12. Und auch kein Mord
»Erlauben Sie, meine Herren Geschworenen, es handelt sich hier um ein Menschenleben, da muß man sehr vorsichtig sein. Wir haben gehört, wie der Ankläger selbst bezeugte, daß er bis heute, bis zum Tag der Gerichtsverhandlung, geschwankt hat, ob er den Angeklagten des vorbedachten Mordes beschuldigen solle, daß er geschwankt hat bis zu diesem verhängnisvollen Brief, der heute dem Gericht vorgelegt worden ist. ‚Es ist ausgeführt worden, wie es geschrieben stand!‘ Aber ich wiederhole noch einmal: Er lief zu ihr, einzig und allein ihretwegen, um zu erfahren, wo sie war. Das ist eine feststehende Tatsache. Hätte er sie zu Hause angetroffen, wäre er weiter nirgends hingelaufen, sondern er wäre bei ihr geblieben und hätte nicht gehalten, was er in dem Brief versprochen hatte. Er lief plötzlich und ohne Überlegung hin und dachte dabei vielleicht überhaupt nicht an seinen Brief. ‚Er griff sich einen Stößel‘, heißt es — und erinnern Sie sich bitte, wie an diesen Stößel eine ganze Reihe von psychologischen Erörterungen angeknüpft wurde: warum er diesen Stößel als Waffe ansehen und als Waffe ergreifen mußte und so weiter. Hier kommt mir ein ganz einfacher Gedanke in den Kopf: Wenn nun dieser Stößel nicht sichtbar auf dem Küchenbrett gelegen hätte, wo ihn der Angeklagte wegnahm, sondern ordentlich in den Schrank geräumt worden wäre, dann wäre er dem Angeklagten nicht vor Augen gekommen, und er wäre mit leeren Händen, ohne Waffe davongelaufen und hätte vielleicht niemand totgeschlagen. Inwiefern kann ich den Stößel als Beweis dafür anführen, daß er sich absichtlich bewaffnet und mit Vorbedacht gemordet hat? ‚Ja, aber er hat doch in den Wirtshäusern ein großes Geschrei vollführt, er werde seinen Vater totschlagen! An jenem Abend jedoch, da er seinen Brief schrieb, war er still und zankte sich im Wirtshaus nur mit einem Gehilfen, weil es ganz ohne Streit bei einem Karamasow nun einmal nicht abgeht.‘ Aber darauf antworte ich: Wenn er einen solchen Mord beabsichtigte, und noch dazu nach einem schriftlich abgefaßten Plan, hätte er sich wohl auch nicht mit einem Gehilfen gestritten; er wäre vielleicht überhaupt nicht ins Wirtshaus gegangen, weil eine Seele, die eine solche Tat vorhat, Stille und Verborgenheit sucht und am liebsten ganz verschwinden möchte, damit niemand sie sieht und hört — und zwar handelt sie so nicht mit Berechnung, sondern instinktiv! Meine Herren Geschworenen, die Psychologie ist ein Stab mit zwei Enden, und wir verstehen uns ebenfalls auf diese Wissenschaft. Was nun das Geschrei betrifft, das er während dieses Monats in den Wirtshäusern veranstaltet hat, so möchte ich bemerken: Wie oft schreien betrunkene Zechbrüder, die aus den Schenken kommen, oder Kinder, die sich miteinander zanken: ‚Ich schlage dich tot!‘ Aber sie schlagen keinen tot. Und auch dieser verhängnisvolle Brief — nun, ist der nicht ebenfalls der Ausfluß der gereizten Stimmung eines Betrunkenen? Steht er nicht auf gleicher Stufe mit dem Geschrei eines Menschen, der aus der Schenke herauskommt: ‚Ich schlage euch alle tot!‘ Warum muß er anders aufgefaßt werden? Warum konnte es nicht so sein? Warum ist dieser Brief verhängnisvoll und nicht vielmehr lächerlich? Der Grund ist der, daß die Leiche des ermordeten Vaters gefunden worden ist und daß ein Zeuge den Angeklagten mit einer Waffe im Garten auf der Flucht gesehen hat und selbst von ihm zu Boden geschlagen wurde; also ist alles so ausgeführt worden, wie es geschrieben stand, und darum ist auch der Brief nicht lächerlich, sondern verhängnisvoll. Gott sei Dank, wir sind an den Kernpunkt gelangt: ‚Wenn er im Garten war so bedeutet das, er hat auch den Mord begangen.