II. Dämon
Hab' ich geschlafen? Eben schlaf ich ein.
Worte in Versen IV
Es ist tief in der Erscheinung von Kraus begründet und ist das Stigma jeder ihn betreffenden Debatte, daß alle apologetischen Argumente fehlgreifen. Das große Werk von Leopold Liegler ist aus apologetischer Haltung erwachsen. Kraus als »ethische Persönlichkeit« zu beglaubigen, ist sein erstes Vorhaben. Das geht nicht. Der dunkle Grund, von dem sein Bild sich abhebt, ist nicht die Zeitgenossenschaft, sondern die Vorwelt oder die Welt des Dämons. Das Licht vom Schöpfungstage fällt auf ihn, und so taucht er aus dieser Nacht. Doch nicht an allen Teilen, und es bleiben andere, die sind ihr tiefer als man ahnt verhaftet. Ein Auge, das sich ihr nicht akkommodieren kann, wird den Umriß dieser Gestalt nie gewahr werden. Ihm werden alle Winke verschwendet sein, die Kraus, in seinem unbezwinglichen Bedürfnis, gewahrt zu werden, zu vergeben nicht müde wird. Denn wie im Märchen hat der Dämon in Kraus die Eitelkeit zu seinem Wesensausdruck gemacht. Auch die Einsamkeit des Dämons ist seine, der da auf dem versteckten Hügel sich toll gebärdet: »Gott sei Dank, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.« Wie dieser tanzende Dämon niemals zur Ruhe kommt, so unterhält in Kraus exzentrische Reflexion den beständigsten Aufruhr. »Patienten seiner Gaben« hat ihn Viertel genannt. In der Tat, seine Fähigkeiten sind Leiden, und über die wahren hinaus macht seine Eitelkeit ihn zum Hypochonder.
Spiegelt er sich nicht in sich selber, so tut er's im Gegner, den er zu seinen Füßen hat. Seine Polemik ist ja von jeher die innigste Verschränkung einer, mit den vorgeschrittensten Mitteln arbeitenden, Entlarvungstechnik und einer, mit archaischen operierenden, Kunst des Selbstausdrucks. Auch in dieser Zone aber bekundet, durch Zweideutigkeit, sich der Dämon: Selbstausdruck und Entlarvung gehen in ihr als Selbstentlarvung ineinander über. Wenn Kraus gesagt hat: »Antisemitismus heißt jene Sinnesart, die etwa den zehnten Teil der Vorwürfe aufbietet und ernst meint, die der Börsenwitz gegen das eigene Blut parat hat«, so gibt er das Schema, nach dem auch das Verhältnis seiner Gegner zu ihm selbst sich gestaltet. Es gibt keinen Vorwurf gegen ihn, keine Schmähung seiner Person, deren legitimste Formulierung sie nicht seinen eigenen Schriften, und in ihnen den Stellen entnehmen könnten, da die Selbstbespiegelung zur Selbstbewunderung sich steigert. Kein Preis ist ihm zu hoch, von sich reden zu machen, und immer gibt der Erfolg dieser Spekulation ihm recht. Wenn Stil die Macht ist, in den Längen und Breiten des Sprachdenkens sich zu ergehen, ohne darum ins Banale zu fallen, so erwirbt ihn zumeist die Herzkraft großer Gedanken, welche das Sprachblut durchs Geäder der Syntax in die abgelegensten Glieder treibt. Ohne daß bei Kraus nun solche Gedanken sich einen Augenblick lang verkennen ließen, ist doch die Herzkraft seines Stils das Bild, wie er es selbst von sich im Innern trägt, um es aufs schonungsloseste zu exponieren. Ja, er ist eitel. So hat ihn, wie er huschend, mit unsteten Sätzen, das Podium einer Vorlesung zu gewinnen, den Raum durchmißt, Karin Michaelis geschildert. Und wenn er dann seiner Eitelkeit opfert — er müßte nicht der Dämon sein, der er ist, wäre es nicht zuletzt er selber, sein Leben und sein Leiden, die er mit allen Wunden, allen Blößen preisgibt. So kommt sein Stil zustande und mit ihm der typische Fackelleser, dem noch im Nebensatz, in der Partikel, ja im Komma stumme Fetzen und Fasern von Nerven zucken, am abgelegensten und trockensten Faktum noch ein Stück des geschundenen Fleisches hängt. Die Idiosynkrasie als höchstes kritisches Organ — das ist die verborgene Zweckmäßigkeit dieser Selbstbespiegelung und der HöUenzustand, den nur ein Schriftsteller kennt, für den jeder Akt der Befriedigung zugleich zu einer Station des Martyriums wird und welchen neben Kraus kein einziger so durchlebt hat wie Kierkegaard.
