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4. Das Glück lächelt Mitja

Aljoscha wurde unvereidigt aufgerufen, und ich erinnere mich, daß ihn beide Parteien von den ersten Worten des Verhörs an außerordentlich sanft und freundlich behandelten. Man sah, daß ihm ein guter Ruf voranging. Aljoscha machte seine Aussagen in bescheidener, ruhiger Weise; trotzdem brach dabei seine warme Teilnahme für den unglücklichen Bruder durch. Er zeichnete den Charakter seines Bruders als den eines Menschen, der vielleicht zum Jähzorn neige und sich von seinen Leidenschaften hinreißen lasse, doch zugleich edel, stolz, hochherzig und sogar zu Opfern bereit sei, wenn solche von ihm gefordert würden. Er gab zu, daß sich sein Bruder in den letzten Tagen infolge seiner Leidenschaft für Gruschenka und der Rivalität mit seinem Vater in einer unerträglichen Lage befunden hatte. Aber mit Entrüstung wies er auch nur die Vermutung zurück, daß sein Bruder zu einem Raubmord fähig wäre, wenn er auch einräumte, daß diese dreitausend Rubel in Mitjas Geist beinah zu einer Art Manie geworden seien, daß er sie für sein Erbteil erachtet habe, das ihm von seinem Vater betrügerisch vorenthalten wurde, und daß er, obgleich durchaus nicht eigennützig, doch von diesen dreitausend Rubeln nicht habe reden können, ohne in Wut und Raserei zu geraten. Auf eine Frage über die Nebenbuhlerschaft der beiden »Personen«, wie sich der Staatsanwalt ausdrückte, das heißt Gruschenkas und Katjas, antwortete er ausweichend; auf eine oder zwei Fragen lehnte er die Antwort sogar ab.

»Hat Ihnen Ihr Bruder wenigstens gesagt, daß er seinen Vater töten wollte?« fragte der Staatsanwalt. »Sie können die Antwort verweigern, wenn Sie das für nötig halten«, fügte er hinzu.

»Direkt hat er es nicht gesagt«, antwortete Aljoscha.

»Wie denn? Indirekt?«

»Er hat mir gegenüber einmal von seinem persönlichen Haß auf den Vater gesprochen und gesagt, er fürchte, in einem besonders schlimmen Augenblick, in einem Augenblick des Ekels wäre er vielleicht imstande, ihn zu töten.«

»Und als Sie das hörten, haben Sie es geglaubt?«

»Ich muß zu meinem Schmerz sagen, daß ich es glaubte. Aber ich bin stets davon überzeugt gewesen, ein höheres Gefühl würde ihn in einem solchen verhängnisvollen Augenblick retten, wie es ihn ja auch tatsächlich gerettet hat — denn nicht er hat meinen Vater ermordet«, schloß Aljoscha mit fester, durch den ganzen Saal vernehmlicher Stimme.

Der Staatsanwalt zuckte zusammen wie ein Schlachtpferd, das ein Trompetensignal hört.

»Seien Sie versichert, daß ich durchaus an die Aufrichtigkeit Ihrer Überzeugung glaube und daß ich diese Ihre Überzeugung keineswegs nur als ein Produkt oder einen Ausfluß Ihrer Liebe zu ihrem unglücklichen Bruder betrachte. Ihre eigenartige Auffassung von dem ganzen tragischen Vorgang, der sich in Ihrer Familie abgespielt hat, ist uns schon aus der Voruntersuchung bekannt. Ich verhehle Ihnen nicht, daß diese Anschauung vereinzelt dasteht und allen übrigen Angaben, die der Staatsanwaltschaft gemacht worden sind, widerspricht. Und darum halte ich es für notwendig, Sie nunmehr mit allem Nachdruck zu fragen, durch welche Tatsachen Sie zu der endgültigen Überzeugung von der Unschuld Ihres Bruders und der Schuld einer anderen Person kamen, auf die Sie bei der Voruntersuchung hingewiesen haben.«