‘ In diesen beiden Sätzchen erschöpft sich alles, die ganze Anklage: ‚Er war, also bedeutet das zweifellos …‘ Doch wenn das nun nichts ‚bedeutet‘, obgleich er ‚war‘? Oh, ich gebe zu, daß dieses Zusammentreffen der Tatsachen wirklich eine gewisse Überzeugungskraft hat. Aber betrachten Sie doch alle diese Tatsachen einzeln, ohne sich durch ihr Zusammentreffen einschüchtern zu lassen: Warum will die Anklage zum Beispiel um keinen Preis die Wahrheit der Aussage des Angeklagten anerkennen, daß er vom Fenster seines Vaters weggelaufen ist? Erinnern Sie sich bitte, in welchen Sarkasmen sich die Anklage sogar über die respektvollen und ‚frommen‘ Gefühle ergeht, die den Mörder auf einmal überkommen hätten. Wie, wenn es dort in der Tat etwas Ähnliches gab, das heißt zwar nicht gerade respektvolle, aber doch fromme Gefühle? ‚Meine Mutter muß wohl in diesem Augenblick für mich gebetet haben‘, sagte der Angeklagte bei der Voruntersuchung. Und er lief davon, sowie er sich davon überzeugt hatte, daß Fräulein Swetlowa nicht im Hause seines Vaters war. ‚Aber davon konnte er sich nicht durchs Fenster überzeugen‘, erwidert uns die Anklage. Warum soll er das nicht gekonnt haben? Das Fenster war ja auf das Klopfsignal des Angeklagten hin geöffnet worden. Fjodor Pawlowitsch konnte irgendein Wort sagen, ihm konnte irgendein Ausruf entfahren — und der Angeklagte konnte dadurch plötzlich zu der Sicherheit gelangen, daß Fräulein Swetlowa nicht dort war. Warum muß man denn unbedingt annehmen, daß es sich genauso abgespielt hat, wie wir es uns vorstellen, wie wir nun einmal beschlossen haben, es uns vorzustellen? In Wirklichkeit können tausend Dinge mitspielen, die der Kombination des scharfsinnigsten Romanschriftstellers entgehen. ‚Ja, aber Grigori hat die Tür offen gesehen. Somit ist der Angeklagte mit Sicherheit im Haus gewesen; folglich hat er auch den Mord begangen.‘ Also diese Tür, meine Herren Geschworenen … Sehen Sie, daß diese Tür offenstand, bezeugt nur eine einzige Person, die sich zu jener Zeit jedoch in einem Zustand befand, daß … Aber meinetwegen, mag die Tür meinetwegen offengestanden haben, mag es der Angeklagte in dem Bestreben, sich zu verteidigen, geleugnet haben, was in seiner Lage so verständlich ist; mag er meinetwegen in das Haus eingedrungen sein,– na und, was weiter? Warum muß er, wenn er drinnen war, notwendigerweise auch den Mord begangen haben? Er konnte eindringen, durch die Zimmer laufen, den Vater beiseite stoßen, ihn sogar schlagen; doch nachdem er festgestellt hatte, daß Fräulein Swetlowa nicht bei ihm war, konnte er davongelaufen sein, erfreut darüber, daß sie nicht da war. Und vielleicht sprang er auch eine Minute später deshalb zu Grigori hinunter, den er im Jähzorn zu Boden geschlagen hatte, weil er jetzt eines reinen Gefühls fähig war, des Gefühls der Teilnahme und des Mitleids, weil er der Versuchung, seinen Vater totzuschlagen, entflohen war, weil er in sich ein reines Herz fühlte und sich freute, daß er den Vater nicht totgeschlagen hatte. Mit einer geradezu Entsetzen erregenden Beredsamkeit beschreibt uns der Ankläger den furchtbaren Zustand des Angeklagten im Dorf Mokroje, als die Liebe sich ihm von neuem erschloß und ihn zu einem neuen Leben rief, während