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III. Unmensch

Schon fällt der Schnee.

Worte in Versen III

Die Satire ist die einzige rechtmäßige Form der Heimatkunst. So war es aber nicht gemeint, wenn man Kraus einen Wiener Satiriker nannte. Vielmehr versuchte man, solange es angehen konnte, auf dieses tote Gleis ihn abzuschieben, um sein Werk dem großen Speicher literarischer Konsumgüter einverleiben zu können. Kraus als Satiriker dargestellt kann also den tiefsten Aufschluß über ihn so gut wie sein traurigstes Zerrbild ergeben. Von jeher war es ihm daher angelegen, den Satiriker echten Schlages von jenen Schreibern zu trennen, die aus dem Hohn ein Gewerbe gemacht und nicht viel mehr bei ihren Invektiven im Sinne haben als dem Publikum etwas zu lachen zu geben. Demgegenüber hat der große Typus des Satirikers nie festeren Boden unter den Füßen gehabt als mitten in einem Geschlecht, das sich anschickt, Tanks zu besteigen und Gasmasken überzuziehen, einer Menschheit, der die Tränen ausgegangen sind, aber nicht das Gelächter. In ihm bereitet sie sich vor, die Zivilisation, wenn es sein muß, zu überleben, und sie kommuniziert mit ihm im eigentlichen Mysterium der Satire, als welches im Verspeisen des Gegners besteht. Der Satiriker ist die Figur, unter welcher der Menschenfresser von der Zivilisation rezipiert wurde. Nicht ohne Pietät erinnert er sich seines Ursprungs und darum ist der Vorschlag, Menschen zu fressen, in den eisernen Bestand seiner Anregungen übergegangen, von Swifts einschlägigem Projekt, betreffend die Verwendung der Kinder in minderbemittelten Volksklassen bis zu Leon Bloys Vorschlag, Hauswirten insolventen Mietern gegenüber ein Recht auf die Verwertung ihres Fleisches einzuräumen. In solchen Anweisungen haben die großen Satiriker der Humanität ihrer Mitmenschen Maß genommen. »Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind« — so schließt bei Kraus die Auseinandersetzung des Menchenfressers mit den Menschenrechten. Man vergleiche sie mit der Marxschen der »Judenfrage«, um zu ermessen, wie gänzlich diese spielerische Reaktion von 1909 — die Reaktion gegen das klassische Humanitätsideal — danach angetan war, bei der ersten besten Gelegenheit in das Bekenntnis des realen Humanismus umzuschlagen. Freilich hätte man die »Fackel« schon von der ersten Nummer an Wort für Wort buchstäblich verstehen müssen, um abzusehen, daß diese ästhetizistisch ausgerichtete Publizistik, ohne ein einziges ihrer Motive zu opfern, ein einziges zu gewinnen, die politische Prosa von 1930 zu werden bestimmt war. Das dankt sie ihrem Partner, der Presse, welche der Humanität jenes Ende bereitete, auf das Kraus mit den Worten anspielt: »Die Menschenrechte sind das zerreißbare Spielzeug der Erwachsenen, auf dem sie herumtreten wollen und das sie sich deshalb nicht nehmen lassen.« So ist die Grenzsetzung zwischen Privatem und Öffentlichem, die 1789 die Freiheit verkünden sollte, zum Gespött geworden. Durch die Zeitung, sagt Kierkegaard, »wird ... die Distinktion zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in einer privat-öffentlichen Schwatzhaftigkeit aufgehoben«.