»Ich bin«, hat Kraus gesagt, »vielleicht der erste Fall eines Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt« und weist mit diesem Wort der eigenen Eitelkeit den legitimsten Ort an: den im Mimen. Das mimische Genie, das in der Glosse nachmacht, in der Polemik Fratzen schneidet, entfesselt sich festlich in den Vorlesungen von Dramen, deren Urheber nicht umsonst eine eigentümliche Mittelstellung einnehmen: Shakespeare und Nestroy, Dichter und Schauspieler; Offenbach, Komponist und Dirigent. Es ist, als suchte der Dämon des Mannes die bewegte, von allen Blitzen der Improvisation durchzuckte Atmosphäre dieser Dramen, weil nur sie ihm die tausend Chancen bietet, neckend, quälend, drohend, hervorzuschießen. Die eigene Stimme macht darin die Probe auf den dämonischen Personenreichtum des Vortragenden — persona: das, wohindurch es hallt — und um die Fingerspitzen schießen die Gebärden der Gestalten, welche in seiner Stimme wohnen. Aber auch im Verhältnis zu den Gegenständen seiner Polemik spielt das Mimische eine entscheidende Rolle. Er macht den Partner nach, um in den feinsten Fugen seiner Haltung das Brecheisen des Hasses anzusetzen. Dieser Silbenstecher, der zwischen die Silben sticht, holt Larven, die da nisten, zu Klumpen heraus, die Larven der Käuflichkeit und der Geschwätzigkeit, der Niedertracht und der Bonhomie, der Kinderei und der Habsucht, der Verfressenheit und der Hinterlist. In der Tat, die Bloßstellung des Unechten — schwieriger als die des Schlechten — kommt hier behavioristisch zustande. Die Zitate der »Fackel« sind mehr als Belegstellen: Requisiten von mimischen Entlarvungen durch den Zitierenden. Freilich gerade in diesem Zusammenhang tritt zutage, wie eng verbunden mit der Grausamkeit des Satirikers die zweideutige Demut des Interpreten ist, die sich im Vorleser bis zum Unfaßlichen steigert. In einen hineinkriechen — so bezeichnet man nicht umsonst die niederste Stufe der Schmeichelei, und eben das tut Kraus: nämlich um zu vernichten. Ist Höflichkeit hier Mimikry des Hasses, Haß Mimikry der Höflichkeit geworden? Wie dem auch sei, beide sind auf der Stufe der Vollendung, der chinesischen angelangt. Die »Qual«, von der so viel und in so undurchsichtigen Anspielungen bei Kraus die Rede ist, hat hier ihren Sitz. Seine Proteste gegen Zuschriften, Materialien, Dokumente sind nichts als die Abwehrreaktion eines Mannes, der in Komplizitäten verstrickt werden soll. Was ihn dergestalt verstrickt, ist aber mehr noch als das Tun und Lassen die Sprache seiner Mitmenschen. Seine Leidenschaft, sie zu imitieren, ist Ausdruck für und Kampf gegen diese Verstrickung zugleich, auch Grund und Folge jenes immer wachen Schuldbewußtseins, in dem allein der Dämon sein Element hat. Der Haushalt seiner Irrtümer und seiner Schwächen — mehr Wunderbau als die Gesamtheit seiner Gaben — ist von so feiner und präziser Organisation, daß jede Bestätigung von außen ihn nur erschüttert. Nun gar, wenn dieser Mann als »Vorbild eines harmonisch durchgebildeten Menschentypus« beglaubigt werden, wenn er- mit einer stilistisch und gedanklich gleich absurden Wendung — als Philanthrop erscheinen soll, so daß, wer seiner »Härte mit den Ohren der Seele« lausche, in Mitgefühl ihren Grund finde. Nein! diese unbestechliche, eingreifende, wehrhafte Sicherheit kommt nicht aus jener edlen, dichterischen oder menschenfreundlichen Gesinnung, der die Anhänger sie gern zuschreiben. Wie höchst banal und wie grundfalsch zugleich ihre Herleitung seines Hasses aus Liebe, da doch auf der Hand liegt, wieviel Ursprünglicheres am Werke ist: eine Menschlichkeit, die nur der Übergang von Bosheit in Sophistik, von Sophistik in Bosheit, eine Natur, die die hohe Schule des Menschenhasses, und ein Mitleid, das nur verschränkt mit Rache lebendig ist: »O hätte man mir die Wahl gelassen, | den Hund oder den Schlächter zu tranchieren, | ich hätt' gewählt!« Nichts widersinniger, als nach dem Bilde dessen, was er liebt, ihn formen zu wollen. Mit Recht hat man den »zeitentbundenen Weltverstörer« Kraus dem »ewigen Weltverbesserer« konfrontiert, den hin und wieder wohlgefällige Blicke streifen.
