5. Die plötzliche Katastrophe
Er sollte eigentlich schon vor Aljoscha aufgerufen werden. Aber der Gerichtsinspektor hatte dem Präsidenten gemeldet, der Zeuge könne infolge eines plötzlichen Anfalls von Unwohlsein im Augenblick nicht erscheinen; sobald er sich erholt habe, werde er seine Aussagen machen, wann es dem Gericht beliebe. Das hatte merkwürdigerweise niemand gehört, und man erfuhr es erst später. Sein Erscheinen wurde im ersten Moment kaum bemerkt; die Hauptzeugen, besonders die beiden Nebenbuhlerinnen, waren schon vernommen worden, und die Neugier war vorläufig befriedigt. Beim Publikum machte sich sogar eine gewisse Ermüdung bemerkbar. Es waren noch einige Zeugen anzuhören, die in Anbetracht dessen, was bereits bekannt war, wahrscheinlich nichts Besonderes mehr mitteilen konnten, und die Zeit war schon stark vorgerückt. Iwan Fjodorowitsch trat mit einer seltsamen Langsamkeit näher, ohne jemanden anzusehen; er hielt sogar den Kopf gesenkt, als sei er in finsterem Nachdenken über etwas begriffen. Gekleidet war er tadellos, doch sein Gesicht machte einen kranken Eindruck, wenigstens auf mich; es war, als ob ihm schon der Tod sein Zeichen aufgedrückt hätte: Es erinnerte an das Gesicht eines Sterbenden. Seine Augen waren trübe; als er sie aufhob und langsam durch den Saal wandern ließ, sprang Aljoscha plötzlich laut stöhnend von seinem Stuhl auf. Auch dies bemerkte so gut wie niemand, aber ich erinnere mich daran.
Der Präsident begann mit dem Hinweis darauf, daß er ein unvereidigter Zeuge sei. Er könne also aussagen oder schweigen, doch müsse er in allem, was er aussage, natürlich gewissenhaft bei der Wahrheit bleiben, und so weiter und so fort. Iwan Fjodorowitsch hörte zu und sah ihn mit trübem Blick an. Auf einmal verzog sich sein Gesicht langsam zu einem Lächeln, und kaum hatte der Präsident aufgehört zu reden, als er plötzlich loslachte.
»Nun, und was noch?« fragte er laut.
Alles im Saal wurde still, man schien etwas zu ahnen. Der Präsident wurde unruhig.
»Sie … Sie sind vielleicht noch nicht ganz gesund?« sagte er und suchte mit den Augen nach dem Gerichtsinspektor.
»Beunruhigen Sie sich nicht, Exzellenz. Ich bin hinreichend gesund und kann Ihnen etwas Interessantes erzählen«, antwortete Iwan Fjodorowitsch auf einmal ganz ruhig und respektvoll.
»Haben Sie uns irgendeine besondere Mitteilung zu machen?« fuhr der Präsident, noch immer mißtrauisch, fort.
Iwan ließ den Kopf sinken, zögerte einige Sekunden und antwortete dann, indem er den Kopf wieder hob, stockend und stotternd: »Nein, das nicht … Ich habe nichts Besonderes.«
Man legte ihm Fragen vor. Er antwortete offensichtlich ungern, absichtlich kurz, mit einem gewissen Widerwillen, der mehr und mehr wuchs, obwohl seine Antworten doch vernünftig klangen. Auf viele Fragen erwiderte er, er wisse nichts davon. Von den Abrechnungen des Vaters mit Dmitri Fjodorowitsch wußte er nichts. »Ich habe mich darum nicht gekümmert«, sagte er. Drohungen, den Vater totzuschlagen, hatte er von dem Angeklagten gehört. Von dem Geld in dem Kuvert hatte er durch Smerdjakow erfahren …
»Immer ein und dasselbe«, unterbrach er sich plötzlich mit müde aussehender Miene. »Ich kann dem Gericht nichts Besonderes mitteilen.«
»Ich sehe, daß Sie sich nicht wohl fühlen, und verstehe ihre Gefühle …«, sagte der Präsident und wandte sich dann mit der Aufforderung an den Staatsanwalt und den Verteidiger, dem Zeugen Fragen vorzulegen, wenn sie es für nötig hielten. Plötzlich bat Iwan Fjodorowitsch mit ganz erschöpfter Stimme: »Entlassen Sie mich, Exzellenz. Ich fühle mich sehr unwohl.«
Nach diesen Worten drehte er sich um, ohne eine Erlaubnis abzuwarten, und schickte sich an, den Saal zu verlassen. Doch als er vier Schritte gegangen war, blieb er stehen, als hätte er sich plötzlich etwas überlegt, lächelte leise und kehrte wieder auf seinen Platz zurück.