»Bei der Voruntersuchung habe ich nur auf die mir vorgelegten Fragen geantwortet«, sagte Aljoscha leise und ruhig. »Aber ich habe nicht selbst eine Beschuldigung gegen Smerdjakow ausgesprochen.«

»Aber Sie haben doch auf ihn hingewiesen?«

»Ich wies auf ihn hin auf Grund der Worte meines Bruders Dmitri. Es war mir schon vor meiner Vernehmung erzählt worden, was bei seiner Verhaftung geschehen war und wie er damals selbst auf Smerdjakow hingewiesen hatte. Ich glaube mit aller Bestimmtheit, daß mein Bruder unschuldig ist. Und wenn nicht er den Mord begangen hat … »

»So muß es Smerdjakow getan haben? Warum denn gerade Smerdjakow? Und warum sind Sie so fest von der Unschuld Ihres Bruders überzeugt?«

»Ich mußte meinem Bruder aus innerer Notwendigkeit glauben. Ich weiß, daß er mich nicht belügt. Ich habe an seinem Gesicht gesehen, daß er mich nicht belog.«

»Nur am Gesicht? Darin bestehen Ihre ganzen Beweise?«

»Andere Beweise habe ich nicht.«

»Und hinsichtlich der Schuld Smerdjakows stützen Sie sich ebenfalls auf keinen anderen Beweis als auf die Worte Ihres Bruders und den Ausdruck seines Gesichts?«

»Einen anderen Beweis habe ich in der Tat nicht.«

Damit brach der Staatsanwalt die Befragung ab. Aljoschas Antworten hatten beim Publikum große Enttäuschung hervorgerufen. Über Smerdjakow war bei uns schon vor der Gerichtsverhandlung viel geredet worden; irgend jemand hatte irgend etwas gehört, irgend jemand wies auf irgend etwas hin; von Aljoscha hieß es, er habe überaus starke Beweise zugunsten seines Bruders und für die Schuld des Dieners vorzulegen — und da brachte er nun rein gar nichts vor, keinerlei Beweise außer moralischen Überzeugungen, die bei ihm als dem Bruder des Angeklagten nur allzu natürlich waren.

Doch nun schaltete sich auch Fetjukowitsch ein. Bei der Antwort auf die Frage, wann der Angeklagte mit ihm, Aljoscha, über seinen Haß auf den Vater gesprochen und angedeutet habe, daß er ihn vielleicht einmal totschlagen würde, und was er von ihm bei ihrem letzten Zusammensein vor der Katastrophe gehört habe, fuhr Aljoscha plötzlich zusammen, als ob er sich erst jetzt an etwas erinnerte.

»Ich erinnere mich jetzt an einen Umstand, den ich beinahe ganz vergessen hatte; damals war er mir ganz unverständlich, doch jetzt …«

Und Aljoscha erzählte mit größtem Eifer, an dem man sah, daß er wirklich eben erst auf diesen Gedanken gekommen war, wie sich Mitja bei ihrem letzten Zusammensein am Abend, auf dem Weg zum Kloster, an die Brust, »an den oberen Teil der Brust«, geschlagen und mehrmals wiederholt habe, er besitze ein Mittel, um seine Ehre wiederherzustellen; dieses Mittel befinde sich hier, hier auf seiner Brust … »Ich dachte damals, er spräche von seinem Herzen«, fuhr Aljoscha fort. »Daß er in seinem Herzen die Kraft finden könnte, einer schrecklichen Schmach zu entgehen, die er nicht einmal mir zu bekennen wagte. Ich muß gestehen, ich dachte damals, er rede vom Vater und zittere wie vor einer Schmach bei dem Gedanken, zu ihm zu gehen und ihm Gewalt anzutun; und doch schien er damals auf etwas auf seiner Brust hinzuweisen, so daß mir, wie ich mich erinnere, gleich der Gedanke durch den Kopf ging, daß ja das Herz gar nicht an jener Stelle der Brust sitzt, sondern niedriger, während er sich viel höher, hier, gleich unter dem Hals an die Brust schlug und immer auf diesen Fleck deutete. Mein Gedanke kam mir damals dumm vor — aber er hat vielleicht gerade auf das Säckchen gezeigt, in dem diese fünfzehnhundert Rubel eingenäht waren?«

