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2. Gefährliche Zeugen

Ich weiß nicht, ob der Präsident die Zeugen des Staatsanwalts und der Verteidigung irgendwie in Gruppen eingeteilt hatte und in welcher Reihenfolge er sie eigentlich aufzurufen wünschte. Wahrscheinlich war das alles genau geregelt. Ich weiß nur, daß zuerst die Zeugen des Staatsanwalts aufgerufen wurden. Ich wiederhole, es liegt nicht in meiner Absicht, alle Vernehmungen Schritt für Schritt zu schildern. Außerdem würde sich meine Schilderung zum Teil als überflüssig herausstellen, da in den Plädoyers des Staatsanwalts und des Verteidigers Gang und Sinn aller abgegebenen Aussagen gleichsam unter einem Gesichtspunkt zusammengefaßt und neu beleuchtet wurden; ich habe wenigstens einzelne Partien dieser beachtenswerten Reden vollständig nachgeschrieben und werde sie zu gegebener Zeit wiedergeben — ebenso einen ungewöhnlichen und ganz unerwarteten Zwischenfall, der sich noch vor den Plädoyers abspielte und unzweifelhaft zu dem furchtbaren, verhängnisvollen Ausgang des Prozesses beitrug. Ich vermerke nur, daß gleich von den ersten Momenten der Verhandlung an eine charakteristische Eigenschaft dieses Prozesses deutlich hervortrat, nämlich die außerordentliche Wucht der Anklage im Vergleich zu den Mitteln, über die die Verteidigung verfügte. Das begriffen alle im ersten Augenblick, als man in diesem Gerichtssaal anfing, die Tatsachen zusammenzustellen und zu gruppieren, und diese ganze schreckliche Bluttat allmählich deutlicher hervortrat. Vielleicht kamen alle schon in den ersten Stadien der Verhandlung zu der Überzeugung, daß hier überhaupt kein Streit möglich war, daß die Sache keinem Zweifel unterlag und gar keine Plädoyers nötig waren, daß sie nur der Form halber gehalten werden mußten: daß der Angeklagte mit Sicherheit schuldig war. Ich glaube sogar, daß auch alle Damen ausnahmslos von seiner Schuld überzeugt waren, obwohl sie so leidenschaftlich die Freisprechung des interessanten Angeklagten wünschten. Ja noch mehr: Mir scheint, sie wären sogar betrübt gewesen, wenn sich seine Schuld nicht bestätigt hätte, weil dann sein Freispruch keine so effektvolle Lösung des Knotens gewesen wäre. Daß er jedoch freigesprochen werden würde, dessen waren sich merkwürdigerweise alle Damen fast bis zum letzten Augenblick sicher. »Er ist schuldig«, meinten sie, »aber man wird ihn freisprechen aus Humanität, auf Grund der neuen Ideen, die jetzt aufgekommen sind« — und so weiter und so fort. Eben deshalb waren sie ja mit solchem Eifer zur Verhandlung gelaufen. Die Männer dagegen interessierten sich besonders für den Kampf zwischen dem Staatsanwalt und dem berühmten Fetjukowitsch. Alle fragten sich verwundert: Was kann selbst ein Talent wie Fetjukowitsch aus so einer verlorenen Sache, aus so einem ausgegessenen Ei machen? Und darum verfolgten sie sein Vorgehen Schritt für Schritt mit gespannter