»Exzellenz, ich bin wie das bewußte Bauernmädchen … Sie kennen wohl die Geschichte … Man hält ihr das Brautkleid hin, damit sie es anzieht und zur Trauung fährt, sie aber sagt: ‚Wenn ich will, ziehe ich es nicht an.‘ Das ist wohl ein besonderer Zug unseres Volkscharakters …«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Präsident streng.
»Sehen Sie«, sagte Iwan Fjodorowitsch und zog ein Päckchen Banknoten hervor. »Hier ist das Geld … Dasselbe Geld, das in jenem Kuvert da steckte …« Er deutete mit dem Kopf nach dem Tisch mit den Beweisstücken. »Das Geld, dessentwegen mein Vater ermordet worden ist. Wohin soll ich es legen? Herr Gerichtsinspektor, übergeben Sie es!«
Der Gerichtsinspektor nahm das Päckchen in Empfang und übergab es dem Präsidenten.
»Auf welche Weise ist dieses Geld in Ihre Hände gelangt — wenn es wirklich dasselbe Geld ist?« fragte der Präsident erstaunt.
»Ich habe es von Smerdjakow erhalten, von dem Mörder, gestern … Ich war bei ihm, bevor er sich erhängte. Er ist es gewesen, der meinen Vater ermordet hat, nicht mein Bruder. Er hat ihn ermordet, und ich habe ihn zu dem Mord angestiftet … Wer wünscht nicht den Tod seines Vaters? …«
»Sind Sie bei Verstand oder nicht?« entfuhr es dem Präsidenten unwillkürlich.
»Das ist es ja eben, daß ich bei Verstand bin … und zwar bei hundsgemeinem Verstand, genauso einem, wie Sie ihn haben und alle diese Menschen mit den ekligen Fratzen!« Bei den letzten Worten wandte er sich auf einmal ans Publikum. »Da haben sie nun ihren Vater getötet, stellen sich aber, als ob sie darüber entsetzt wären«, rief er mit zorniger Verachtung. »Sie spielen voreinander Komödie. Die Lügner! Alle wünschen den Tod ihres Vaters. Ein Reptil frißt das andere auf … Wenn es keinen Vatermord gäbe, würden sie alle in Zorn geraten und ärgerlich auseinandergehen … Ist das ein Schauspiel! ‚Brot und Spiele!‘ Übrigens bin ich ja auch ein netter Kerl! Wenn Sie hier Wasser haben, geben Sie mir um Christi willen etwas zu trinken!« Er faßte sich an den Kopf.
Der Gerichtsinspektor trat sofort zu ihm. Aljoscha sprang plötzlich auf und rief: »Er ist krank, glauben Sie ihm nicht! Er hat Nervenfieber!« Katerina Iwanowna hatte sich hastig von ihrem Stuhl erhoben und blickte Iwan Fjodorowitsch starr vor Schreck an. Auch Mitja war aufgestanden, sah seinen Bruder mit einem verzerrten Lächeln an und hörte gespannt zu, was er sagte.
»Beruhigen Sie sich. Ich bin nicht verrückt, ich bin nur ein Mörder!« begann Iwan von neuem. »Von einem Mörder kann man keine kunstvolle Ausdrucksweise verlangen …«, fügte er hinzu und lächelte mit schiefem Mund.