»Ganz richtig!« rief Mitja auf einmal. »So war es, Aljoscha! So war es! Ich schlug damals mit der Faust an das Säckchen.«

Fetjukowitsch stürzte eilig zu ihm hin, flehte ihn an, sich zu beruhigen, und krallte sich im Nu mit seinen Fragen an Aljoscha fest. Aljoscha, durch seine Erinnerung selbst ganz hingerissen, sprach mit Feuereifer seine Vermutung aus, die Schmach habe höchstwahrscheinlich darin bestanden, daß er, obgleich er die fünfzehnhundert Rubel bei sich trug und sie Katerina Iwanowna hätte zurückgeben können, sich dennoch entschlossen hatte, ihr diese Hälfte nicht zurückzugeben, sondern zu einem anderen Zweck zu verwenden, das heißt zur Entführung Gruschenkas, wenn diese damit einverstanden war …

»So war es, genauso war es!« rief Aljoscha in lebhafter Erregung. »Genau das rief mir mein Bruder damals zu! Er könne die Hälfte, die Hälfte der Schmach, er wiederholte mehrmals: die Hälfte, sofort loswerden, sei aber durch die Schwäche seines Charakters so unglücklich, daß er es nicht tun werde … Er wisse im voraus, daß er es nicht könne und nicht die Kraft habe, es zu tun!«

»Und Sie erinnern sich bestimmt, daß er sich gerade auf diese Stelle der Brust schlug?« fragte Fetjukowitsch eifrig.

»Ja, daran erinnere ich mich bestimmt. Gerade weil mir damals der Gedanke kam: Warum schlägt er denn so hoch, das Herz sitzt doch tiefer! Und weil mir dieser Gedanke damals dumm erschien … Ich erinnere mich genau, daß er mir dumm erschien … Das ist auch der Grund, weshalb ich mich erst jetzt eben daran erinnert habe! Wie habe ich das nur bisher vergessen können! Eben auf dieses Säckchen wies er hin, als wollte er sagen, er besitze zwar die Mittel, werde die fünfzehnhundert Rubel jedoch nicht zurückgeben! Und ich weiß auch, es ist mir berichtet worden: Auch bei seiner Verhaftung in Mokroje hat er ausgerufen, er halte es für die schmählichste Tat seines Lebens, daß er, obgleich er die Mittel gehabt habe, die Hälfte seiner Schuld — jawohl, die Hälfte! — an Katerina Iwanowna zurückzugeben und nicht mehr als Dieb vor ihr dazustehen, sich trotzdem nicht zur Rückgabe entschlossen und in ihren Augen lieber habe ein Dieb bleiben wollen, als sich von dem Geld trennen! Aber wie hat er sich gequält, wie hat er sich gequält wegen dieser Schuld!« rief Aljoscha am Schluß seiner Aussage.

Selbstverständlich mischte sich auch der Staatsanwalt ein. Er ersuchte Aljoscha, noch einmal zu schildern, wie sich das alles zugetragen hatte, und fragte dann mehrmals beharrlich, ob es ihm wirklich so vorgekommen sei, als ob der Angeklagte auf etwas hinwies. Vielleicht habe er sich einfach mit der Faust an die Brust geschlagen?