Die öffentliche und private Zone, die im Geschwätz dämonisch ineinanderliegen, zur dialektischen Auseinandersetzung zu bringen, reales Menschentum zum Sieg zu führen, das ist der Sinn der Operette, den Kraus entdeckt und in Offenbach zum intensivsten Ausdruck gebracht hat. Wie das Geschwätz die Knechtung der Sprache durch die Dummheit besiegelt, so die Operette die Verklärung der Dummheit durch die Musik. Daß man die Schönheit weiblicher Dummheit verkennen könne, galt Kraus von jeher als das finsterste Banausentum. Vor ihrer Strahlenkraft verfliegen die Chimären des Fortschritts. Und in der Operette Offenbachs tritt nun die bürgerliche Dreieinigkeit des Wahren, Schönen, Guten, neu einstudiert zur großen Nummer mit Musikbegleitung auf dem Trapez des Blödsinns zusammen. Wahr ist der Unsinn, schön die Dummheit, gut die Schwäche. Das ist ja das Geheimnis Offenbachs: wie mitten in dem tiefen Unsinn öffentlicher Zucht — es sei nun die der oberen Zehntausend, eines Tanzbodens oder des Militärstaats —, der tiefe Sinn privater Unzucht ein träumerisches Auge aufschlägt. Und was als Sprache richterliche Strenge, Entsagung, scheidende Gewalt gewesen wäre, wird List und Ausflucht, Einspruch und Vertagung als Musik. — Musik als Platzhalterin der moralischen Ordnung? Musik als Polizei einer Freudenwelt? Ja, das ist der Glanz, der über die alten Pariser Ballsäle, über die »Grande Chaumière«, die »Clôserie des Lilas« mit dem Vortrag des »Pariser Lebens« sich ausgießt. »Und die unnachahmliche Doppelzüngigkeit dieser Musik, alles zugleich mit dem positiven und dem negativen Vorzeichen zu sagen, das Idyll an die Parodie, den Spott an die Lyrik zu verraten; die Fülle zu allem erbötiger, Schmerz und Lust verbindender Tonfiguren — hier erscheint diese Gabe am reichsten und reinsten entfaltet.« Die Anarchie als einzig moralische, einzig menschenwürdige Weltverfassung wird zur wahren Musik dieser Operetten. Die Stimme von Kraus sagt diese innere Musik mehr, als daß sie sie singt. Schneidend umpfeift sie die Grate des schwindelnden Blödsinns, erschütternd hallt sie aus dem Abgrund des Absurden wider und summt, wie der Wind im Kamin, in den Zeilen der Frascata ein Requiem auf die Generation unserer Großväter. — Offenbachs Werk erlebt eine Todeskrisis. Es zieht sich zusammen, entledigt sich alles Überflüssigen, geht durch den gefährlichen Raum dieses Daseins hindurch und kommt gerettet, wirklicher als vordem, wieder zum Vorschein. Denn wo diese wetterwendische Stimme laut wird, fahren die Blitze der Lichtreklamen und der Donner der Métro durch das Paris der Omnibusse und Gasflammen. Und das Werk gibt ihm das alles zurück. Denn auf Augenblicke verwandelt es sich in einen Vorhang, und mit den wilden Gebärden des Marktschreiers, die den ganzen Vortrag begleiten, reißt Kraus diesen Vorhang beiseite und gibt den Blick ins Innere seines Schreckenskabinetts auf einmal frei. Da stehen sie: Schober, Bekessy, Kerr und die andern Nummern, nicht mehr die Feinde, sondern Raritäten, Erbstücke aus der Welt Offenbachs oder Nestroys, nein, ältere, seltenere, Penaten der Troglodyten, Hausgötter der Dummheit aus vorgeschichtlichen Zeiten. Kraus, wenn er vorträgt, spricht nicht Offenbach oder Nestroy: sie sprechen aus ihm heraus. Und dann und wann nur fällt ein atemraubender, halb stumpfer, halb glänzender Kupplerblick in die Masse vor ihm, lädt sie zu der verwünschten Hochzeit mit den Larven, in denen sie sich selber nicht erkennt, und nimmt zum letzten Male sich das böse Vorrecht der Zweideutigkeit.