Der Staatsanwalt beugte sich sichtlich erregt zu dem Präsidenten hinüber. Die Mitglieder des Gerichtes flüsterten geschäftig untereinander. Fetjukowitsch hatte die Ohren gespitzt und horchte auf jedes Wort des Zeugen. Im Saal herrschte erwartungsvolle Totenstille. Der Präsident schien seine Fassung auf einmal wiedergewonnen zu haben.
»Zeuge, Ihre Worte sind unverständlich und in dieser Form nicht statthaft. Beruhigen Sie sich, wenn Sie es können, und erzählen Sie, sofern Sie wirklich etwas mitzuteilen haben. Wodurch können Sie dieses Geständnis glaubhaft machen … Wenn Sie nicht überhaupt im Fieber reden?«
»Das ist es ja eben, daß ich keine Zeugen habe. Der Hund Smerdjakow wird Ihnen aus dem Jenseits kaum eine Aussage schicken — in einem Kuvert. Sie wollen immer Kuverts haben, aber eins reicht ja wohl … Ich habe keine Zeugen … Außer … Höchstens einen«, fügte er nachdenklich lächelnd hinzu.
»Wer ist dieser Zeuge?«
»Er hat einen Schwanz, Exzellenz. Sein Äußeres ist nicht sehr salonfähig! Le diable n'existe point! Beachten Sie ihn nicht weiter, er ist ein jämmerlicher, unbedeutender Teufel«, fügte er gewissermaßen vertraulich hinzu und hörte auf zu lachen. »Er ist sicher hier irgendwie anwesend, vielleicht da unter dem Tisch mit den Beweisstücken, wo anders sollte er denn auch sitzen? Sehen Sie, ich habe zu ihm gesagt: ‚Ich will nicht schweigen!‘ Aber er redet von der geologischen Umwälzung … Dummheiten! Na, dann lassen Sie den Unmenschen frei … Er hat eine Hymne angestimmt, das hat er deswegen getan, weil ihm leicht ums Herz ist! Es ist ganz egal, daß die betrunkene Kanaille grölt: ‚Ach, mein Wanka ging nach Piter …‘ Ich würde für zwei Sekunden Freude eine Quadrillion Quadrillionen hingeben … Sie kennen mich nicht! Oh, wie dumm das alles bei Ihnen ist! Na, nehmen Sie mich doch fest an seiner Stelle! Ich muß doch zu irgendeinem Zweck hier hergekommen sein … Warum ist bloß alles, was es gibt, so dumm?«
Er sah sich wieder langsam und offenbar nachdenklich im Saal um. Alles war in Aufregung geraten. Aljoscha wollte zu ihm stürzen, doch der Gerichtsinspektor hatte Iwan Fjodorowitsch schon am Arm gefaßt.
»Was soll denn das wieder bedeuten?« schrie dieser, packte ihn plötzlich bei den Schultern und schlug ihn wütend zu Boden.
Schon eilte die Wache herbei und ergriff ihn; er stieß ein wütendes Gebrüll aus. Und die ganze Zeit, während er hinausgetragen wurde, brüllte und schrie er unzusammenhängende Worte.