»Er schlug gar nicht mit der Faust«, rief Aljoscha. »Er zeigte mit den Fingern, und zwar sehr weit oben … Wie konnte ich das nur bis jetzt so völlig vergessen!«

Der Präsident wandte sich an Mitja mit der Frage, was er zu der soeben abgegebenen Aussage zu bemerken habe. Mitja bestätigte, daß alles genauso gewesen sei: Er habe wirklich auf seine fünfzehnhundert Rubel hingewiesen, die er auf der Brust getragen habe, gleich unter dem Hals. Das sei allerdings eine Schmach gewesen. »Eine Schmach, die ich nicht ableugne! Die schmählichste Handlung meines ganzen Lebens!« rief Mitja aus. »Ich hatte die Wahl, es zurückzugeben oder nicht. Ich zog es vor, in ihren Augen ein Dieb zu bleiben, und gab es nicht zurück. Die größte Schmach aber bestand darin, daß ich vorher wußte, ich würde es nicht zurückgeben! Aljoscha hat recht! Ich danke dir, Aljoscha!«

Damit war Aljoschas Vernehmung beendet. Wichtig war der Umstand, daß sich wenigstens eine Tatsache gefunden hatte, die — wenn auch nur als ganz schwacher Beweis, fast nur als Andeutung eines Beweises — doch immerhin ein wenig bezeugte, daß dieses Säckchen mit den fünfzehnhundert Rubeln darin tatsächlich existiert und daß der Angeklagte bei der Voruntersuchung in Mokroje nicht gelogen hatte. Aljoscha war froh; vor Erregung ganz rot im Gesicht, setzte er sich auf den ihm angewiesenen Platz. Noch lange sagte er sich immer wieder im stillen: ‚Daß ich das vergessen hatte! Wie habe ich das nur vergessen können? Und daß es mir so plötzlich erst jetzt eingefallen ist!‘

Es begann die Vernehmung Katerina Iwanownas. Bei ihrem Erscheinen ging im Saal etwas Ungewöhnliches vor. Die Damen griffen zu ihren Lorgnetten und Operngläsern; die Männer gerieten in Bewegung, und manche standen von ihren Plätzen auf, um besser sehen zu können. Alle versicherten später, Mitja sei, als sie eintrat, auf einmal »bleich wie Leinwand« geworden. Ganz in Schwarz gekleidet, ging sie bescheiden und beinahe schüchtern zu dem ihr angewiesenen Platz. Ihrer Miene war nicht anzusehen, daß sie erregt war; doch in ihrem dunklen, finsteren Blick lag eine feste Entschlossenheit. Es muß vermerkt werden, daß später viele versicherten, sie sei in diesem Augenblick wunderschön gewesen. Sie sprach leise, aber dennoch so deutlich, daß man sie im ganzen Saal verstehen konnte. Sie drückte sich außerordentlich ruhig aus oder bemühte sich wenigstens, ruhig zu sein. Der Präsident stellte seine Fragen vorsichtig und außerordentlich respektvoll, als scheute er sich, »gewisse Saiten« zu berühren. Doch Katerina Iwanowna erklärte gleich auf eine der ersten ihr vorgelegten Fragen selbst mit aller Entschiedenheit, sie sei die verlobte Braut des Angeklagten gewesen, »so lange, bis er selbst mich verlassen hat …«. Nach den dreitausend Rubeln befragt, die sie Mitja zur Übersendung an ihre Verwandten anvertraut hatte, antwortete sie mit fester Stimme: »Ich habe sie ihm nicht direkt für die Post gegeben. Ich ahnte damals, daß er dringend Geld brauchte … Ich gab ihm diese dreitausend Rubel, damit er sie, wenn er wollte, etwa innerhalb eines Monats absandte … Ohne Grund hat er sich später wegen dieses Geldes so gequält.«

Ich werde nicht alle Fragen und Antworten genau wiedergeben, sondern nur den wesentlichen Sinn ihrer Aussagen.