Aufmerksamkeit. Fetjukowitsch aber blieb bis zuletzt, bis zu seiner Rede, für alle ein Rätsel. Erfahrene Leute vermuteten, daß er eine bestimmte Methode befolgte, daß er sich schon einen Plan zurechtgelegt hatte und auf ein Ziel zusteuerte — doch was das für ein Ziel war, blieb dunkel. Seine Zuversichtlichkeit aber und sein Selbstvertrauen fielen jedem auf. Außerdem nahmen alle mit Vergnügen wahr, daß er während seines kurzen, etwa dreitägigen Aufenthalts bei uns auf erstaunliche Weise bis in die feinsten Feinheiten der Prozeßsache eingedrungen war. Mit Genuß erzählte man zum Beispiel später, wie er es verstanden hatte, alle Zeugen des Staatsanwalts zur rechten Zeit »hineinzulegen«, sie nach Möglichkeit zu verwirren, vor allem aber ihren moralischen Ruf zu beflecken und dadurch auch den Wert ihrer Aussage herabzumindern. Man nahm übrigens an, daß er das in der Hauptsache nur so zum Spiel tat, sozusagen um des juristischen Glanzes willen, damit nichts von den üblichen Advokatenkniffen vergessen wurde; denn alle waren davon überzeugt, daß er einen entscheidenden Nutzen durch alle diese »Befleckungen« nicht erzielen konnte und daß er das wahrscheinlich selbst am allerbesten einsah, daß er aber eine eigene Idee in Reserve hatte, irgendeine vorläufig noch verborgene Verteidigungswaffe, die er zum rechten Zeitpunkt plötzlich hervorholen würde. Einstweilen schien er jedoch im Bewußtsein seiner Kraft zu spielen und Mutwillen zu treiben. Als zum Beispiel Fjodor Pawlowitschs ehemaliger Diener Grigori Wassiljewitsch vernommen wurde, der die besonders belastende Aussage über die offene Tür machte, da krallte sich der Verteidiger geradezu an ihm fest, als er mit seinen Fragen an die Reihe kam. Grigori Wassiljewitsch war mit ruhiger und beinahe stolzer Miene in den Saal getreten, ohne sich im geringsten verwirren zu lassen, weder durch die Feierlichkeit des Gerichts noch durch die Anwesenheit des gewaltigen zuhörenden Publikums. Er machte seine Aussagen in so sicherem Ton, als ob er unter vier Augen mit seiner Marfa Ignatjewna spräche, nur sprach er respektvoller. Ihn verwirren zu wollen war ein Ding der Unmöglichkeit. Zuerst befragte ihn der Staatsanwalt lange über alle möglichen Einzelheiten, die sich auf die Familie Karamasow bezogen. Das Bild dieses Familienlebens wurde sehr deutlich sichtbar, und man hörte und sah, daß der Zeuge aufrichtig und unparteiisch war. Bei allem tiefen Respekt vor dem Andenken seines ehemaligen Herrn erklärte er zum Beispiel doch, dieser sei zu Mitja ungerecht gewesen und habe »für das Aufwachsen seiner Kinder nicht so gesorgt, wie es sich gehörte«. — »Als der noch ein kleiner Junge war, hätten ihn ohne mich die Läuse aufgefressen«, fügte er, über Mitjas Kinderjahre berichtend, hinzu. »Auch gehörte es sich nicht, wie der Vater den Sohn übers Ohr haute, was das Gut betraf, das dieser von seiner Mutter geerbt hatte.