»Als das Zeitalter Hand an sich legte, war er diese Hand«, hat Brecht gesagt. Weniges behauptet sich neben dieser Erkenntnis und sicher nicht das Freundeswort von Adolf Loos. »Kraus«, so erklärt er, »steht an der Schwelle einer neuen Zeit«. Ach, durchaus nicht. — Er steht nämlich an der Schwelle des Weltgerichts. Wie auf den Prunkstücken barocker Altarmalerei die hart an den Rahmen gedrängten Heiligen abwehrend gespreizte Hände gegen die atemraubenden Verkürzungen vor ihnen schwebender Extremitäten der Engel, der Verklärten, der Verdammten strecken, so drängt auf Kraus die ganze Weltgeschichte in den Extremitäten einer einzigen Lokalnotiz, einer einzigen Phrase, eines einzigen Inserats ein. Das ist das Erbe, das ihm aus der Predigt von Abraham a Santa Clara überkommen ist. Von daher jene Nähe, die sich überschlägt, jene Schlagfertigkeit des ganz und gar nicht kontemplativen Nu und die Verschränkung, welche seinem Wollen einzig den theoretischen, seinem Wissen einzig den praktischen Ausdruck erlaubt. Kraus ist kein historischer Genius. Er steht nicht an der Schwelle einer neuen Zeit. Kehrt er der Schöpfung je den Rücken, bricht er ab mit Klagen, so ist es nur, um vor dem Weltgericht anzuklagen.
Man versteht nichts von diesem Manne, solange man nicht erkennt, daß mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos alles, Sprache und Sache, für ihn sich in der Sphäre des Rechts abspielt. Seine ganze feuerfressende, degenschluckende Philologie der Journale geht ja ebensosehr wie der Sprache dem Recht nach. Man begreift seine »Sprachlehre« nicht, erkennt man sie nicht als Beitrag zur Sprachprozeßordnung, begreift das Wort des anderen in seinem Munde nur als corpus delicti und sein eigenes nur als das richtende. Kraus kennt kein System. Jeder Gedanke hat seine eigene Zelle. Aber jede Zelle kann im Nu, und scheinbar durch ein Nichts veranlaßt, zu einer Kammer, einer Gerichtskammer werden, in welcher dann die Sprache den Vorsitz hat. Man hat von Kraus gesagt, er habe »das Judentum in sich niederringen« müssen, gar »den Weg vom Judentum zur Freiheit« zurückgelegt — nichts widerlegt das besser, als daß auch ihm Gerechtigkeit und Sprache ineinander gestiftet bleiben. Das Bild der göttlichen Gerechtigkeit als Sprache — ja in der deutschen selber — zu verehren, das ist der echt jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons zu sprengen sucht. Denn dies ist die letzte Amtshandlung dieses Eiferers: die Rechtsordnung selbst in Anklagezustand zu versetzen. Und nicht mit kleinbürgerlichem Aufbegehren wider die Knechtung des »freien Individuums« durch »tote Formeln«. Noch weniger mit der Haltung jener Radikalen, die Paragraphen stürmen, ohne je sich einen Augenblick Rechenschaft von der Justiz gegeben zu haben. Kraus stellt das Recht in seiner Substanz, nicht in seiner Wirkung unter Anklage. Sie lautet auf Hochverrat des Rechtes an der Gerechtigkeit. Genauer, des Begriffs am Worte, aus dem er sein Dasein hat: vorsätzliche Tötung der Phantasie, die schon am Mangel einer einzigen Letter stirbt und der er in seiner »Elegie auf den Tod eines Lautes« die ergreifendste Klage gesungen hat. Denn über der Rechtsprechung steht die Rechtschreibung, und wehe der ersten, wenn die zweite zu leiden hat. So begegnet er denn auch hier der Presse, ja gibt in diesem Bannkreis sich sein liebstes Stelldichein mit den Lemuren. Er hat das Recht durchschaut wie wenige. Wenn er es dennoch anruft, geschieht es gerade, weil sich sein eigener Dämon so gewaltig von dem Abgrund gezogen fühlt, den es darstellt. Von jenem Abgrund, den er nicht umsonst am gähnendsten, wo Geist und Sexus sich zusammenfinden — im Sittlichkeitsprozeß — erfahren und in den berühmten Worten erlotet hat: »Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren düsterem Grunde sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt.«