»Ich war fest davon überzeugt, daß er immer noch Zeit finden würde, die dreitausend Rubel abzusenden«, fuhr sie auf die ihr vorgelegten Fragen fort, »sobald er von seinem Vater Geld erhalten hätte. Ich war immer von seiner Uneigennützigkeit und Ehrenhaftigkeit überzeugt … Er war sich dessen sicher, daß er von seinem Vater dreitausend Rubel erhalten würde; er hat mir gegenüber mehrmals davon gesprochen. Ich wußte, daß er mit seinem Vater Streit hatte, und glaubte und glaube auch heute noch, daß er von seinem Vater übervorteilt worden war. Ich erinnere mich nicht an irgendwelche Drohungen gegen seinen Vater. In meiner Gegenwart wenigstens hat er niemals solche Drohungen ausgestoßen. Wäre er damals zu mir gekommen, hätte ich seine Unruhe wegen dieser unseligen dreitausend Rubel sofort beschwichtigt, aber er kam nicht mehr zu mir … Ich selbst aber … Ich war in so eine Lage gekommen, daß es mir nicht möglich war, ihn zu mir zu bitten … Und ich hatte auch gar kein Recht, die Rückzahlung dieser Schuld ungeduldig von ihm zu verlangen!« fügte sie plötzlich hinzu, und ihrer Stimme war eine feste Entschlossenheit anzuhören. »Denn er hat mir selbst einmal eine weit höhere finanzielle Gefälligkeit erwiesen, und ich habe sie angenommen, obwohl ich damals noch nicht absehen konnte, ob ich jemals imstande sein würde, ihm meine Schuld zurückzuzahlen …«

Im Tonfall ihrer Stimme schien etwas Herausforderndes zu liegen. In diesem Augenblick ging die Aufgabe, Fragen zu stellen, an Fetjukowitsch über.

»Das war wohl schon zu Beginn Ihrer Bekanntschaft, noch ehe Sie hierherzogen?« nahm Fetjukowitsch vorsichtig tastend das Wort; er ahnte sofort etwas Günstiges. Ich muß an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung einfügen. Obgleich er von Katerina Iwanowna selbst aus Petersburg hergebeten worden war, wußte er dennoch nichts von dem Vorgang mit den fünftausend Rubeln, die Mitja ihr einst gegeben hatte — also auch nichts von der tiefen Verbeugung. Sie hatte es vor ihm geheimgehalten; das war erstaunlich. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß sie selbst bis zum letzten Augenblick nicht gewußt hatte, ob sie davon vor Gericht erzählen würde oder nicht.

