigetragen.291 Der kühne Gedanke Friedrichs des Zweiten indes, in seinen Städten alle Zünfte und Brüderschaften abzuschaffen, ging, wie mehrere, die dieser rüstige Geist hatte, über sein Zeitalter hinaus. Noch waren verbündete Körper nötig, bei denen, wie im Ritter- und Klosterwesen, viele für einen standen und auch bei den geringsten Gewerken den Lehrling durch Dienstgrade so emporführten, wie in seinem Orden der Klosterbruder und Kriegsmann emporstieg. Ähnliche Feierlichkeiten begleiteten dort wie hier jeden höheren Schritt; ja, auch in den Handel ging der Geist der Gesellschaften und Gilden über. Die größesten Vereine desselben, die Hansa selbst, ist aus Brüderschaften der Kaufleute entstanden, die zuerst wie Pilgrime zogen; Not und Gefahr zur See und zu Lande trieben die Verbindung höher und weiter, bis endlich unter der Schirmvogtei der europäischen Christenheit eine so weit verbreitete Handelsrepublik entstand, wie sonst keine in der Welt gewesen.

Gleiche Zünfte wurden späterhin auch die Universitäten: gotische Einrichtungen, die zwar weder Morgenländer noch Griechen und Römer gekannt hatten, die aber als Kloster- und Ritterinstitute ihren Zeiten unentbehrlich und zu Festhaltung der Wissenschaften für alle Zeiten nützlich waren. Auch gründete sich im mittleren Alter ein eignes Stadtwesen, das, von den Munizipien der Römer sehr verschieden, auf Freiheit und Sicherheit nach deutschen Grundsätzen gebaut war und, wo es irgend sein konnte, Fleiß, Kunst und Nahrung hervorbrachte. Es trägt die Spuren seines bedrängten Ursprunges zwischen dem Adel, der Geistlichkeit und dein Fürsten allenthalben an sich, hat aber zur Kultur Europas mächtig gewirkt. Kurz, was unter dem gedruckten Gewölbe der Hierarchie, Lehnherrschaft und Schirmvogtei entstehen konnte, ist entstanden; dem festen Gebäude gotischer Bauart schien nur eins zu fehlen, Licht. Lasst uns sehen, auf wie sonderbaren Wegen ihm dieses zukam.

 


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