es ihm bereits unmöglich war zu lieben, da hinter ihm der blutige Leichnam seines Vaters lag und sich hinter diesem drohend die Strafe erhob. Und doch gab der Ankläger die Möglichkeit der Liebe zu; freilich erklärte er sie seiner Psychologie gemäß so: ‚Es war ein Zustand der Trunkenheit. Ein Verbrecher wird zur Richtstätte gefahren, es scheint ihm noch weit zu sein‘ … und so weiter und so fort. Aber ich frage wieder, haben Sie da nicht eine ganz andere Person geschaffen, Herr Ankläger? Ist der Angeklagte wirklich so roh und herzlos, daß er in jenem Augenblick noch an Liebe und an Ausflüchte vor Gericht denken konnte, wenn tatsächlich das Blut seines Vaters an seinen Händen geklebt hätte? Nein, nein und nochmals nein! Sowie ihm klargeworden war, daß sie ihn liebte, ihn zu sich rief, ihm ein neues Glück verhieß — oh, ich schwöre es, da hätte er zweifach, dreifach das Bedürfnis empfinden müssen sich zu töten! Und hätte sich auch unweigerlich getötet wenn der Leichnam seines Vaters hinter ihm gelegen hätte! O nein, er hätte nicht vergessen, wo seine Pistolen lagen! Ich kenne den Angeklagten: Die wilde, stumpfe Herzlosigkeit, die der Ankläger ihm zuschreibt, ist mit seinem Charakter unvereinbar. Er hätte sich getötet, das ist sicher! Und er tötete sich eben deshalb nicht, ‚weil seine Mutter für ihn gebetet hatte‘ und sein Herz am Blut seines Vaters unschuldig war. Er quälte sich in jener Nacht in Mokroje nur um den alten Grigori, den er zu Boden geschlagen hatte, und betete zu Gott, der alte Mann möge wieder zu sich kommen und aufstehen, der Schlag, den er ihm versetzt hatte, möge nicht tödlich sein, und diese Prüfung möge an ihm vorübergehen. Warum sollte man eine solche Deutung der Ereignisse nicht akzeptieren? Welchen sicheren Beweis haben wir dafür, daß der Angeklagte uns belügt? ‚Aber da ist der Leichnam des Vaters!‘, wendet man sofort wieder ein. ‚Wenn er davongelaufen ist, ohne den Mord begangen zu haben — wer hat denn dann den alten Mann ermordet?‘ Ich wiederhole, die ganze Logik der Anklage ist folgende: ‚Wer hat den Mord begangen, wenn nicht er? Es ist niemand vorhanden, den man an seine Stelle setzen könnte!‘ Meine Herren Geschworenen, ist dem wirklich so? Kann man tatsächlich niemand an seine Stelle setzen? Wir haben gehört, wie die Anklage uns an den Fingern alle Personen vorzählte, die in jener Nacht in diesem Haus gewesen sind. Es kamen fünf Personen heraus. Drei von ihnen, da stimme, ich zu, dürften kaum für die Tat in Betracht kommen: nämlich der Ermordete selbst, der alte Grigori und seine Frau. Es bleiben somit der Angeklagte und Smerdjakow, und da erklärt nun der Ankläger voller Pathos, der Angeklagte verweise deswegen auf Smerdjakow, weil er auf sonst niemand verweisen könne; wäre noch irgendein sechster da oder auch nur der Schatten eines sechsten, so würde der Angeklagte aus Scham sofort von selbst aufhören, Smerdjakow zu beschuldigen, und auf diesen sechsten verweisen. Meine Herren Geschworenen, warum sollte ich nicht völlig entgegengesetzt schließen können? Es stehen zwei Menschen vor uns: der Angeklagte und Smerdjakow — warum sollte ich nicht sagen können, daß Sie meinen Klienten nur deswegen beschuldigen, weil Sie keinen anderen haben, den Sie beschuldigen könnten? Und Sie haben nur deswegen keinen anderen, weil Sie Smerdjakow in totaler Voreingenommenheit von vornherein von jeder Beschuldigung ausgeschlossen haben. Ja, es ist wahr, auf Smerdjakow verweisen