Hier kommt nun erst das wahre Antlitz, vielmehr die wahre Maske des Satirikers zum Vorschein. Es ist die Maske Timons, des Menschenfeindes. »Shakespeare hat alles vorausgewußt« — ja. Vor allem aber ihn selber. Shakespeare zeichnet unmenschliche Gestalten — und Timon, die unmenschlichste unter ihnen — und sagt: Solch ein Geschöpf brächte Natur hervor, wenn sie das schaffen wollte, was der Welt, wie euresgleichen sie gestaltet hat, gebührt; was ihr gewachsen, was ihr zugewachsen wäre. So ein Geschöpf ist Timon, so eins Kraus. Beide haben sie, wollen sie mit Menschen nichts mehr gemein haben. »Thierfehd ist hier: das sagt dem Menschsein ab«; aus einem abgelegenen Glarner Dorfe wirft Kraus diesen Fehdehandschuh der Menschheit hin, und Timon will an seinem Grabe nur das Meer in Tränen wissen. Wie Timons Verse steht die Kraussche Lyrik hinter dem Doppelpunkt der dramatis persona, der Rolle. Ein Narr, ein Caliban, ein Timon — nicht sinniger, nicht würdiger und nicht besser — aber der sich selber sein eigener Shakespeare ist. Man sollte allen den Figuren, wie sie sich um ihn scharen, ihren Ursprung in Shakespeare ansehen. Und immer ist er sein Ausbund, ob er mit Weininger vom Manne oder mit Altenberg von der Frau, mit Wedekind von der Bühne oder mit Loos vom Essen, mit Else Lasker-Schüler vom Juden oder mit Theodor Haecker vom Christen spricht. Die Macht des Dämons endet an diesem Reiche. Sein Zwischen- oder Untermenschliches wird von einem wahrhaft Unmenschlichen überwunden. Kraus hat es in den Worten angedeutet: »In mir verbindet sich eine große Fähigkeit zur Psychologie mit der größeren, über einen psychologischen Bestand hinwegzusehen.« Es ist das Unmenschliche des Schauspielers, das er mit diesen Worten für sich in Anspruch nimmt: das Menschenfresserische. Denn mit jeder Rolle verleibt sich der Schauspieler einen Menschen ein, und in den barocken Tiraden Shakespeares — wenn sich der Menschenfresser als der bessere Mensch, der Held als ein Akteur entpuppen soll, Timon den Reichen, Hamlet den Irren spielt — ist es, als wenn seine Lippen von Blut trieften. So hat Kraus nach Shakespeares Vorbild sich Rollen geschrieben, an denen er Blut geleckt hat. Die Beharrlichkeit seiner Überzeugungen ist Beharren in einer Rolle, mit ihren Stereotypien, auf ihren Stichworten. Seine Erlebnisse samt und sonders sind nichts als dies: Stichworte. Darum besteht er auf ihnen und verlangt sie vom Dasein wie ein Schauspieler, der es dem Partner niemals verzeiht, wenn er ihm das Stichwort nicht bringt.