« Auf die Frage des Staatsanwalts, worauf er sich bei der Behauptung stütze, daß Fjodor Pawlowitsch hinsichtlich des Erbteils seinen Sohn benachteiligt habe, brachte er zur allgemeinen Verwunderung keinerlei begründende Tatsachen vor, sondern blieb nur dabei, die Abrechnung mit dem Sohn über das Erbteil sei »ungerecht« gewesen: Ihm hätten noch einige tausend Rubel ausgezahlt werden müssen. Ich vermerke bei dieser Gelegenheit, daß der Staatsanwalt die Frage, ob Fjodor Pawlowitsch seinem Sohn Mitja noch etwas schuldete, mit besonderer Hartnäckigkeit später auch allen anderen Zeugen vorlegte, Aljoscha und Iwan Fjodorowitsch nicht ausgenommen. Allerdings erhielt er von keinem Zeugen eine genaue Auskunft; alle behaupteten die Tatsache, ohne daß einer von ihnen einen Beweis hätte anführen können. Als Grigori die Szene bei Tisch beschrieb, da Dmitri Fjodorowitsch hereingestürmt war, seinen Vater geschlagen und gedroht hatte, er werde wiederkommen und ihn totschlagen, machte das im Saal einen tiefen Eindruck, zumal der alte Diener ruhig und ohne überflüssige Worte in seiner eigenartigen Sprache erzählte, was stärker wirkte als die größte Redekunst. Zu der Mißhandlung, die ihm Mitja zugefügt hatte, indem er ihn ins Gesicht schlug und zu Boden warf, bemerkte er, er trage ihm das nicht nach und habe es ihm längst verziehen. Über den verstorbenen Smerdjakow äußerte er, der Bursche habe gute Fähigkeiten besessen, sei aber dumm und durch seine Krankheit beeinträchtigt gewesen, vor allem aber gottlos: Die Gottlosigkeit hätten ihn Fjodor Pawlowitsch und dessen Sohn Iwan gelehrt. Doch für Smerdjakows Ehrlichkeit trat er mit großer Wärme ein; er erzählte sogleich, wie Smerdjakow einmal eine Summe Geldes gefunden, sie aber nicht etwa heimlich behalten, sondern dem Herrn gebracht habe. Dieser habe ihm dafür ein Goldstück als Belohnung gegeben und ihm seitdem das größte Vertrauen geschenkt. Daß die Tür zum Garten offengestanden habe, versicherte er hartnäckig und beharrlich. Übrigens wurden ihm so viele Fragen vorgelegt, daß ich nicht alle habe behalten können. Endlich kam die Reihe an den Verteidiger. Er erkundigte sich zunächst nach dem Kuvert, in dem Fjodor Pawlowitsch »angeblich« dreitausend Rubel für »eine gewisse Person« versteckt hatte. »Haben Sie es selbst gesehen, Sie, der Sie Ihrem Herrn so viele Jahre nahegestanden haben?« Grigori antwortete, er habe es nicht gesehen und habe überhaupt von niemandem etwas über dieses Geld gehört »bis auf diese letzte Zeit, wo alle davon reden«. Die Frage nach dem Kuvert legte Fetjukowitsch seinerseits ebenfalls allen Zeugen mit derselben Hartnäckigkeit vor wie vorher der Staatsanwalt seine Frage nach der Erbschaft; er bekam von allen ebenfalls nur die eine Antwort, daß niemand das Kuvert gesehen habe, obgleich viele davon gehört hatten. Die Hartnäckigkeit, mit der der Verteidiger diese Frage wiederholte, fiel gleich am Anfang auf.