Geist und Sexus bewegen sich in dieser Sphäre in einer Solidarität, deren Gesetz Zweideutigkeit ist. Die Besessenheit des dämonischen Sexus ist das Ich, das, umgaukelt von so süßen Frauenbildern, »wie die bittre Erde sie nicht hegt«, sich genießt. Und nicht anders die lieblose und selbstgenugsame Figur des besessenen Geistes: der Witz. Zu ihrer Sache kommen sie beide nicht; das Ich zum Weib so wenig wie der Witz zum Wort. Das Zersetzende ist an Stelle des Zeugenden, das Grelle an Stelle des Geheimen getreten; nun aber changieren sie in den einschmeichelndsten Nuancen: im Witzwort kommt die Lust und in der Onanie die Pointe zu ihrem Recht. Als hoffnungslos dem Dämon Verhafteten hat Kraus sich selbst porträtiert; im Pandämonium der Zeit hat er sich den traurigsten, vom Rammenwiderschein beglänzten Ort in der Eiswüste vorbehalten. Da steht er am »Letzten Tage der Menschheit« — der »Nörgler«, der die vorangehenden beschrieben hat. »Ich habe die Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfällt, auf mich genommen, damit sie der Geist höre, der sich der Opfer erbarmt, und hätte er selbst für alle Zukunft der Verbindung mit einem Menschenohr entsagt. Er empfange den Grundton dieser Zeit, das Echo meines blutigen Wahnsinns, durch den ich mitschuldig bin an diesen Geräuschen. Er lasse es als Erlösung gelten!«
»Mitschuldig ...« — weil das an die Manifeste der Intelligenz anklingt, welche einer Epoche, die Miene machte, sich von ihr abzukehren, ins Gedächtnis sich zurückrufen wollte, und sei es auch durch eine Selbstbezichtigung, ist über dieses Schuldgefühl, in dem so sichtbar sich das privateste Bewußtsein mit dem historischen begegnet, ein Wort zu sagen. Es wird immer auf jenen Expressionismus führen, aus dem die Reife seines Werks mit Wurzeln, die ihren Boden sprengten, sich genährt hat. Man kennt die Stichworte — mit welchem Hohn hat nicht Kraus selber sie registriert: geballt, gestuft und gestellt komponierte man Bühnenbilder, Sätze, Gemälde. — Unverkennbar — und die Expressionisten proklamierten ihn selbst — ist der Einfluß frühmittelalterlicher Miniaturen auf ihre Vorstellumgswelt. Wer aber nun deren Gestalten — etwa am Beispiel der Wiener Genesis — mustert, dem tritt nicht nur in den weitgeöffneten Augen, nicht nur in den unergründlichen Falten ihrer Gewandung, vielmehr im ganzen Ausdruck etwas sehr Rätselhaftes entgegen. Als hätte sie die fallende Sucht ergriffen, so neigen sie in ihrem Lauf, der immer überstürzt ist, sich einander zu. Die »Neigung« kann, vor allem andern, als der tiefe menschliche Affekt erscheinen, der die Welt dieser Miniaturen sowohl wie die Manifeste jener Dichtergeneration durchzittert. Aber das ist nur der eine, gewissermaßen konkave Aspekt dieses Sachverhalts, der Blick ins Angesicht dieser Figuren. Ganz anders ist die gleiche Erscheinung dem, welcher ihre Rücken ins Auge faßt. Diese Rücken staffeln sich in den Heiligen der Adorationen, in den Knechten der Gethsemane-szene, in den Augenzeugen des Einzugs in Jerusalem zu Terrassen menschlicher Nacken, menschlicher Schultern, die, wirklich zu steilen Stufen geballt, weniger in den Himmel als abwärts, auf und selbst unter die Erde führen. Unmöglich, für ihr Pathos einen Ausdruck zu finden, der davon absieht: sie sind besteigbar wie aufeinandergewälzte Felsblöcke oder grob behauene Stufen. Welche Gestalten immer den Geisterkampf auf diesen