Quellen
Seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts ist indes ein bei weitem kritischerer Geist über Irland gekommen, namentlich durch Petrie und O'Donovan. Petries bereits angeführte Untersuchungen beweisen die vollständigste Einstimmung der erhaltenen ältesten Inschriften seit dem 6. und 7. Jahrhundert mit den Annalen, und O'Donovan ist der Ansicht, daß diese schon vom 2. und 3. Jahrhundert unsrer Zeitrechnung anfangen, historische Tatsachen zu berichten. Für uns kann es ziemlich gleichgültig sein, ob die Glaubwürdigkeit der Annalen einige hundert Jahre früher oder später beginnt, denn leider sind sie für unsern Zweck in jener Zeit fast ganz unfruchtbar. Sie enthalten kurze, trockne Notizen von Todesfällen, Thronbesteigungen, Kriegen, Schlachten, Erdbeben, Seuchen, skandinavischen Raubzügen, aber wenig, was auf das soziale Leben des Volks Bezug hat. Wäre die gesamte juristische Literatur Irlands herausgegeben, so würden sie ganz andre Bedeutung bekommen; manche trockne Notiz würde durch erklärende Stellen der Rechtsbücher neues Leben erhalten.
Diese Rechtsbücher, die sehr zahlreich sind, erwarten aber ebenfalls fast alle noch die Zeit, wo sie das Licht der Welt erblicken sollen. Auf Andringen mehrerer irischer Altertumsforscher willigte die englische Regierung 1852 ein, eine Kommission zur Herausgabe der alten Gesetze und Institutionen Irlands zu ernennen. Aber wie? Die Kommission bestand aus drei Lords (die nie fehlen dürfen, wo es Staatsgelder zu verzehren gibt), drei Juristen höchsten Rangs, drei protestantischen Geistlichen, ferner dem Dr. Petrie und einem Offizier, Chef der Vermessung Irlands. Von allen diesen Herren konnten nur Dr. Petrie und zwei Geistliche, Dr. Graves (jetzt protestantischer Bischof von Limerick) und Dr. Todd, den Anspruch erheben, von der Aufgabe der Kommission irgend etwas zu verstehn, und von diesen sind Petrie und Todd seitdem verstorben. Die Kommission erhielt den Auftrag, die Abschrift, Übersetzung und Herausgabe der alten irischen Handschriften juristischen Inhalts besorgen zu lassen und dafür die nötigen Leute anzustellen. Sie stellte dafür die beiden besten Leute an, die zu haben waren: Dr. O'Donovan und Professor O'Curry, die eine Menge Manuskripte kopierten und im ersten Entwurf übersetzten; ehe indes etwas zur Herausgabe fertig war, starben beide. Ihre Nachfolger Dr. Hancock und Prof. O'Mahony haben dann die Arbeit so weit fortgeführt, daß bis jetzt die bereits angeführten zwei Bände erschienen sind, enthaltend den "Senchus Mor". Von den Mitgliedern der Kommission haben nach dem Eingeständnis der Herausgeber nur zwei, Graves und Todd, durch irgendwelche Annotationen zu den Korrekturbogen sich an der Arbeit beteiligt. Der Offizier, Sir Th. Larcom, stellte den Herausgebern behufs der Verifikation von Ortsnamen die Originalkarten der Aufnahme von Irland zur Verfügung; Dr. Petrie starb bald, die übrigen Herren beschränkten ihre Tätigkeit darauf, ihr Gehalt während 18 Jahren gewissenhaft einzuziehen.Dies ist die Art, in der in England, und mehr noch in dem von England beherrschten Irland, öffentliche Arbeiten ausgeführt werden. Ohne Jobberei 16) geht es nicht ab. Keinem öffentlichen Interesse darf genügt werden, ohne daß dabei eine hübsche Summe oder einige fette Sinekuren für Lords und Regierungsprotegés abfallen. Mit dem Geld, das die ganz überflüssige Kommission verzehrt hat, hätte man in Deutschland die sämtliche ungedruckte historische Literatur gedruckt - und besser.