mit Bestimmtheit nur der Angeklagte, seine beiden Brüder und Fräulein Swetlowa, weiter niemand. Dabei gibt es auch sonst noch diesen und jenen, der auf ihn verweist. Es herrscht in der Gesellschaft eine gewisse, wenn auch unklare Gärung; man wirft eine Frage auf, man äußert einen Verdacht, man hört ein undeutliches Gerücht, man spürt, daß eine bestimmte Erwartung in der Luft liegt. Schließlich legt auch ein gewisses Zusammentreffen von Tatsachen ein Zeugnis ab, das sehr charakteristisch, obgleich, wie ich gestehe, ziemlich unbestimmt ist. Erstens dieser epileptische Anfall ausgerechnet am Tag der Katastrophe, den der Ankläger aus irgendwelchen Gründen so eifrig in Schutz zu nehmen und zu verteidigen für nötig hielt. Dann dieser plötzliche Selbstmord Smerdjakows einen Tag vor der Gerichtsverhandlung. Dann die nicht minder überraschende Aussage des älteren Bruders des Angeklagten heute vor Gericht, der bisher an die Schuld seines Bruders geglaubt hat, auf einmal Geld ausliefert und ebenfalls Smerdjakow namentlich als den Mörder angibt. Oh, ich bin mit dem Gerichtshof und der Staatsanwaltschaft völlig darin einig, daß Iwan Karamasow krank ist, daß er ein Nervenfieber hat und daß seine Aussage vielleicht wirklich nur ein verzweifelter, noch dazu vom Fieber diktierter Versuch ist, den Bruder durch Abwälzung der Schuld auf einen Toten zu retten. Dennoch ist wieder der Name Smerdjakow gefallen, hört man wieder etwas Rätselhaftes. Es ist, als wäre hier noch nicht alles ausgesprochen, meine Herren Geschworenen, als wäre die Sache noch nicht beendet. Und vielleicht wird das Fehlende noch ausgesprochen werden. Aber lassen wir das vorläufig — die Zukunft wird wohl Licht in die Angelegenheit bringen. Das Gericht hat vorhin beschlossen, die Sitzung fortzusetzen; einstweilen jedoch, während wir auf neue Aufklärung warten, könnte ich die eine oder andere Bemerkung machen, zum Beispiel zu der Charakteristik des verstorbenen Smerdjakow, die uns der Ankläger in so feiner, talentvoller Weise vorgetragen hat. Doch bei aller Bewunderung seines Talents kann ich mich mit dem Inhalt dieser Charakteristik nicht völlig einverstanden erklären. Ich bin bei Smerdjakow gewesen, ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen; er hat auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht. Gesundheitlich stand es schlecht mit ihm, das ist richtig; was aber seinen Charakter und sein Herz betraf — o nein, da war er durchaus kein so schwacher Mensch, wie die Anklage angenommen hat. Vor allem fand ich bei ihm keineswegs jene Schüchternheit vor, die uns der Ankläger in so markanter Weise beschrieben hat. Auch Offenherzigkeit war bei ihm nicht vorhanden, im Gegenteil, ich stieß auf ein furchtbares Mißtrauen, das sich hinter Naivität versteckte, und auf einen Verstand, der sehr vieles zu begreifen vermochte. Oh, wenn die Anklage ihn für schwachsinnig erachtet, so verfährt sie allzu harmlos. Auf mich machte er folgenden Eindruck: Ich verließ ihn mit der Überzeugung, daß er ein durch und durch boshaftes, maßlos ehrgeiziges, rachsüchtiges und neidisches Geschöpf ist. Ich habe, soweit ich konnte, Erkundungen über ihn eingezogen. Er haßte seine Herkunft, schämte sich ihrer und erinnerte sich nur zähneknirschend daran, daß er von der Stinkenden abstammte. Dem Diener Grigori und dessen Frau, den Wohltätern seiner Kindheit, gegenüber benahm er sich respektlos. Rußland verfluchte er und spottete über dieses sein Vaterland. Das