Ein wildes Durcheinander trat ein. Ich erinnere mich nicht an alles der Reihe nach; ich war selbst aufgeregt und nicht imstande, alle Vorgänge zu verfolgen. Ich weiß nur, daß der Gerichtsinspektor später, als sich schon alles beruhigt hatte und alle wußten, worum es sich handelte, einen Verweis erhielt, obgleich er seinem Vorgesetzten mit triftiger Begründung seine Schuldlosigkeit darlegte: Der Zeuge sei die ganze Zeit gesund gewesen, der Arzt habe zwar seinen leichten Schwindelanfall vor einer Stunde gesehen, doch habe er bis zum Eintritt in den Saal ganz vernünftig gesprochen, so daß nichts Ungehöriges vorherzusehen war — im Gegenteil, er selbst habe unter allen Umständen seine Aussage machen wollen und darauf bestanden. Bevor man sich auch nur einigermaßen beruhigt hatte, spielte sich gleich nach dieser Szene noch eine andere ab: Katerina Iwanowna bekam einen hysterischen Anfall. Sie kreischte und schluchzte laut, wollte aber nicht hinausgehen, sie riß sich von allen los, die sich um sie bemühten, und schrie auf einmal dem Präsidenten zu: »Ich muß noch eine Mitteilung machen, sofort! Hier ist ein Schriftstück, ein Brief … Nehmen Sie ihn, lesen Sie ihn, schnell! Es ist ein Brief von diesem Unmenschen hier!« Sie zeigte auf Mitja. »Er, er hat seinen Vater ermordet, Sie werden es gleich sehen! Er schreibt mir, wie er seinen Vater ermorden will … Der andere ist krank, er hat Nervenfieber! Ich habe schon seit drei Tagen gesehen, daß er Nervenfieber hat!«
So schrie sie ganz außer sich. Der Gerichtsinspektor nahm das Schriftstück, das sie dem Präsidenten hinhielt. Sie sank auf ihren Stuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann krampfhaft und lautlos zu schluchzen; ihr ganzer Körper wurde erschüttert, sie unterdrückte jedoch auch das leiseste Stöhnen aus Furcht, daß man sie aus dem Saal entfernen könnte. Das Schriftstück, das sie übergeben hatte, war Mitjas Brief aus dem Restaurant »Zur Residenz«, den Iwan Fjodorowitsch ein Dokument von mathematischer Beweiskraft genannt hatte. Leider erkannte man ihm diese mathematische Beweiskraft dann auch zu; hätte es diesen Brief nicht gegeben, wäre Mitja vielleicht nicht zugrunde gegangen — oder wenigstens nicht auf so furchtbare Weise! Ich wiederhole, es war schwer, die Einzelheiten zu verfolgen. Auch jetzt in der Erinnerung erscheint mir alles als ein schrecklicher Wirrwarr. Höchstwahrscheinlich gab der Präsident das neue Beweisstück sogleich dem Gerichtshof, dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und den Geschworenen zur Kenntnis.
Ich erinnere mich nur, wie man die Zeugin zu befragen begann. Auf die in mildem Ton gestellte Frage des Präsidenten, ob sie sich beruhigt habe, antwortete Katerina Iwanowna eifrig: »Ich bin bereit, ich bin bereit! Ich bin vollständig imstande, Ihnen zu antworten«, fügte sie hinzu; sie fürchtete offenbar noch immer, man würde sie aus irgendwelchen Gründen nicht anhören.
Man ersuchte sie, eingehender zu erläutern, was das für ein Brief sei und unter welchen Umständen sie ihn empfangen habe.