»Darf ich mich jetzt, wenn Sie erlauben, an Sie mit der Frage wenden«, fragte Fetjukowitsch plötzlich und ganz unerwartet, »woraus der Balsam oder, besser, der Aufguß bestand, mit dem Sie, wie aus der Voruntersuchung bekannt ist, an jenem Abend vor dem Schlafengehen Ihr schmerzendes Kreuz einrieben, in der Hoffnung, sich dadurch zu kurieren?«

Grigori blickte den Verteidiger verständnislos an und murmelte nach kurzem Stillschweigen. »Da war Salbei drin.«

»Nur Salbei? Erinnern Sie sich nicht an noch etwas?«

»Wegerich war auch drin.«

»Vielleicht auch Pfeffer?« erkundigte sich Fetjukowitsch interessiert.

»Ja, auch Pfeffer.«

»Und so weiter. Und das alles in Branntwein?«

»In Spiritus.«

Im Saal wurde ein klein wenig gelacht.

»Sehen Sie mal, sogar in Spiritus. Und nachdem Sie sich den Rücken eingerieben hatten, haben Sie zu einem gewissen frommen Gebet, das nur Ihrer Gattin bekannt ist, den Rest ausgetrunken, — nicht wahr?«

»Ja.«

»War es noch viel? Wieviel ungefähr? Ein Schnapsgläschen oder zwei?«

»Es mag etwa ein Wasserglas voll gewesen sein.«

»Sogar ein Wasserglas voll! Vielleicht auch anderthalb Wassergläser?«

Grigori schwieg; er schien etwas zu ahnen.

»Anderthalb Wassergläser reiner Spiritus — das ist nicht übel, meinen Sie nicht auch? Da kann man sogar die Pforten des Paradieses offen sehen — nicht nur eine Tür zum Garten.«

Grigori schwieg immer noch. Wieder ertönte leises Lachen im Saal; der Präsident wurde etwas unruhig.

»Wissen Sie genau«, setzte ihm Fetjukowitsch weiter zu, »ob Sie in dem Augenblick, als Sie die Tür zum Garten offenstehen sahen, schliefen oder nicht?«

»Ich stand ja doch auf meinen Füßen.«

»Das ist noch kein Beweis dafür, daß Sie nicht schliefen.« Wieder leises Lachen im Saal. »Hätten Sie zum Beispiel in dem Moment antworten können, wenn jemand Sie etwas gefragt hätte — zum Beispiel, welches Jahr wir jetzt haben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was haben wir denn jetzt für ein Jahr unserer Zeitrechnung, nach Christi Geburt? Wissen Sie das nicht?«

Grigori stand fassungslos da und starrte den Verteidiger an. Merkwürdigerweise machte es den Eindruck, als wüßte er wirklich nicht, was wir für ein Jahr haben.

»Vielleicht wissen Sie aber, wieviel Finger Sie an den Händen haben?«

»Ich bin ein unfreier Mensch«, sagte Grigori plötzlich laut und deutlich. »Wenn es der Obrigkeit beliebt, sich über mich lustig zu machen, muß ich das ertragen.«

Fetjukowitsch schien diese Antwort ein wenig stutzig zu machen; doch auch der Präsident griff ein und machte den Verteidiger belehrend darauf aufmerksam, er möchte mehr Fragen zur Sache stellen. Fetjukowitsch hörte das an, verbeugte sich mit Würde und erklärte, daß er mit seinen Fragen fertig sei. Natürlich konnte beim Publikum wie auch bei den Geschworenen ein kleines Würmchen des Zweifels an der Aussage eines Menschen zurückgeblieben sein, der in einem allbekannten Zustand seiner Kur die Möglichkeit gehabt hatte, »die Pforten des Paradieses zu sehen«, und der außerdem nicht einmal wußte, welches Jahr nach Christi Geburt wir jetzt haben. Bevor Grigori abtrat, gab es noch einen Zwischenfall. An den Angeklagten gewandt, fragte der Präsident, ob er zu den Aussagen etwas zu bemerken habe.

»Bis auf das mit der Tür hat er in allem die Wahrheit gesagt«, rief Mitja laut. »Daß er mir die Läuse ausgekämmt hat, dafür danke ich ihm. Daß er mir die Mißhandlung verziehen hat, dafür danke ich ihm. Der alte Mann war sein Leben lang ehrenhaft und meinem Vater treu wie siebenhundert Pudel.«

»Angeklagter, wählen Sie Ihre Worte besser!« sagte der Präsident streng.

»Ich bin kein Pudel«, brummte auch Grigori.

»Na, dann will ich der Pudel sein, ich selber!« rief Mitja. »Wenn das beleidigend ist, so beziehe ich es auf mich und bitte ihn um Verzeihung. Ich war eine Bestie und habe ihn roh behandelt! Auch den alten Satyr habe ich roh behandelt.«

»Welchen alten Satyr?« fragte der Präsident wieder.

»Na, den Clown … Meinen Vater, Fjodor Pawlowitsch.«

Der Präsident schärfte Mitja wieder und wieder aufs nachdrücklichste und strengste ein, seine Ausdrücke doch vorsichtiger zu wählen.