Ziel seiner Sehnsucht war, nach Frankreich zu gehen, um dort ein Franzose zu werden. Er hat schon früher viel und oft darüber gesprochen, daß es ihm dafür an den nötigen Mitteln fehlte. Ich glaube, er hat niemand geliebt außer sich selbst, und sich selbst hat er in verblüffendem Maß geschätzt. Bildung bestand für ihn in guter Kleidung, sauberen Vorhemdchen und blankgeputzten Stiefeln. Da er sich für einen unehelichen Sohn von Fjodor Pawlowitsch hielt — und daß er das tat, dafür gibt es Beweise —, konnte er seine Lage mit Hinblick auf die der legitimen Kinder seines Herrn durchaus hassen: Ihnen gehörte alles und ihm nichts, mochte er denken; sie hatten alle Rechte, ihnen fiel die Erbschaft zu, er aber war nur Koch. Er teilte mir mit, er selbst habe zusammen mit Fjodor Pawlowitsch das Geld in das Kuvert getan. Die Bestimmung dieser Summe, die ihm seine beabsichtigte Karriere hätte ermöglichen können, war ihm natürlich verhaßt. Außerdem sah er die dreitausend Rubel in reinlichen regenbogenfarbenen Banknoten; ich habe ihn danach ausdrücklich gefragt. Oh, zeigen Sie nie einem neidischen, selbstsüchtigen Menschen eine große Geldsumme auf einmal! Er erblickte damals zum erstenmal eine solche Summe in einer Hand. Der Anblick des regenbogenfarbenen Päckchens konnte in krankhafter Weise auf seine Einbildungskraft wirken, zunächst noch ohne weitere Folgen. Der hochbegabte Ankläger hat uns mit außerordentlichem Scharfsinn alle Gründe vorgetragen, die für und gegen die Möglichkeit sprechen, Smerdjakow des Mordes zu beschuldigen, und er hat besonders gefragt: ‚Welchen Zweck hatte es für ihn, einen epileptischen Anfall zu simulieren?‘ Ja, aber vielleicht simulierte er gar nicht? Der Anfall konnte sich auf ganz natürliche Weise einstellen, konnte jedoch auch auf ganz natürliche Weise wieder vorübergehen, und der Kranke konnte das Bewußtsein wiedererlangen. Eine völlige Genesung war zwar so schnell nicht möglich, wohl aber konnte er einmal wieder zu sich kommen und das Bewußtsein erlangen, wie das bei der Epilepsie vorkommt. Die Anklage fragt: ‚Wo ist der Augenblick, da Smerdjakow den Mord begangen haben könnte?‘ Einen solchen Augenblick nachzuweisen ist außerordentlich leicht. Er konnte das Bewußtsein wiedererlangen und aus tiefem Schlaf erwachen — denn er schlief doch nur, nach einem epileptischen Anfall versinkt der Betreffende immer in einen tiefen Schlaf — genau in dem Augenblick, als der alte Grigori den flüchtenden Angeklagten am Bein packte und weithin vernehmbar ‚Vatermörder!‘ schrie. Dieser ungewöhnliche Schrei in der Stille und Dunkelheit konnte Smerdjakow aufwecken, dessen Schlaf vielleicht nicht mehr sehr fest war: Er konnte auf ganz natürliche Weise schon seit einer Stunde langsam erwacht sein. Nachdem er sich vom Bett erhoben hat, begibt er sich noch fast bewußtlos hinaus ohne besondere Absicht, nur um wegen des Schreis zu sehen, was denn los sei. In seinem Kopf herrscht eine krankhafte Benommenheit, seine Denkkraft schlummert noch; doch nun ist er im Garten, tritt an die erleuchteten Fenster und hört von seinem Herrn, der natürlich über sein Kommen erfreut ist, die schreckliche Nachricht. Die Denkkraft in seinem Kopf erwacht urplötzlich wieder. Von dem erschrockenen Herrn erfährt er alle Einzelheiten. Und da entsteht in seinem zerrütteten kranken Gehirn allmählich ein furchtbarer, aber verführerischer und unwiderleglich logischer Gedanke: seinen Herrn totzuschlagen, die dreitausend