Ich werde diese Augenblicke niemals vergessen! Sie erzählte alles, diesen ganzen Vorgang, den Mitja seinem Bruder Aljoscha berichtet hatte, auch von der tiefen Verbeugung, auch von den Ursachen, auch von der Notlage ihres Vaters, auch von ihrem Besuch bei Mitja — doch mit keinem Wort, mit keiner Andeutung erwähnte sie, daß Mitja durch ihre Schwester selbst den Vorschlag gemacht hatte, sie möchten Katerina Iwanowna zu ihm schicken, um das Geld abzuholen. Das verheimlichte sie großmütig, und sie schämte sich nicht, es so darzustellen, als sei sie damals aus eigenem Antrieb zu dem jungen Offizier gegangen, um ihn in der Hoffnung auf Hilfe um Geld zu bitten. Diese Erzählung hatte etwas Erschütterndes. Ein kaltes Zittern überlief mich beim Zuhören; der Saal war totenstill und fing jedes Wort auf. Was man da hörte, war ohne Beispiel. Selbst von einem selbstbewußten und hochmütig-stolzen Mädchen wie ihr hatte man so eine erstaunliche offenherzige Aussage, ein solches Opfer, eine solche Selbstvernichtung unmöglich erwarten können. Und wozu? Für wen? Um den zu retten, der ihr treulos geworden war und sie tief gekränkt hatte, um wenigstens eine Kleinigkeit zu seiner Rettung beizutragen, indem sie eine Tat von ihm erzählte, die einen guten Eindruck machte! Und wirklich: das Bild eines Offiziers, der alles, was ihm im Leben geblieben ist, seine letzten fünftausend Rubel, hingibt und sich ehrerbietig vor einem unschuldigen Mädchen verneigt, dieses Bild wirkte sehr sympathisch und anziehend, aber … Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Ich hatte das Gefühl, daß daraus später eine arge Verleumdung entstehen würde — und die ist dann auch entstanden. Mit boshaftem Lachen erzählte man später in der ganzen Stadt, die Erzählung sei vielleicht nicht ganz genau, nämlich an der Stelle, wo der Offizier das junge Mädchen angeblich nur mit einer respektvollen Verbeugung entlassen habe. Man deutete an, hier sei womöglich etwas ausgelassen. »Doch auch wenn nichts ausgelassen wäre, wenn sich alles wirklich so zugetragen hätte«, sagten sogar unsere geachtetsten Damen, »bliebe dahingestellt, ob das für ein junges Mädchen eine anständige Handlungsweise war, selbst wenn es sich um die Rettung des Vaters handelte.« Hatte Katerina Iwanowna bei ihrem Verstand, bei ihrem ungewöhnlichen Scharfblick etwa wirklich nicht vorhergesehen, daß die Leute so reden würden? Unzweifelhaft hatte sie es vorhergesehen und sich trotzdem entschlossen, alles zu sagen … Selbstverständlich tauchten alle diese unsauberen Zweifel an der Wahrheit ihrer Erzählung erst später auf; im ersten Augenblick waren alle erschüttert. Die Mitglieder des Gerichtes hörten Katerina Iwanowna mit ehrerbietigem, ja fast verschämtem Schweigen zu. Der Staatsanwalt erlaubte sich keine einzige weitere Frage über diesen Gegenstand. Fetjukowitsch machte ihr eine tiefe Verbeugung. Oh, er triumphierte beinahe. Viel war gewonnen: Ein Mensch, der in einem edlen Gefühl seine letzten fünftausend Rubel hingibt und dann derselbe Mensch, der seinen Vater bei Nacht ermordet, um ihm dreitausend Rubel zu rauben: das war denn doch unvereinbar. Wenigstens die Anklage wegen Raubes konnte Fetjukowitsch jetzt als erledigt betrachten. Ein ganz neues Licht hatte sich auf einmal über den »Fall« ergossen; eine gewisse Sympathie für Mitja regte sich. Er jedoch … Von ihm erzählte man, er sei während Katerina Iwanownas Aussage ein- oder zweimal von seinem Platz aufgesprungen, habe sich dann wieder auf die Bank zurücksinken lassen und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt. Als sie geendet hatte, rief er plötzlich, die Arme nach ihr ausstreckend: »Katja, warum hast du mich zugrunde gerichtet?«

Er schluchzte so laut, daß es durch den ganzen Saal zu hören war. Allerdings gewann er sehr schnell die Herrschaft über sich zurück und rief wieder: »Jetzt bin ich verurteilt!«

Dann aber biß er die Zähne zusammen, kreuzte die Arme über der Brust und schien in dieser Stellung auf seinem Platz zu erstarren. Katerina Iwanowna blieb im Saal und setzte sich auf den ihr angewiesenen Stuhl; sie war blaß und saß mit gesenktem Kopf da. Diejenigen, die sich in ihrer Nähe befanden, erzählten später, sie habe noch lange Zeit wie im Fieber gezittert.

Nach ihr erschien Gruschenka, um vernommen zu werden.