Schultern mögen gekämpft haben — eine von ihnen erlaubt die Erfahrung, die wir von der Verfassung der geschlagenen Massen unmittelbar nach Kriegsende machen konnten, uns beim Namen zu nennen. Was dem Expressionismus, in dem ein ursprünglich menschlicher Impuls sich fast restlos in einen modischen umsetzte, am Ende zurückblieb, war die Erfahrung und der Name jener namenlosen Macht, der sich die Rücken der Menschen entgegenkrümmten: die Schuld. »Nicht daß eine gehorsame Masse von einem ihr unbekannten Willen, aber daß sie von einer ihr unbekannten Schuld in Gefahr geführt wird, macht sie mitleidswürdig«, hat Kraus schon 1912 geschrieben. Als »Nörgler« hat er an ihr teil, um sie zu denunzieren, denunziert er sie, um an ihr teilzuhaben. Durch das Opfer ihr zu begegnen, hat er sich eines Tages in die Arme der katholischen Kirche geworfen.
In jenen schneidenden Menuetten, die Kraus dem chassez-croisez von Justitia und Venus gepfiffen hat, ist das Leitmotiv — daß der Philister von der Liebe nichts weiß — mit einer Schärfe und Beharrlichkeit vorgetragen, die einzig in der entsprechenden Haltung der Decadence, in der Proklamation des l'art pour l'art ihr Gegenstück hat. Denn eben das l'art pour l'art, das der Decadence auch für die Liebe gilt, hat das Sachverständnis aufs engste an das handwerkliche Wissen, die Technik, gebunden und hat die Dichtung in ihrem hellsten Lichte nur von der Folie des Literatentums wie die Liebe von der der Unzucht sich abheben lassen. »Not kann jeden Mann zum Journalisten machen, aber nicht jede Frau zur Prostituierten.« In dieser Formulierung hat Kraus den doppelten Boden seiner Polemik gegen den Journalismus verraten. Das ist viel weniger der Philanthrop, der aufgeklärte Menschen- und Naturfreund, der diesen unerbittlichen Kampf entfesselt hat, als der geschulte Literat, Artist, ja Dandy, der seinen Ahnen in Baudelaire hat. Nur Baudelaire hat so wie Kraus die Saturiertheit des gesunden Menschenverstandes und so wie er den Kompromiß gehaßt, den die Geistigen mit ihm schlossen, um im Journalismus ein Unterkommen zu finden. Der Journalismus ist Verrat am Literatentum, am Geist, am Dämon. Das Geschwätz ist seine wahre Substanz und jedes Feuilleton stellt von neuem die unlösbare Frage nach dem Kräfteverhältnis von Dummheit und von Bosheit, deren Ausdruck es ist. Es ist im Grunde die vollkommene Entsprechung dieser Daseinsformen: des Lebens unterm Zeichen bloßen Geistes oder bloßer Sexualität, die jene Solidarität des Literaten mit der Hure begründet, deren unverbrüchlichstes Zeugnis wiederum Baudelaires Existenz ist. So kann Kraus die Gesetze des eigenen Handwerks verschränkt mit denen des Sexus beim Namen nennen, wie er es in der »Chinesischen Mauer« getan hat. Der Mann »hat tausendmal mit dem Anderen gerungen, der vielleicht nicht lebt, aber dessen Sieg über ihn sicher ist. Nicht weil er bessere Eigenschaften hat, aber weil er der Andere ist, der Spätere, der dem Weib die Lust der Reihe bringt und der als Letzter triumphieren wird. Aber sie wischen es von ihrer Stirn wie einen bösen Traum; und wollen die Ersten sein.« Ist nun die Sprache — das legen wir zwischen die Zeilen — ein Weib, wie weit entrückt ein unbetrüglicher Instinkt den Autor jenen, die sich beeilen, bei ihr die Ersten zu sein, wie vielfach macht er den Gedanken, der sie nur immer mehr mit Ahnung stachelt als mit Wissen sättigt, wie läßt er ihn in Haß, Verachtung, Bosheit sich verstricken, wie hält er seinen Schritt hintan und sucht den Umweg des Epigonentums, um schließlich ihr die Lust der Reihe mit dem letzten Stoße, den Jack für Lulu in Bereitschaft hält, zu enden.