»Sie schaden sich selbst in der Meinung Ihrer Richter.«

Ebenso geschickt verfuhr der Verteidiger auch bei der Vernehmung des Zeugen Rakitin. Rakitin war einer der wichtigsten Zeugen, und der Staatsanwalt legte auf ihn zweifellos hohen Wert. Es stellte sich heraus, daß er alles wußte, erstaunlich viel wußte, überall dabeigewesen war, alles gesehen und mit allen gesprochen hatte und auf das genaueste die Biographie Fjodor Pawlowitschs und überhaupt aller Karamasows kannte. Über das Kuvert mit den dreitausend Rubeln hatte allerdings auch er nur von Mitja etwas gehört. Dafür schilderte er eingehend Mitjas Streiche in dem Restaurant »Zur Residenz«, alle Worte und Gebärden, mit denen dieser sich kompromittiert hatte, und erzählte auch die Geschichte von dem »Bastwisch«, dem Bärtchen es Stabskapitäns Snegirjow. Über den wichtigen Punkt, ob Fjodor Pawlowitsch bei der Abrechnung über das Gut seinem Sohn Mitja etwas schuldig geblieben war, konnte aber selbst Rakitin nichts aussagen und behalf sich mit geringschätzigen Redensarten allgemeiner Art. »Welcher Mensch«, sagte er, »hätte herausfinden können, wer von ihnen die Schuld trug, und nachrechnen, wer wem etwas schuldig geblieben war bei der sinnlosen Karamasowerei dort, wo keiner eine Spur von Selbsterkenntnis hatte.« Die ganze Tragödie des Verbrechens stellte er dar als ein Produkt der veralteten Sitten des Leibeigenschaftssystems und als eine Folge der Unordnung und des Mangels an zweckentsprechenden Einrichtungen, worunter Rußland so leide. Kurz, er durfte sich frei aussprechen. Herr Rakitin trat bei diesem Prozeß zum erstenmal in der Öffentlichkeit auf und begann sofort die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; der Staatsanwalt wußte, daß der Zeuge einen Aufsatz über das vorliegende Verbrechen für ein Journal in Arbeit hatte, und zitierte später in seiner Rede, wie wir sehen werden, einige Gedanken aus diesem ihm also bereits bekannten Aufsatz. Das Bild, das der Zeuge entwarf, war düster und unterstützte die Anklage stark. Darüber hinaus aber fesselten Rakitins Darlegungen das Publikum durch die Selbständigkeit der Gedanken und die außerordentliche Vornehmheit der Gesinnung. Zwei- oder dreimal ließ sich sogar spontaner Applaus vernehmen, besonders an den Stellen, wo Rakitin von der Leibeigenschaft und von dem unter der Unordnung leidenden Rußland sprach. Dennoch beging Rakitin — ein junger Mensch — einen kleinen Fehler, den der Verteidiger sogleich vorzüglich ausnutzte. Als er nämlich auf gewisse Fragen über Gruschenka antwortete, ließ er sich von seinem Erfolg, dessen er sich natürlich schon bewußt war, und von der Höhe der Vornehmheit, zu der er sich emporgeschwungen hatte, hinreißen und erlaubte sich, von Agrafena Alexandrowna etwas verächtlich als von der »Mätresse des Kaufmanns Samsonow« zu sprechen. Er hätte später viel darum gegeben, dieses Wort ungesprochen zu machen; denn, wegen dieses Wortes packte ihn Fetjukowitsch sogleich beim Kragen. Und alles nur, weil Rakitin nicht damit gerechnet hatte, daß sich jener in so kurzer Zeit mit der Prozeßsache bis in die intimen Einzelheiten hatte vertraut machen können.