Die Offenbach-Vorlesungen, der Vortrag Nestroyscher Kuplets sind von allen musikalischen Mitteln verlassen. Das Wort dankt niemals zugunsten des Instruments ab; indem es aber seine Grenzen weiter und weiter hinausschiebt, geschieht es, daß es am Ende sich depotenziert, in die bloße kreatürliche Stimme sich auflöst: ein Summen, das zum Worte sich so verhält wie sein Lächeln zum Witz, ist das Allerheiligste dieser Vortragskunst. In diesem Lächeln, diesem Summen, wo wie in einem Kratersee zwischen den ungeheuerlichsten Schroffen und Schlacken die Welt sich friedlich und genügsam spiegelt, bricht jene tiefe Komplizität mit seinen Hörern und Modellen durch, der Kraus im Worte niemals Raum gegeben hat. Sein Dienst an ihm erlaubt ihm keinen Kompromiß. Kaum aber hat es den Rücken gekehrt, so findet er sich zu manchem bereit. Da macht denn der quälende, stets unerschöpfte Reiz dieser Vorlesungen sich fühlbar: die Scheidung zwischen fremden und verwandten Geistern zunichte werden und jene homogene Masse falscher Freunde sich bilden zu sehen, die in diesen Veranstaltungen den Ton angibt. Kraus tritt vor eine Welt von Feinden, will sie zur Liebe zwingen, und zwingt sie doch zu nichts als Heuchelei. Seine Wehrlosigkeit demgegenüber steht in genauem Zusammenhang mit dem subversiven Dilettantismus, der zumal die Offenbach-Vorlesungen bestimmt. Kraus weist in ihnen die Musik in engere Schranken, als je die Manifeste der George-Schule sich's erträumten. Das kann natürlich über den Gegensatz in beider Sprachgebärde nicht hinwegtäuschen. Vielmehr besteht die genaueste Verbindung zwischen den Bestimmungsgründen, die Kraus die beiden Pole des sprachlichen Ausdrucks — den depotenzierten des Summens und den armierten des Pathos — zugänglich machen und denen, die seiner Heiligung des Worts verbieten, die Formen des Georgeschen Sprachkultus anzunehmen. Dem kosmischen Auf und Nieder, das für George »den Leib vergottet und den Gott verleibt«, ist die Sprache nur die Jakobsleiter mit den zehntausend Wortsprossen. Demgegenüber Kraus: seine Sprache hat alle hieratischen Momente von sich getan. Weder ist sie Medium der Seherschaft noch der Herrschaft. Daß sie der Schauplatz für die Heiligung des Namens sei — mit dieser jüdischen Gewißheit setzt sie der Theurgie des »Wortleibs« sich entgegen. Sehr spät, mit einer Entschiedenheit, die in Jahren des Stillschweigens muß gereift sein, ist Kraus dem großen Partner gegenübergetreten, dessen Werk zur gleichen Zeit mit dem eigenen, unter der Jahrhundertschwelle, entsprungen war. Georges erster öffentlich erschienener Band und der erste Jahrgang der »Fackel« tragen die Jahreszahl 1899. Und erst im Rückblick »Nach dreißig Jahren«, 1929, unternahm Kraus ihn aufzurufen. Ihm als dem Eifernden tritt da George als der Gefeierte gegenüber,

der in dem Tempel wohnt, woraus es nie
zu treiben galt die Händler und die Wechsler,
nicht Pharisäer und die Schriftgelehrten,
die drum den Ort umlagern und beschreiben.

Profanum vulgus lobt sich den Entsager,
der nie ihm sagte, was zu hassen sei.
Und der das Ziel noch vor dem Weg gefunden,
er kam vom Ursprung nicht.

»Du kamst vom Ursprung — Ursprung ist das Ziel« nimmt der »Sterbende Mensch« als Gottes Trost und Verheißung entgegen. Auf sie spielt Kraus hier an und auch Viertel tut es, wenn er, im Sinn von Kraus, die Welt den »Irrweg, Abweg, Umweg zum Paradiese zurück« nennt. »Und so«, fährt er an dieser wichtigsten Stelle seiner Schrift über Kraus fort, »versuche ich denn auch die Entwicklung dieser merkwürdigen Begabung zu deuten: Intellektualität als Abweg, der zur Unmittelbarkeit ... zurückführt. Publizität — ein Irrweg zur Sprache zurück. Die Satire — ein Umweg zum Gedicht.« Dieser »Ursprung« — das Echtheitssiegel an den Phänomenen — ist Gegenstand einer Entdeckung, die in einzigartiger Weise sich mit dem Wiedererkennen verbindet. Der Schauplatz dieser philosophischen Erkennungsszene ist im Werk von Kraus die Lyrik und ihre Sprache der Reim: »Ein Wort, das nie am Ursprung lügt« und diesen seinen Ursprung wie die Seligkeit am Ende der Tage, so am Ende der Zeile hat. Der Reim — das sind zwei Putten, die den Dämon zu Grabe tragen. Er fiel am Ursprung, weil er als Zwitter aus Geist und Sexus in die Welt kam. Sein Schwert und Schild — Begriff und Schuld — sind ihm entsunken, um zu Emblemen unterm Fuß des Engels zu werden, der ihn erschlagen hat. Das ist ein dichtender, martialischer, mit dem Florett in Händen, wie nur Baudelaire ihn gekannt hat: s'exerçant seul à sa fantasque escrime,

Flairant dans tous les coins les hasards de la rime,
Trébuchant sur les mots comme sur les pavés,
Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés.