»Ich erhielt ihn einen Tag vor dem Verbrechen. Im Restaurant hat er ihn aber noch einen Tag früher geschrieben, also zwei Tage vor dem Verbrechen — sehen Sie, hier, auf einer Rechnung!« rief sie, mühsam atmend. »Er haßte mich damals, weil er selbst gemein handelte und dieser Kreatur nachlief … Und dann auch noch, weil er mir diese dreitausend Rubel schuldete … Oh, diese dreitausend Rubel waren ihm peinlich, weil sich damit der Gedanke an sein unwürdiges Benehmen verband. Mit diesen dreitausend Rubeln verhielt es sich so — ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mich anzuhören! Vier Wochen, bevor er seinen Vater ermordete, kam er eines Morgens zu mir. Ich wußte, daß er Geld brauchte, und wußte auch, wozu — nämlich um diese Kreatur zu gewinnen und sie mit sich zu nehmen. Ich wußte damals schon, daß er mir untreu geworden war und sich von mir losmachen wollte, und ich selbst bot ihm damals dieses Geld an, angeblich, damit er es meiner Schwester nach Moskau schickte — ich sah ihm ins Gesicht und sagte, er könne es abschicken, wann er wolle, meinetwegen erst in einem Monat. Nun, wie hätte er nicht begreifen sollen, daß ich ihm damit geradezu ins Gesicht sagte: ‚Du brauchst Geld, um mich mit deiner Kreatur zu betrügen — bitte, da hast du Geld! Ich selbst gebe es dir. Nimm es, wenn du so ehrlos bist, das fertigzubringen!‘ Ich wollte ihn überführen, und was geschah? Er nahm das Geld, nahm es mit und vergeudete es mit dieser Kreatur in einer einzigen Nacht … Aber er hatte gemerkt, daß ich alles durchschaute. Ich versichere Sie, er hatte auch gemerkt, daß ich ihn durch die Überreichung des Geldes nur auf die Probe stellen wollte, ob er so ehrlos sein würde, es von mir anzunehmen oder nicht. Ich hatte ihm in die Augen gesehen und er mir, und er hatte alles begriffen — und er nahm mein Geld trotzdem!«
»Das ist die Wahrheit, Katja!« rief Mitja plötzlich. »Ich sah dir in die Augen, begriff, daß du mich entehrst, und nahm dein Geld dennoch! Verachtet mich Schuft, verachtet mich alle, ich habe es verdient!«
»Angeklagter!« rief der Präsident. »Noch ein Wort, und ich lasse Sie hinausbringen.«
»Dieses Geld quälte ihn«, fuhr Katja in krampfhafter Eile fort, »er wollte es mir zurückgeben, das ist wahr. Aber er brauchte eben auch Geld für diese Kreatur. Und daher hat er seinen Vater ermordet. Das Geld hat er mir aber trotzdem nicht zurückgegeben, sondern ist mit ihr in jenes Dorf gefahren, wo er festgenommen wurde. Da hat er das Geld wieder verjubelt, das er seinem Vater gestohlen hatte. Und zwei Tage bevor er seinen Vater ermordete, schrieb er mir diesen Brief. Er schrieb ihn in der Trunkenheit, das sah ich gleich, er schrieb ihn aus Wut, und er wußte bestimmt, daß ich diesen Brief niemandem zeigen würde, selbst wenn er den Mord beging. Sonst hätte er ihn nicht geschrieben! Er wußte, daß ich nicht den Wunsch hatte, mich an ihm zu rächen und ihn zugrunde zu richten … Lesen Sie den Brief, lesen Sie ihn aufmerksam, bitte, und Sie werden sehen, daß er alles im voraus beschrieben hat: wie er den Vater ermorden wollte und wo dieser das Geld liegen hatte. Sehen Sie bitte, da ist ein Satz: ‚Ich werde ihn totschlagen, sobald Iwan abgereist ist.‘ Also hatte er schon im voraus überlegt, wie er den Mord begehen würde«, sagte Katerina Iwanowna schadenfroh und boshaft, um dem Gericht das Verständnis zu erleichtern. Oh, es war klar, daß sie sich bis in alle Einzelheiten in diesen verhängnisvollen Brief hineingelesen und jeden kleinen Zug in ihm studiert hatte. »Wäre er nicht betrunken gewesen, hätte er mir den Brief nicht geschrieben. Sehen Sie nur, da ist alles im voraus geschildert, ganz genau, so wie er den Mord nachher ausgeführt hat, das ganze Programm!«
So rief sie ganz außer sich; offenbar kümmerte es sie jetzt gar nicht mehr, welche Folgen das für sie haben konnte, obgleich sie diese wohl schon vor einem Monat vorhergesehen hatte, denn schon damals hatte sie überlegt, ob sie den Brief vor Gericht vorlesen solle. Ich erinnere mich, daß der Brief sofort vom Sekretär laut verlesen wurde und einen erschütternden Eindruck machte. Man wandte sich an Mitja mit der Frage, ob er diesen Brief anerkenne.