»Gestatten Sie eine Frage«, begann der Verteidiger mit höchst liebenswürdigem und sogar respektvollem Lächeln, als die Reihe, Fragen zu stellen, an ihn kam. »Sie sind gewiß eben jener Herr Rakitin, dessen von der bischöflichen Behörde herausgegebene Broschüre ‚Das Leben des in Gott entschlafenen Starez Sossima‘ ein Büchlein voll tiefer religiöser Gedanken mitsamt der ausgezeichneten frommen Widmung an Seine Eminenz, ich unlängst mit solchem Genuß gelesen habe?«

»Ich hatte es nicht für den Druck geschrieben … Es ist dann nachher gedruckt worden«, murmelte Rakitin; er schien auf einmal etwas verblüfft zu sein und sich beinahe zu schämen.

»Oh, das ist ja schön! Ein Denker wie Sie kann und muß zu jeder Erscheinung des sozialen Lebens vorurteilsfrei Stellung nehmen. Durch die Protektion Seiner Eminenz hat Ihre höchst nützliche Broschüre starken Absatz gehabt und entsprechenden Nutzen gebracht … Aber was ich fragen wollte: Sie sagten soeben, Sie seien mit Fräulein Swetlowa sehr nahe bekannt?« Nebenbei: ich erfuhr an diesem Tag während der Verhandlung zum erstenmal, daß Gruschenkas Familienname Swetlowa war.

»Ich kann nicht für alle meine Bekanntschaften eine Verantwortung übernehmen … Ich bin ein junger Mann … Und wer kann schon für alle Leute einstehen, mit denen er in Berührung kommt?« erwiderte Rakitin einigermaßen aufgebracht.

»Ich verstehe, verstehe vollkommen!« rief Fetjukowitsch, als wäre er selbst verlegen und beeile sich, eine Entschuldigung vorzubringen. »Sie durften wie jeder andere durchaus ein eigenes Interesse daran haben, mit einer jungen schönen Frau bekannt zu werden, die gern die Blüte der hiesigen Jugend bei sich empfing, aber … Ich wollte nur fragen: Es ist uns bekannt, daß Fräulein Swetlowa vor zwei Monaten dringend mit dem jüngsten Karamasow, Alexej Fjodorowitsch, bekannt zu werden wünschte und Ihnen nur dafür, daß Sie ihn zu ihr brachten, und zwar in seinem damaligen Mönchsgewand, fünfundzwanzig Rubel versprach, wenn Ihnen das wirklich gelingen sollte. Das kam, wie ebenfalls bekannt ist, am Abend jenes tragischen Tages zustande, der den Anlaß des jetzigen Prozesses bildet. Sie brachten Alexej Karamasow zu Fräulein Swetlowa — bekamen Sie nun diese fünfundzwanzig Rubel Belohnung von Fräulein Swetlowa? Das ist es, was ich gern von Ihnen hören möchte.«

»Das war ein Scherz … Ich sehe nicht ein, wieso Sie das interessieren kann. Ich habe sie aus Spaß genommen … Um sie später zurückzugeben …«

»Also Sie haben sie genommen. Und bis jetzt haben Sie sie ja wohl nicht zurückgegeben … Oder haben Sie es doch getan?«

»Das ist doch ganz belanglos …«, murmelte Rakitin. »Ich kann auf solche Fragen nicht antworten … Ich werde sie natürlich zurückgeben …«

Der Präsident schritt ein, doch der Verteidiger erklärte, er sei mit Herrn Rakitins Befragung fertig. Rakitin trat etwas begossen von der Bühne ab. Der Eindruck der hohen Vornehmheit seiner Rede war verdorben, und Fetjukowitsch begleitete ihn mit den Augen, auf diese Weise das Publikum auf ihn hinweisend: Da seht ihr, von welcher Sorte eure vornehmen Belastungszeugen sind!‘ Ich erinnere mich, daß es auch dabei nicht ohne Zwischenfall von seiten Mitjas abging. Wütend über den Ton, in dem Rakitin über Gruschenka sprach, schrie er plötzlich von seinem Platz aus: »Bernard!« Und als sich der Präsident nach Beendigung der Vernehmung Rakitins mit der Frage an den Angeklagten wandte, ob er seinerseits etwas bemerken wolle, schrie Mitja mit schallender Stimme: »Er hat sich von mir Geld gepumpt, als ich schon unter Anklage stand! Er ist ein verächtlicher Bernard und Streber und glaubt nicht an Gott, und den Bischof hat er hinters Licht geführt!«