Freilich auch ein zügelloser, »hier einer Metapher nachjagend, die eben um die Ecke bog, dort Worte kuppelnd, Phrasen pervertierend, in Ähnlichkeiten vergafft, im seligen Mißbrauch chiastischer Verschlingung, immer auf Abenteuer aus, in Lust und Qual, zu vollenden, ungeduldig und zaudernd«. So findet endlich das hedonische Moment dieses Werkes den reinsten Ausdruck in solchem schwermütig-phantastischen Verhältnis zum Dasein, in dem Kraus aus der Wiener Tradition der Raimund und Girardi zu einer ebenso resignierten wie sinnlichen Konzeption des Glückes gelangt. Sie muß man sich vergegenwärtigen, wenn man die Notwendigkeit erfassen will, aus welcher er dem Tänzerischen bei Nietzsche entgegengetreten ist — um von dem Ingrimm ganz zu schweigen, mit dem der Unmensch auf den Übermenschen stoßen mußte.

Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt. Dort oben ist sie zu Hause, die Kreatur, die nun nach soviel Stummheit im Tier und so viel Lüge in der Hure im Kinde zu Wort kommt. »Ein gutes Gehirn muß kapabel sein, jedes Fieber der Kindheit so mit allen Erscheinungen sich vorzustellen, daß erhöhte Temperatur eintritt« — mit derlei Sätzen zielt Kraus weiter, als es den Anschein hat. Er selbst jedenfalls hat die Forderung in solchem Maße verwirklicht, daß ihm das Kind niemals als Gegenstand, sondern, im Bilde seiner eigenen Frühzeit, als Gegner der Erziehung vor Augen steht, den diese Gegnerschaft erzieht, nicht der Erzieher. »Nicht der Stock war abzuschaffen, sondern der Lehrer, der ihn schlecht anwendet.« Kraus will nichts sein als der, der ihn besser anwendet. Seine Menschenfreundlichkeit, sein Mitleid haben an dem Stock ihre Grenze, den er in derselben Schulklasse zu spüren bekam, in der seine besten Gedichte zuständig sind.

»Ich bin nur einer von den Epigonen« — Kraus ist ein Epigone des Lesebuchs. »Des deutschen Knaben Tischgebet«, »Siegfrieds Schwert«, »Das Grab im Busento«, »Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt« — die waren seine Vorbilder, die haben in diesem aufmerksamen Schüler, der sie lernte, sich umgedichtet. So ist aus 378 den »Rossen von Gravelotte« das Gedicht »Zum ewigen Frieden« geworden und noch die glühendsten seiner Haßgedichte sind an Höltys »Feuer im Walde« entzündet, das die Lesebücher unserer Schulzeit durchstrahlte. Und wenn am Jüngsten Tage nicht nur die Gräber, sondern auch die Lesebücher sich öffnen, wird nach der Melodie »Was blasen die Trompeten, Husaren heraus« der wahre Pegasus der Kleinen aus ihnen hervorstürmen und, eine verhutzelte Mumie, eine Puppe aus Stoff oder gelblichem Elfenbein, wird dieser einzige Verseschmied tot, ausgetrocknet über dem Bug seines Rosses hängend, auf ihm daherfah-ren, der zweischneidige Säbel in seiner Hand aber wird, blank wie seine Reime und schneidend wie am ersten Tag, durch den Blätterwald fahren und Stilblüten werden den Boden decken.