»Ja, er stammt von mit, er stammt von mir!« rief Mitja. »Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte ich ihn nicht geschrieben … Wir haben uns aus vielen Gründen gehaßt, Katja, doch das eine schwöre ich dir: Ich habe dich geliebt, auch wenn ich dich haßte — aber du mich nicht!«
Er fiel auf seinen Platz zurück und rang verzweifelt die Hände. Der Staatsanwalt und der Verteidiger veranstalteten mit Katerina Iwanowna ein Kreuzverhör, besonders in dieser Richtung: »Was hat Sie vorhin veranlaßt, dieses Beweisstück zu verheimlichen und in ganz anderem Sinn auszusagen?«
»Ja, ich habe vorhin gelogen, gegen Ehre und Gewissen, aber ich wollte ihn retten, weil er mich so haßte und so verachtete!« rief Katja wie außer sich. »Oh, er hat mich immer verachtet, wissen Sie, von dem Augenblick an, als ich ihm seinerzeit zum Dank für dieses Geld zu Füßen fiel. Ich habe das eingesehen … Ich fühlte es damals gleich, doch lange Zeit wollte ich mir selbst nicht glauben. Wie oft habe ich in seinen Augen gelesen: ‚Du bist doch damals selbst zu mir gekommen!‘ Oh, er begriff ganz und gar nicht, warum ich zu ihm gelaufen war, er sucht hinter allem nur Gemeinheiten! Er mißt alles nach sich selbst, er denkt, alle Menschen sind von derselben Art wie er! Und heiraten wollte er mich nur deshalb, weil ich eine Erbschaft gemacht hatte. Ich habe immer den Verdacht gehabt, daß er es nur deshalb wollte! Oh, dieses Tier! Er war überzeugt, daß ich mein Leben lang vor ihm zittern würde, aus Scham darüber, daß ich damals zu ihm gekommen war. Und er meinte, er könnte mich deswegen für immer verachten und beherrschen — das ist der Grund, weswegen er mich heiraten wollte! So ist das alles! Ich versuchte, ihn durch meine Liebe zu besiegen, durch meine grenzenlose Liebe, sogar seine Untreue wollte ich ertragen, aber er begriff das gar nicht. Und kann er denn überhaupt etwas begreifen? Er ist ja ein Unmensch! Diesen Brief erhielt ich erst am anderen Tag abends, er wurde mir aus dem Restaurant gebracht — und noch am Morgen dieses Tages hatte ich ihm alles verzeihen wollen, alles, sogar seine Untreue!«
Natürlich versuchten der Präsident und der Staatsanwalt sie zu beruhigen. Ich bin überzeugt, daß sie sich vielleicht selber schämten, die maßlose Aufregung der Zeugin auszunutzen und solche Bekenntnisse anzuhören. Ich erinnere mich gehört zu haben, wie sie zu ihr sagten: »Wir verstehen, wie peinlich Ihnen das ist. Glauben Sie, wir sind imstande das nachzufühlen«, und so weiter und so fort. Trotzdem holten sie aus dieser Frau, die in ihrem hysterischen Anfall wie von Sinnen war, noch weitere Aussagen heraus. Mit außerordentlicher Klarheit, die, wenn auch nur für kurze Zeit, in Momenten solcher hochgradigen geistigen Anspannung häufig auftritt, schilderte sie, wie Iwan Fjodorowitsch in diesen zwei Monaten vor lauter Nachdenken, auf welche Weise er seinen Bruder, »diesen Unmenschen und Mörder«, retten könnte, fast den Verstand verloren habe.