Mitja wurde wegen seiner maßlosen Ausdrücke natürlich wieder zur Ordnung gerufen, Herr Rakitin aber war abgetan. Auch die Vernehmung des Stabskapitäns Snegirjow ging nicht ganz nach Wunsch vonstatten, aber aus einem völlig anderen Grunde. Er trat ganz abgerissen auf, in schmutziger Kleidung und mit schmutzigen Stiefeln; außerdem stellte es sich heraus, daß er trotz aller Vorsichtsmaßregeln und einer vorhergehenden Untersuchung seines Zustandes durch Sachverständige total betrunken war. Auf die Fragen nach der ihm von Mitja zugefügten Beleidigung weigerte er sich zu antworten.

»Gott verzeihe ihm! Iljuschetschka hat es mir verboten. Gott wird es mir vergelten!«

»Wer hat Ihnen verboten auszusagen? Von wem reden Sie da?«

»Iljuschetschka, mein Söhnchen, hat gesagt: ‚Papachen, Papachen, wie hat er dich erniedrigt!‘ Bei dem Stein hat er es gesagt. Jetzt liegt er im Sterben …‘«

Der Stabskapitän fing auf einmal an zu schluchzen und warf sich mit einem Schwung dem Präsidenten zu Füßen. Er wurde unter dem Gelächter des Publikums schleunigst hinausgeführt. Der vom Staatsanwalt beabsichtigte Effekt kam nicht zustande.