Vollendeter ist nie die Sprache vom Geist geschieden, nie inniger an den Eros gebunden worden, als Kraus es in der Einsicht getan hat: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« Das ist platonische Sprachliebe. Die Nähe aber, der das Wort nicht entfliehen kann, ist einzig der Reim. So wird das erotische Urverhältnis von Nähe und Ferne in seiner Sprache laut: als Reim und Name. Als Reim steigt die Sprache aus der kreatürlichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Kreatur zu sich empor. In den »Verlassenen« hat die innigste Durchdringung von Sprache und von Eros, wie sie Kraus erfuhr, mit einer ungerührten Größe sich ausgesprochen, die an die vollkommenen griechischen Epigramme und Vasenbilder erinnert. »Die Verlassenen« — voneinander sind sie es. Aber- das ist ihr großer Trost — sie sind es auch miteinander. Auf der Schwelle zwischen Stirb und Werde halten sie inne. Rückwärts gewandten Hauptes nimmt die Lust »nach unerhörter Weise« ihren ewigen Abschied; ihr abgewandt betritt »nach ungewohnter Weise« die Seele ihre Fremde lautlos. So miteinander verlassen sind Lust und Seele, aber auch Sprache und Eros, auch Reim und Name. — »Den Verlassenen« ist der fünfte Band der »Worte in Versen« gewidmet. Es erreicht sie ja nur noch die Widmung, welche nichts anderes als das Geständnis der platonischen Liebe ist, die am Geliebten nicht ihre Lust büßt, sondern es im Namen besitzt und im Namen auf Händen trägt. Dieser Ichbesessene kennt keine andere Selbstentäußerung als Dank. Seine Liebe ist nicht Besitz, sondern Dank. Dank und Widmung; denn danken heißt Gefühle unter einen Namen stellen. Wie die Geliebte fern und blinkend wird, wie ihre Winzigkeit und ihr Leuchten sich in den Namen ziehen, das ist die einzige Liebeserfahrung, von der die »Worte in Versen« wissen. Darum also: »Leicht, ohne Frau zu leben. | Schwer, ohne Frau gelebt zu haben.«