»Er quälte sich!« rief sie. »Immer wollte er die Schuld seines Bruders geringer erscheinen lassen; indem er mir gestand, daß auch er seinen Vater nicht geliebt und vielleicht sogar dessen Tod gewünscht habe. Oh, er hat ein empfindsames Gewissen! Er quälte sich mit seinem Gewissen! Er hat mir alles gestanden, alles! Er kam alle Tage zu mir und sprach mit mir wie mit seinem einzigen Freund. Ich habe die Ehre, sein einziger Freund zu sein!« rief sie plötzlich herausfordernd, und ihre Augen blitzten. »Er ist zweimal zu Smerdjakow gegangen. Das eine Mal kam er danach zu mir und sagte: ‚Wenn nicht mein Bruder, sondern Smerdjakow den Mord begangen hat, dann bin ich vielleicht auch schuldig, weil Smerdjakow wußte, daß ich meinen Vater nicht liebte, und möglicherweise glaubte, daß ich seinen Tod wünschte.‘ Damals zeigte ich ihm diesen Brief, und er kam vollständig zu der Überzeugung, daß sein Bruder den Mord begangen hatte — und das warf ihn ganz zu Boden. Er konnte nicht ertragen, daß sein Bruder ein Vatermörder war! Schon nach einer Woche sah ich, daß ihn das krank gemacht hatte. In den letzten Tagen redete er irre, wenn er bei mir saß. Ich sah, daß sich eine Geistesstörung herausbildete. Er phantasierte im Gehen; in diesem Zustand haben ihn viele auf der Straße gesehen. Der auswärtige Arzt untersuchte ihn vorgestern auf meine Bitte und sagte mir, er stehe dicht vor dem Ausbruch eines Nervenfiebers — und an allem ist der da schuld, dieser Unmensch! Gestern erfuhr Iwan nun, daß Smerdjakow tot ist, und das hat ihn so erschüttert, daß er den Verstand verloren hat … Und an allem ist dieser Unmensch schuld! Alles ist so gekommen, weil er diesen Unmenschen retten wollte!«
Oh, so reden und solche Geständnisse machen, das kann man wohl nur ein einziges Mal im Leben, etwa in der Todesstunde, wenn man das Schafott besteigt. Für Katja war ein solcher Augenblick gekommen, und sie handelte ihrem Charakter gemäß. Das war dieselbe ungestüme Katja, die damals zu dem jungen Lebemann geeilt war, um ihren Vater zu retten; dieselbe Katja, die sich kurz vorher vor diesem Publikum stolz und keusch geopfert hatte, indem sie von »Mitjas edler Tat« erzählte, um das Schicksal, das ihn erwartete, wenigstens etwas zu mildern. Und jetzt brachte sie sich ebenso zum Opfer, nunmehr für einen anderen — und vielleicht hatte sie erst in diesem Augenblick zum erstenmal mit vollem Bewußtsein empfunden, wie teuer ihr dieser andere Mensch war! In Angst um ihn opferte sie sich auf, da sie plötzlich glaubte, er habe sich durch seine Aussage, er und nicht sein Bruder habe den Mord begangen, zugrunde gerichtet; sie opferte sich auf, um ihn, seine geachtete Stellung, seinen guten Ruf zu retten! Und dennoch ging ihr ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf: Hatte sie auch nicht etwas Unwahres über Mitja gesagt, als sie ihre früheren Beziehungen zu ihm geschildert hatte — das war die Frage. Nein, nein, sie hatte ihn nicht absichtlich verleumdet, wenn sie geäußert hatte, Mitja habe sie wegen ihrer tiefen Verbeugung verachtet! Sie hielt das selbst für wahr; sie war vielleicht schon seit jeher fest davon überzeugt, daß Mitja, dieser offenherzige Mensch, der sie damals noch vergötterte, sich über sie lustig machte und sie verachtete. Und nur aus verletztem Stolz hatte sie sich damals mit ihrer krampfhaft überspannten Liebe an ihn gehängt, und diese Liebe hatte mehr Ähnlichkeit mit Rachsucht gehabt als mit Liebe. Oh, vielleicht hätte sich diese überspannte Liebe in wahre Liebe verwandelt, vielleicht wünschte Katja weiter nichts als dies; doch Mitja kränkte sie durch seine Untreue in tiefster Seele, und ihre Seele verzieh ihm das nicht. Der Augenblick der Rache kam ihr ganz unerwartet, und alles, was sich so lange und schmerzhaft in der Brust der gekränkten Frau angesammelt hatte, brach sich nun mit einemmal und wiederum unerwartet nach außen Bahn. Sie beging einen Verrat an Mitja, zugleich aber auch an sich selbst! Und kaum hatte sie sich ausgesprochen, löste sich die krampfhafte Spannung, und die Scham überwältigte sie. Es folgte wieder ein hysterischer Anfall; sie fiel schluchzend und kreischend hin. Man trug sie hinaus. In dem Moment, als sie hinausgetragen wurde, stürzte Gruschenka von ihrem Platz so schnell zu Mitja, daß man sie nicht mehr zurückhalten konnte.