Das Literatentum ist das Dasein im Zeichen des bloßen Geistes wie die Prostitution das Dasein im Zeichen des bloßen Sexus. Der Dämon aber, der der Hure die Straße anweist, verbannt den Literaten in den Gerichtssaal. Daher ist er für Kraus das Forum, wie er es für die großen Journalisten — einen Carrel, Paul-Louis Courier, Lassalle — von jeher gewesen ist. Es zu umgehen: der echten und dämonischen Funktion des bloßen Geistes, Störenfried zu sein, sich zu entziehen, der Hure in den Rücken zu fallen — dies doppelte Versagen definiert für Kraus den Journalisten. — Robert Scheu hat richtig gesehen, daß für Kraus die Prostitution eine natürliche Form, keine soziale Verbildung des weiblichen Sexus ist. Jedoch erst daß und wie sich Sexual- und Tauschverkehr verschränken, macht den Charakter der Prostitution aus. Wenn sie ein Naturphänomen ist, so ist sie es genau so sehr von der natürlichen Seite der Ökonomik, als Erscheinung des Tauschverkehrs, wie von der natürlichen Seite des Sexus. »Verachtung der Prostitution? | Dirnen schlimmer als Diebe? | Lernt: Liebe nimmt nicht nur Lohn, | Lohn gibt auch Liebe!« Diese Zweideutigkeit -diese Doppelnatur als doppelte Natürlichkeit — macht die Prostitution dämonisch. Aber Kraus »ergreift die Partei der Naturmacht«. Daß ihm der soziologische Bereich nie transparent wird — im Angriff auf die Presse so wenig wie in der Verteidigung der Prostitution — hängt mit dieser seiner Naturverhaftung zusammen. Daß ihm das Menschenwürdige nicht als Bestimmung und Erfüllung der befreiten — der revolutionär veränderten — Natur, sondern als Element der Natur schlechtweg, einer archaischen und geschichtslosen in ihrem ungebrochenen Ursein sich darstellt, wirft ungewisse, unheimliche Reflexe noch auf seine Idee von Freiheit und von Menschlichkeit zurück. Sie ist nicht dem Bereich der Schuld entrückt, den er von Pol zu Pol durchmessen hat: vom Geist zum Sexus.
Dieser Realität gegenüber, die Kraus blutiger als irgend einer durchlitten hat, enthüllt nun aber jener »reine Geist«, den die Anhänger im Wirken des Meisters verehren, sich als nichtswürdige Chimäre. Darum ist unter allen Motiven seiner Entwicklung keines wichtiger als dessen dauernde Einschränkung und Kontrolle. »Nachts« ist sein Kontrollbuch betitelt. Denn die Nacht ist das Schaltwerk, wo bloßer Geist in bloße Sexualität, bloße Sexualität in bloßen Geist umschlägt und diese beiden lebenswidrigen Abstrakta, indem sie einander erkennen, zur Ruhe kommen. »Ich arbeite Tage und Nächte. So bleibt mir viel freie Zeit. Um ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefällt, um die Uhr zu fragen, ob sie müde ist und die Nacht, wie sie geschlafen hat.« Opfergaben an den Dämon sind diese Fragen, die er ihm unter der Arbeit hinwirft. Seine Nacht aber ist nicht die mütterliche noch auch die monderhellte romantische; es ist die Stunde zwischen Schlaf und Wachen, die Nacht-Wache, das Mittelstück seiner dreifach gestaffelten Einsamkeit: der des Caféhauses, wo er mit seinem Feind, der des nächtlichen Zimmers, wo er mit seinem Werk allein ist.