Rubel zu nehmen und dann alle Schuld auf den Sohn des Herrn zu schieben — auf wen anders würde jetzt Verdacht fallen als auf ihn? Auf ihn treffen alle Anzeichen zu, er ist dagewesen! Eine schreckliche Gier nach Geld, nach Beute im Verein mit der Vorstellung, daß ihn keine Strafe treffen würde, nimmt ihm fast den Atem. Oh, ein derartiger plötzlicher, unwiderstehlicher Drang stellt sich ja so häufig bei sich bietender Gelegenheit ein und überfällt plötzlich gerade solche Mörder, die noch eine Minute vorher nicht gewußt haben, daß sie einen Mord begehen wollen! Und so konnte denn Smerdjakow zu seinem Herrn hineingehen und seinen Plan ausführen. Womit, mit was für einer Waffe? Nun, mit dem ersten besten Stein, den er im Garten aufgehoben hatte. Und wozu? Zu welchem Zweck? Nun, mit dreitausend Rubeln konnte er sich schon weiterhelfen. Oh, ich widerspreche mir nicht: es ist auch möglich, daß das Geld gar nicht vorhanden war. Vielleicht war auch Smerdjakow der einzige, der wußte, wo es zu finden war, wo der Herr es in Wirklichkeit liegen hatte. Nun, und das zerrissene Kuvert auf dem Fußboden? Als vorhin der Ankläger von diesem Kuvert sprach und uns eine außerordentlich feine Erörterung darüber vortrug, daß es eigentlich nur ein ungeübter Dieb wie Karamasow auf dem Fußboden liegenlassen konnte, bestimmt nicht Smerdjakow, der auf keinen Fall ein solches Indiz gegen sich zurückgelassen hätte — als ich das hörte, meine Herren Geschworenen, hatte ich auf einmal die Empfindung, längst Bekanntes zu hören. Und stellen Sie sich vor: Diese selbe Überlegung, wie Karamasow mit dem Kuvert habe verfahren können, hatte ich schon zwei Tage zuvor von Smerdjakow selbst gehört! Und etwas hat mich dabei sehr frappiert. Es schien mir nämlich, als fingiere er Naivität, als käme er mir absichtlich entgegen, als souffliere er mir diesen Gedanken, damit ich selbst diese Schlußfolgerung zöge. Hat er ihn vielleicht auch der Untersuchungsbehörde souffliert? Hat er ihn vielleicht auch dem hochbegabten Ankläger aufgedrängt? Man wird sagen: Aber die alte Frau Grigoris? Sie hat doch gehört, wie der Kranke neben ihr die ganze Nacht stöhnte. Richtig, sie hat es gehört; so eine Wahrnehmung ist jedoch außerordentlich unzuverlässig. Ich kannte eine Dame, die sich bitter darüber beklagte, daß ein kleiner Hund auf dem Hof sie die ganze Nacht nicht habe schlafen lassen. Und dabei hatte das arme Hündchen, wie festgestellt wurde, überhaupt nur zwei- oder dreimal in der ganzen Nacht gebellt. Und das ist ganz natürlich: Jemand schläft und hört auf einmal ein Stöhnen; er wacht ärgerlich auf, schläft aber augenblicklich wieder ein. Nach zwei Stunden wieder Stöhnen, er wacht wieder auf und schläft wieder ein; endlich nochmals Stöhnen, und zwar wieder nach zwei Stunden, im ganzen dreimal in der Nacht. Am Morgen steht der Schläfer auf und beklagt sich, daß jemand die ganze Nacht gestöhnt und ihn fortwährend geweckt habe. Und es muß ihm auch so vorkommen: In den Zwischenzeiten hat er geschlafen, jedesmal zwei Stunden lang, und er erinnert sich ihrer nicht; er erinnert sich nur an die Minuten seines Wachens, und da scheint es ihm, als sei er die ganze Nacht über geweckt worden. ‚Aber warum‘, ruft die Anklage, ‚hat Smerdjakow auf dem hinterlassenen Zettel kein Geständnis abgelegt? Zu dem einen reichte sein Gewissen aus, aber zu dem anderen nicht.