Aus dem Sprachkreis des Namens, und nur aus ihm, erschließt sich das polemische Grundverfahren von Kraus: das Zitieren. Ein Wort zitieren heißt es beim Namen rufen. So erschöpft sich auf ihrer höchsten Stufe die Leistung von Kraus darin, selbst die Zeitung zitierbar zu machen. Er versetzt sie in seinen Raum, und mit einem Mal muß die Phrase es inne werden: im tiefsten Bodensatze der Journale ist sie nicht sicher vor dem Zustoß der Stimme, die auf den Schwingen des Wortes herabfährt, um sie ihrer Nacht zu entreißen. Wunderbar, wenn sie nicht strafend, sondern rettend naht, wie, auf den Schwingen des Shakespeareschen, jener Zeile, in welcher einer vor Arras nach Haus berichtet, wie in der Frühe auf dem letzten zerschossenen Baume vor seiner Stellung eine Lerche zu singen begonnen habe. Eine einzige Zeile, und nicht einmal seine eigene, genügt Kraus, um in dies Inferno rettend hinabzufahren, eine einzige Sperrung: »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die dort auf dem Granatbaum saß und sang.« Im rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung. Nicht ungereimt erscheint es, klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes. Als Reim versammelt es in seiner Aura das Ähnliche; als Name steht es einsam und ausdruckslos. Von der Sprache weisen sich beide Reiche — Ursprung so wie Zerstörung — im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich durchdringen — im Zitat — ist sie vollendet. Es spiegelt sich in ihm die Engelsprache, in welcher alle Worte, aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöpfung geworden sind. Von ihren Polen aus — dem klassischen und dem realen Humanismus — umspannt bei diesem Autor das Zitat den ganzen Umkreis seiner Bildungswelt. Schiller steht, freilich ungenannt, neben Shakespeare: »Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen | Zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind« — dies klassische Distichon kennzeichnet in der Verschränkung von grundherrlichem Edel- und weltbürgerlichem Gradsinn den utopischen Fluchtpunkt, in dem Weimars Humanität zu Hause war und den zuletzt Stifter fixierte. Es ist für Kraus das Entscheidende, wie er genau in diesen Fluchtpunkt den Ursprung verlegt. Die bürgerlich-kapitalistischen Zustände zu einer Verfassung zurückzuentwickeln, in welcher sie sich nie befunden haben, ist sein Programm. Aber darum ist er nicht weniger der letzte Bürger, der aus dem Sein zu gelten beansprucht, und der Expressionismus ist seine Schicksalsfigur geworden, weil hier sich diese Haltung erstmals vor einer revolutionären Situation zu bewähren hatte. Eben daß der Expressionismus versuchte, ihr nicht durch Handeln, sondern durch das Sein gerecht zu werden, führte ihn zu seinen Ballungen und Gesteiltheiten. So kam es, daß er zum letzten geschichtlichen Asyl der Persönlichkeit wurde. Die Schuld, die ihn beugte, und die Reinheit, welche er proklamierte — beide gehören dem Phantom des unpolitischen oder »natürlichen« Menschen an, wie er am Ende jener Regression auftaucht und von Marx entlarvt wurde. »Der Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist«, schreibt Marx, »der unpolitische Mensch, erscheint aber notwendig als der natürliche Mensch ... Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehns ... daher als zu ihrer Naturbasis. ... Der wirkliche Mensch ist erst in der Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in der Gestalt des abstrakten Citoyen anerkannt ... Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist ... und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« Der reale Humanismus, der hier bei Marx dem klassischen die Stirne bietet, offenbart sich für Kraus am Kinde, und der werdende Mensch hebt sein Gesicht den Götzenbildern des idealen, des romantischen Naturwesens ebenso wie des staatsfrommen Musterbürgers entgegen. Im Sinne dieses Werdenden hat Kraus das Lesebuch revidiert, ging er insbesondere der deutschen Bildung nach und fand sie schwankend, dem Wellenspiele journalistischer Willkür anheimgegeben. Daher die »Lyrik der Deutschen«: »Wer kann, ist ihr Mann und nicht einer, der muß, | sie irrten vom Wesen zum Scheine. | Ihr lyrischer Fall war nicht Claudius, | aber Heine.« Daß jedoch der werdende Mensch nicht im Naturraum, sondern im Raum der Menschheit, dem Befreiungskampf, eigentlich Gestalt gewinnt, daß man ihn an der Haltung erkennt, die der Kampf mit Ausbeutung und mit Not ihm aufzwingt, daß es keine idealistische, sondern nur eine materialistische Befreiung vom Mythos gibt und nicht Reinheit im Ursprung der Kreatur steht, sondern die Reinigung, das hat in dem realen Humanismus von Kraus seine Spuren am spätesten hinterlassen. Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert — weil man es nämlich aus ihm herausschlug.

So bestätigt sich: Bürgertugenden sind alle Einsatzkräfte dieses Mannes von Haus aus; nur im Handgemenge haben sie ihr streitbares Aussehen erhalten. Aber schon ist niemand mehr imstande, sie zu erkennen; niemand imstande, die Notwendigkeit zu fassen, aus welcher dieser große bürgerliche Charakter zum Komödianten, dieser Wahrer goethischen Sprachgutes zum Polemiker, dieser unbescholtene Ehrenmann zum Berserker geworden ist. Das mußte aber geschehen, da er die Änderung der Welt bei seiner Klasse, bei sich zu Hause, in Wien zu beginnen dachte. Und als er, die Vergeblichkeit seines Unternehmens sich eingestehend, mitten darinnen abbrach, da legte er die Sache wieder in die Hände der Natur zurück: diesmal der zerstörenden, nicht der schöpferischen:

Lasse stehen die Zeit! Sonne, vollende du!
Mache das Ende groß! Künde die Ewigkeit!
Recke dich drohend auf, Donner dröhne dein Licht,
daß unser schallender Tod verstummt!