»Mitja!« schrie sie. »Sie hat dich zugrunde gerichtet, deine Schlange! Jetzt hat sie Ihnen ihre wahre Natur gezeigt!« rief sie zornbebend dem Gerichtshof zu.
Auf einen Wink des Präsidenten wurde sie ergriffen; man versuchte, sie aus dem Saal zu bringen. Aber sie sträubte sich, schlug um sich und wollte sich losreißen, um zu Mitja zurückzukehren.
Mitja schrie auf und wollte ebenfalls zu ihr stürzen. Er wurde überwältigt …
Ja, ich glaube, unsere schaulustigen Damen konnten befriedigt sein: Es war ein reichhaltiges Schauspiel. Dann erschien, wenn ich mich recht erinnere, der Arzt aus Moskau. Der Präsident hatte wohl schon vorher den Gerichtsinspektor beauftragt, dafür zu sorgen, daß Iwan Fjodorowitsch ärztliche Hilfe zuteil wurde. Der Arzt berichtete dem Gerichtshof, daß der Kranke einen höchst gefährlichen Anfall von Nervenfieber erlitten habe und unverzüglich fortgeschafft werden müsse. Auf die Fragen des Staatsanwalts und des Verteidigers bestätigte er, daß der Patient vor zwei Tagen selbst zu ihm gekommen war und er ihm schon damals den baldigen Ausbruch eines solchen Fiebers vorhergesagt habe; allerdings habe sich der Patient nicht in ärztliche Behandlung geben wollen. »Er war keinesfalls in gesunder Geistesverfassung. Er gestand mir, daß er in wachem Zustand Visionen habe, auf der Straße allerlei toten Personen begegne und daß ihn allabendlich der Satan besuche!« schloß der berühmte Arzt und entfernte sich. Der Brief, den Katerina Iwanowna vorgelegt hatte, wurde den Beweisstücken hinzugefügt. Nach einer Beratung beschloß der Gerichtshof, in der Verhandlung fortzufahren, und die beiden unerwarteten Aussagen, das heißt die Angaben Katerina Iwanownas und Iwan Fjodorowitschs, zu Protokoll zu nehmen.
Ich werde die weitere Gerichtsverhandlung nun nicht mehr schildern. Waren doch die Aussagen der übrigen Zeugen nur eine Wiederholung und Bestätigung der früheren, obgleich jede von ihnen ihre charakteristischen Besonderheiten hatte. In der Rede des Staatsanwalts, zu der ich jetzt übergehe, wird ohnehin nochmals alles unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammengefaßt. Alle waren in Erregung, alle waren durch die letzten Ereignisse wie elektrisiert und warteten mit brennender Ungeduld auf eine baldige Lösung, das heißt auf die Reden der Parteien und das Urteil. Fetjukowitsch war über Katerina Iwanownas Aussagen offenbar sehr betroffen, während der Staatsanwalt triumphierte. Als die gerichtliche Untersuchung beendet war, wurde die Sitzung unterbrochen; die Pause dauerte fast eine Stunde. Endlich verkündete der Präsident den Beginn der PIädoyers. Ich glaube, es war genau acht Uhr abends, als unser Staatsanwalt Ippolit Kirillowitsch seine Anklagerede begann.