Ich nähere mich jetzt der Katastrophe, die plötzlich hereinbrach und Mitja vielleicht tatsächlich zugrunde richtete. Denn ich bin überzeugt, und das sagten nachher auch alle anderen, auch alle Juristen. Wäre dieser Vorfall nicht eingetreten, hätte man dem Verbrecher mindestens mildernde Umstände zugebilligt. Aber davon gleich; zuvor nur noch einige Worte über Gruschenka. Sie erschien im Saal ebenfalls ganz in Schwarz, mit ihrem schönen schwarzen Schal um die Schultern. Mit ihrem leichten, unhörbaren Gang, sich ein wenig hin und her wiegend, wie etwas volle Frauen manchmal gehen, näherte sie sich der Balustrade, wobei sie unverwandt zum Präsidenten und nicht einen Moment nach rechts oder links schaute. Meiner Ansicht nach war sie in diesem Augenblick sehr schön und durchaus nicht blaß, wie später die Damen behaupteten. Sie behaupteten auch, sie habe ein verschlossenes, böses Gesicht gemacht. Ich glaube nur, daß sie in gereizter Stimmung war und die auf sie gerichteten verächtlichen, neugierigen Blicke unseres skandalsüchtigen Publikums als peinlich empfand. Sie war ein stolzer Charakter, der keine Verachtung ertrug und sogleich in Zorn und Rachsucht verfiel, sobald er nur von irgendeiner Seite Verachtung argwöhnte. Mit diesen Gefühlen vereinigte sich allerdings auch Schüchternheit und eine innere Scham über diese Schüchternheit, so daß es nicht zu verwundern war, wenn sich ihre Redeweise verschieden ausnahm: Bald war sie zornig, bald verächtlich und absichtlich grob, bald schwang wieder ein aufrichtiger, herzlicher Ton der Selbstanklage mit. Manchmal redete sie so, als ob sie sich in

einen Abgrund stürzte und dabei dachte: ‚Einerlei, mag kommen, was da will — ich werde es trotzdem sagen!‘ Über ihre Bekanntschaft mit Fjodor Pawlowitsch bemerkte sie in scharfem Ton: »Das ist alles nur dummes Zeug! Was kann ich denn dafür, daß er sich in mich vernarrt hatte!« Doch einen Augenblick darauf fügte sie hinzu: »Ich bin an allem schuld. Ich habe mich über sie beide lustig gemacht, über den Alten und über den da, und habe sie beide ins Unglück gebracht. Um meinetwillen ist alles geschehen.« Irgendwie kam die Rede auch auf Samsonow. »Wen geht das etwas an?« sagte sie sogleich bissig und herausfordernd. »Er war mein Wohltäter, er hat sich meiner angenommen, als meine Angehörigen mich ohne Strümpfe und Schuhe aus dem Haus trieben!« Der Präsident machte sie, übrigens in sehr höflicher Form, darauf aufmerksam, sie möchte nur auf die Fragen antworten, ohne sich in überflüssigen Einzelheiten zu ergehen. Gruschenka errötete, und ihre Augen funkelten.

Das Kuvert mit dem Geld hatte sie nicht gesehen; sie hatte nur von dem »Missetäter« gehört, daß bei Fjodor Pawlowitsch ein Kuvert mit dreitausend Rubeln bereitliege. »Aber das sind alles Dummheiten. Ich habe darüber gelacht und wäre um keinen Preis hingegangen.«

»Wen meinten Sie eben, als Sie von dem ‚Missetäter‘ sprachen?« erkundigte sich der Staatsanwalt.

»Den Diener. Diesen Smerdjakow, der seinen Herrn ermordet und sich gestern aufgehängt hat.«

Natürlich fragte man sie sofort, welche Gründe sie für eine so entschiedene Beschuldigung habe; es stellte sich jedoch heraus, daß auch sie keine anzuführen wußte.

»Das hat mir Dmitri Fjodorowitsch gesagt, und ihm können Sie glauben. Eine Person, die es darauf anlegte, Zwietracht zu stiften, hat ihn zugrunde gerichtet. So steht die Sache … Sie allein ist an allem schuld!« fügte sie, am ganzen Körper vor Haß zitternd, hinzu, und ihre Stimme hatte einen boshaften Klang.

Man erkundigte sich, wer nun wieder damit gemeint sei.