Goldene Glocke du, schmilz in eigener Gluth,
werde Kanone du gegen den kosmischen Feind!
Schieß ihm den Brand ins Gesicht! Wäre mir Josuas Macht,
wisse, wieder war' Gibeon!

Auf dieser, der entfesselten, Natur gründet sich das spätere politische Kredo von Kraus, gewiß ein Gegenstück zu dem patriarchalischen Stifters, ein Bekenntnis, an dem alles erstaunlich, unverständlich aber allein das eine ist, daß nicht die größten Lettern der »Fackel« es aufbewahren, und daß man diese stärkste bürgerliche Prosa des Nachkriegs in einem verschollenen Hefte der »Fackel« — November 1920 — zu suchen hat:

»Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen ›Widersprüchen‹ auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden ... — was ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, daß das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genußberechtigten, die da glaubt, daß die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen!«

Eine menschliche, natürliche, edle Sprache — zumal im Lichte der denkwürdigen Erklärung von Loos: »Wenn die menschliche Arbeit nur aus der Zerstörung besteht, dann ist es wirklich menschliche, natürliche, edle Arbeit.« Allzulange lag der Akzent auf dem Schöpferischen. So schöpferisch ist nur, wer Auftrag und Kontrolle meidet. Die aufgegebene, kontrollierte Arbeit — ihr Vorbild: die politische und die technische — hat Schmutz und Abfall, greift zerstörend in den Stoff ein, verhält sich abnutzend zum Geleisteten, kritisch zu ihren Bedingungen und ist in alledem das Gegenstück zu der des Dilettanten, der im Schaffen schwelgt. Dessen Werk ist harmlos und rein; das Meisterliche verzehrend und reinigend. Und darum steht der Unmensch als der Bote realeren Humanismus unter uns. Er ist der Überwinder der Phrase. Er solidarisiert sich nicht mit der schlanken Tanne, sondern mit dem Hobel, der sie verzehrt, nicht mit dem edlen Erz, sondern mit dem Schmelzofen, der es läutert. Der Durchschnittseuropäer hat sein Leben mit der Technik nicht zu vereinen vermocht, weil er am Fetisch schöpferischen Daseins festhielt. Man muß schon Loos im Kampfe mit dem Drachen »Ornament« verfolgt, muß das stellare Esperanto Scheerbartscher Geschöpfe vernommen oder Klees »Neuen Engel«, welcher die Menschen lieber befreite, indem er ihnen nähme, als beglückte, indem er ihnen gäbe, gesichtet haben, um eine Humanität zu fassen, die sich an der Zerstörung bewährt.

Zerstörend ist denn auch die Gerechtigkeit, die destruktiv den konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes Einhalt gebietet; zerstörend ist Kraus dem eigenen Werke gerecht geworden: »Zurück als Führer bleibt mein ganzes Irren!« Das ist die Sprache der Nüchternheit, die ihre Herrschaft in der Dauer begründet, und schon haben die Schriften von Kraus zu dauern begonnen, und er könnte das Wort von Lichtenberg ihnen voransetzen, der eine von seinen tiefsten »Ihrer Majestät der Vergessenheit« widmete. So sieht die Selbstbescheidung nun aus — kühner als die einstige Selbstbehauptung, die in dämonischer Selbstbespiegelung zerging. Nicht Reinheit und nicht Opfer sind Herr des Dämons geworden ; wo aber Ursprung und Zerstörung einander finden, ist es mit seiner Herrschaft vorüber. Als ein Geschöpf aus Kind und Menschenfresser steht sein Bezwinger vor ihm: kein neuer Mensch; ein Unmensch; ein neuer Engel. Vielleicht von jenen einer, welche, nach dem Talmud, neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen, geschaffen werden, um, nachdem sie vor Gott ihre Stimme erhoben haben, aufzuhören und in Nichts zu vergehen. Klagend, bezichtigend oder jubelnd? Gleichviel — dieser schnell verfliegenden Stimme ist das ephemere Werk von Kraus nachgebildet. Angelus — das ist der Bote der alten Stiche.