‘ Bitte erlauben Sie: Gewissen, das ist schon Reue. Und Reue fühlte dieser Selbstmörder wohl gar nicht, sondern nur Verzweiflung. Verzweiflung und Reue, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Verzweiflung kann boshaft und unversöhnlich sein, und der Selbstmörder konnte in dem Augenblick, als er Hand an sich legte, doppelt diejenigen hassen, die er sein Leben lang beneidet hatte. Meine Herren Geschworenen, hüten Sie sich vor einem Justizirrtum! Inwiefern ist alles das, was ich Ihnen soeben dargelegt habe, unwahrscheinlich? Finden Sie in meiner Auseinandersetzung einen Fehler, eine Unmöglichkeit, eine Sinnlosigkeit? Falls aber an meinen Annahmen auch nur ein Schatten von Möglichkeit, auch nur ein Schatten von Wahrscheinlichkeit ist, so sollten Sie sich einer Verurteilung enthalten. Und ist hier etwa nur ein Schatten vorhanden? Ich schwöre bei allem, was heilig ist: Ich glaube vollkommen an meine Auffassung des Mordes, die ich Ihnen soeben vorgetragen habe. Was mich jedoch ganz besonders aufregt und aus der Fassung bringt, ist immer ein und derselbe Gedanke: daß es in der ganzen Masse von Tatsachen, die die Anklage auf den Angeklagten gehäuft hat, auch nicht eine einzige gibt, die irgendwie zwingend und unwiderleglich wäre, sondern daß der Unglückliche lediglich durch das Zusammentreffen dieser Tatsachen zugrunde geht! Ja, dieses Zusammentreffen ist furchtbar: das von den Fingern herabfließende Blut, die blutige Wäsche, die dunkle, von dem Schrei ‚Vatermörder!‘ durchhallte Nacht und der Schreiende, der mit eingeschlagenem Schädel niederstürzt, dann diese Masse von Äußerungen, Aussagen, Gebärden, Ausrufen — oh, das übt eine so gewaltige Wirkung aus und kann so leicht die Überzeugung bestechen. Aber sollte es etwa auch Ihre Überzeugung bestechen können, meine Herren Geschworenen? Denken Sie daran, daß Ihnen eine unbegrenzte Macht zu binden und zu lösen gegeben ist. Und je größer diese Macht ist, desto furchtbarer ist ihr Gebrauch! Ich nehme nicht ein Jota von dem zurück, was ich soeben gesagt habe; aber sei es drum, meinetwegen, ich will mich für einen Augenblick auf den Standpunkt der Anklage stellen und annehmen, daß mein unglücklicher Klient seine Hände mit dem Blut seines Vaters befleckt hat. Das ist nur eine Annahme, ich wiederhole es! Ich zweifle keinen Augenblick an seiner Unschuld; aber mag es sein, ich will annehmen, daß mein Angeklagter des Vatermordes schuldig ist. Selbst wenn ich eine solche Annahme für zulässig hielte, hören Sie bitte dennoch, was ich Ihnen sagen möchte. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, Ihnen noch etwas zu sagen; denn ich sehe voraus, daß auch ein jeder von Ihnen in seinem Herzen und seinem Geist einen großen Kampf auszufechten haben wird … Verzeihen Sie mir dieses Wort von Ihrem Herzen und Ihrem Geist, meine Herren Geschworenen! Aber ich will wahrhaft und aufrichtig sein bis zum Schluß. Lassen Sie uns bitte alle aufrichtig sein!
An dieser Stelle unterbrach den Verteidiger ein ziemlich lautes Beifallklatschen. In der Tat hatte er seine letzten Worte mit dem Unterton einer solchen Aufrichtigkeit gesprochen, daß alle das Gefühl hatten, er habe vielleicht wirklich etwas Besonderes zu sagen, und zwar das Wichtigste. Als jedoch der Präsident das Beifallklatschen hörte, drohte er laut, den Gerichtssaal »räumen« zu lassen, falls sich »etwas Derartiges« wiederholen sollte. Alles wurde still, und Fetjukowitsch sprach ganz anders weiter, als er bisher gesprochen hatte: mit einer neuen Stimme, der man die Ergriffenheit anmerkte.