»Das Fräulein da, diese Katerina Iwanowna! Sie lud mich damals zu sich ein, setzte mir Schokolade vor und wollte mich durch Liebenswürdigkeit gewinnen. Sie besitzt kein wahres Schamgefühl, so steht die Sache …«

Hier unterbrach sie der Präsident, und zwar nunmehr in strengem Ton, und ersuchte sie, sich in ihren Ausdrücken zu mäßigen. Aber ihr eifersüchtiges Herz stand schon in Flammen; sie war bereit, sich in den Abgrund zu stürzen.

»Bei der Verhaftung in dem Dorf Mokroje«, erinnerte sie der Staatsanwalt, um dann eine Frage daran anzuknüpfen, »haben alle gesehen und gehört, wie Sie aus dem anderen Zimmer hereinkamen und riefen: ‚Ich bin an allem schuld, ich will mit zur Zwangsarbeit gehen!‘ Also waren auch Sie bereits in jenem Augenblick überzeugt, daß er der Mörder seines Vaters war?«

»Ich erinnere mich nicht an meine damaligen Gefühle«, antwortete Gruschenka. »Alle schrien damals, er habe seinen Vater totgeschlagen, und da sagte ich mir, daß ich schuld sei und er ihn um meinetwillen totgeschlagen habe. Doch als er erklärte, daß er unschuldig sei, habe ich es ihm sofort geglaubt. Und ich glaube es auch jetzt und werde es immer glauben! Lügen widerspricht seinem ganzen Wesen.«

Nun war Fetjukowitsch an der Reihe, sie zu fragen. Er fragte sie, wie ich mich erinnere, unter anderem nach Rakitin und den fünfundzwanzig Rubeln Belohnung, falls er Alexej Fjodorowitsch Karamasow zu ihr brachte.

»Was ist denn erstaunlich daran, daß er das Geld nahm?« antwortete Gruschenka mit einem verächtlichen, boshaften Lächeln. »Er ist ja ständig zu mir gekommen und hat um Geld gebettelt. Manchen Monat hat er dreißig Rubel ergattert, die er meist für unnütze Dinge ausgab. Zu essen und zu trinken hatte er auch ohne meine Beihilfe.«

»Aus welchem Grund waren Sie denn so freigebig gegen Herrn Rakitin?« fragte Fetjukowitsch weiter, obwohl sich der Präsident auf seinem Sitz unruhig hin und her bewegte.

»Er ist doch mein Vetter. Meine Mutter und seine Mutter sind Schwestern. Er hat mich nur immer dringend gebeten, niemandem etwas davon zu sagen. Er schämte sich meiner wohl zu sehr.«

Diese neue Tatsache war für alle eine Überraschung; bis dahin hatte in der ganzen Stadt, selbst im Kloster, niemand etwas davon gewußt, nicht einmal Mitja. Es wurde erzählt, Rakitin sei auf seinem Stuhl dunkelrot geworden. Gruschenka hatte noch vor ihrem Eintritt in den Saal irgendwie erfahren, daß er gegen Mitja ausgesagt hatte, und war daher wütend auf ihn geworden. Rakitins vorangegangene Rede mit all ihrer edlen Gesinnung und all ihren Tiraden über die Leibeigenschaft und die soziale Unordnung Rußlands war in der allgemeinen Meinung vorerst endgültig abgetan und erledigt. Fetjukowitsch war zufrieden; wieder hatte ihm Gott eine unerwartete Gabe gesandt. Gruschenka wurde nicht sehr lange vernommen; allerdings konnte sie auch nichts besonders Neues mitteilen. Im Publikum hinterließ sie einen sehr ungünstigen Eindruck. Hunderte von verächtlichen Blicken richteten sich auf sie, als sie nach ihrer Aussage ziemlich weit von Katerina Iwanowna entfernt im Saal Platz nahm. Die ganze Zeit, während sie befragt wurde, hatte Mitja stumm und wie versteinert dagesessen und auf den Boden gestarrt.

Nun erschien als Zeuge Iwan Fjodorowitsch.