Der Verteidiger aber fuhr fort, alle möglichen Mittel anzuwenden, und beeindruckte mehr und mehr durch seine bis in die geringsten Einzelheiten reichende Kenntnis der Prozeßsache. So erzielte zum Beispiel die Aussage Trifon Borissowitschs schon ihre erste starke Wirkung, und sie war natürlich für Mitja äußerst ungünstig. Er rechnete nämlich fast an den Fingern aus, daß Mitja bei seinem ersten Besuch in Mokroje, etwa einen Monat vor der Katastrophe, nicht weniger als dreitausend Rubel ausgegeben haben müßte oder »höchstens eine ganze Kleinigkeit weniger … Allein schon für diese Zigeunerinnen, wieviel Geld hat er da rausgeschmissen! Und unseren Bauern, unseren verlausten Bauern hat er nicht etwa jedem einen halben Rubel hingeworfen, sondern jedem mindestens einen Fünfundzwanzigrubelschein, weniger hat er keinem gegeben. Und wieviel ist ihm damals einfach gestohlen worden! Wer stahl, der ließ ja seine Hand nicht da, wie sollte man da so einen Dieb fassen, wenn der Herr selbst das Geld achtlos umherstreute! Die Bauern sind ja die reinste Räuberbande und scheuen sich vor keiner Sünde! Und die Mädchen, unsere Dorfmädchen, was haben die nicht alles gekriegt! Die Leute bei uns sind seitdem reich, so ist es, und früher war da nur Armut …« Kurz, er zählte jede einzelne Ausgabe auf und rechnete alles zusammen wie an der Rechenmaschine. Die Annahme, daß Mitja nur fünfzehnhundert Rubel ausgegeben, die anderen fünfzehnhundert aber in dem Säckchen aufgehoben hätte, wurde auf diese Weise undenkbar. »Ich habe die dreitausend Rubel selber gesehen, in seinen Händen habe ich sie gesehen! So deutlich wie ein Kopekenstück habe ich sie mit meinen Augen betrachtet, wie sollte denn unsereiner nicht verstehen, Geld zu beurteilen!« rief Trifon Borissowitsch aus, mit aller Gewalt bemüht, es »der Obrigkeit« recht zu machen. Als nun das Fragenstellen auf den Verteidiger überging, machte dieser fast gar keinen Versuch, die Aussage zu widerlegen, sondern brachte auf einmal die Rede darauf, daß der Kutscher Timofej und der Bauer Akim bei dem ersten Gelage in Mokroje auf dem Flur hundert Rubel, die Mitja in betrunkenem Zustand verloren hatte, vom Fußboden aufgehoben und Trifon Borissowitsch gegeben hatten, wofür dieser jedem von ihnen einen Rubel geschenkt hatte. »Nun, haben Sie damals diese hundert Rubel Herrn Karamasow zurückgegeben oder nicht?« Wie sehr sich Trifon Borissowitsch auch drehte und wendete, nach der Vernehmung des Kutschers und des Bauern mußte er sich doch zu dem gefundenen Hundertrubelschein bekennen, wobei er nur hinzufügte, er habe Herrn Karamasow sofort alles gewissenhaft und mit der größten Ehrlichkeit zurückgegeben; dieser werde sich allerdings kaum daran erinnern können, da er zu jener Zeit ganz betrunken gewesen sei. Da er jedoch den Fund der hundert Rubel geleugnet hatte, bevor Timofej und Akim als Zeugen aufgerufen worden waren, rief auch seine Aussage über die Rückgabe dieser Summe an Mitja naturgemäß starke Zweifel hervor. Auf diese Weise mußte wieder einer der gefährlichsten Zeugen der Staatsanwaltschaft verdächtigt und mit beflecktem Ruf abtreten. Dasselbe widerfuhr den Polen. Sie traten sehr stolz und selbstbewußt auf und bezeugten laut, daß sie erstens beide »dem Staat gedient« hätten und daß zweitens »Pan Mitja« ihnen dreitausend Rubel angeboten habe, um ihnen dafür ihre Ehre abzukaufen, und daß sie drittens große Geldsummen in seinen Händen gesehen hätten. Pan Mussialowicz spickte seine Sätze mit vielen polnischen Wörtern, und da er sah, daß dies sein Ansehen in den Augen des Präsidenten und des Staatsanwalts erhöhte, wurde er schließlich so keck, daß er nur noch polnisch sprach. Doch Fetjukowitsch fing auch diese beiden in seinen Netzen. Trotz aller Winkelzüge, die der zum zweitenmal aufgerufene Trifon Borissowitsch machte, mußte er doch einräumen, daß Pan Wroblewski die von ihm, Trifon, gebrachten Spielkarten mit seinen eigenen vertauscht und daß Pan Mussialowicz als Bankhalter betrogen hatte. Das bestätigte auch Kalganow, als er mit seinen Aussagen an die Reihe kam; und die beiden Polen entfernten sich, mit einiger Schande bedeckt und sogar unter dem Gelächter des Publikums.

Darauf erging es fast allen gefährlichen Zeugen ebenso. Jedem von ihnen konnte Fetjukowitsch einen moralischen Schmutzfleck anhängen, und den Betreffenden ein bißchen blamiert entlassen. Die Juristen und sonstigen Liebhaber von Kriminalprozessen verfolgten das mit Vergnügen, begriffen nur nicht, zu welchem großen entscheidenden Schlag das alles dienen sollte. Denn alle fühlten die Unwiderlegbarkeit der immer mehr und immer tragischer sich steigernden Beschuldigung. Aber sie sahen an dem Selbstvertrauen des »großen Magiers«, daß er ganz ruhig war. So warteten sie ab — ein solcher Mann konnte doch nicht umsonst aus Petersburg hierhergekommen sein: Er war doch wohl nicht der Mann, der unverrichteter Sache zurückkehren würde.