Der "Senchus Mor" ist bis jetzt unsere Hauptquelle für die altirischen Zustände. Er ist eine Sammlung alter Rechtsbestimmungen, die nach der - später verfaßten - Einleitung auf Veranlassung St. Patricks zusammengestellt und durch seinen Beirat mit dem sich in Irland rasch ausbreitenden Christentum in Einklang gebracht wurde. Der Oberkönig von Irland, Laeghaire (428-458 nach den "Annalen [der] IV Mag."), die Unterkönige Corc von Munster und Daire, wahrscheinlich ein Fürst in Ulster, ferner drei Bischöfe: St. Patrick, St. Benignus und St. Cairnech, endlich drei Rechtsgelehrte, Dubthach, Fergus und Rossa, sollen die "Kommission "gebildet haben, die das Buch zusammenstellte und die ihre Arbeit sicher wohlfeiler tat als die jetzige, die es bloß herauszugeben hat. Die "IV Mag." geben das Jahr 438 als das der Abfassung an.
Der Text selbst beruht offenbar auf uralten heidnischen Materialien. Die ältesten Rechtsformeln darin sind alle in Versen abgefaßt, mit bestimmtem Metrum und dem sogenannten Einklang, einer Art Alliteration oder vielmehr Konsonanten-Assonanz, die der irischen Dichtkunst eigentümlich ist und häufig in vollen Reim übergeht. Da es feststeht, daß alte irische Rechtsbücher aus dem sogenannten fenischen Dialekt (Bérla Feini), der Sprache des 5. Jahrhunderts, im 14. Jahrhundert in das damals geläufige Irisch übertragen wurden (Vorrede, [T. 1,] p. XXXVI und passim), so erklärt es sich, daß auch im "Senchus Mor" an manchen Stellen das Metrum mehr oder weniger verwischt ist; es tritt aber nebst gelegentlichen Reimen und stark einklingenden Stellen noch oft genug hervor, um dem Text einen gewissen rhythmischen Fall zu geben. Schon das Lesen der Übersetzung genügt meist, um die Versformeln aufzufinden. Dazwischen aber sind dann auch, namentlich in der letzten Hälfte, eine Menge Stellen unzweifelhafter Prosa; während die Versformeln sicher uralt und traditionell überliefert sind, scheinen diese prosaischen Einschiebsel von den Kompilatoren des Buchs herzurühren. Der "Senchus Mor" wird übrigens in dem dem König und Bischof von Cashel, Cormac, zugeschriebnen, im 9. oder 10. Jahrhundert verfaßten Glossar mehrmals zitiert, und er ist unzweifelhaft lange vor der englischen Invasion niedergeschrieben.
Zu diesem Text nun enthalten sämtliche Handschriften (die älteste scheint aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts oder älter zu sein) eine Reihe von meist übereinstimmenden Glossen und längeren kommentierenden Noten. Die Glossen sind ganz im Geist der alten Glossare, Wortspiele vertreten die Stelle der Etymologie und Worterklärung; die Anmerkungen sind von sehr verschiednem Wert, oft arg entstellt und vielfach wenigstens ohne Kenntnis der übrigen Rechtsbücher unverständlich. Das Alter beider ist ungewiß; der größte Teil ist aber wahrscheinlich jünger als die englische Invasion. Da sie indes nur sehr wenig Spuren einer über den Text hinausgehenden Rechtsentwicklung aufzeigen und auch diese nur in genauerer Feststellung des Details, so ist der größere, rein erklärende Teil mit einiger Diskretion unbedingt als Quelle auch für die ältere Zeit zu benutzen.
Der "Senchus Mor" enthält: 1. das Pfändungsrecht, d.h. so ziemlich das ganze Rechtsverfahren; 2. das Recht der Geiseln, die bei Streitigkeiten von Leuten verschiedner Territorien gestellt wurden; 3. das Recht betreffend Saerrath und Daerrath (s. unten) und 4. das Familienrecht. Wir erlangen dadurch viele wertvolle Aufschlüsse über das gesellschaftliche Leben jener Zeit; solange aber noch eine Menge Ausdrücke nicht erklärt und die übrigen Manuskripte nicht veröffentlicht sind, bleibt manches dunkel.
Außer der Literatur geben uns noch die erhaltenen Baudenkmäler, Kirchen, Rundtürme, Befestigungen, Inschriften, Aufklärung über den Zustand des Volks vor der Ankunft der Engländer.
Von auswärtigen Quellen haben wir nur einige Stellen über Irland in skandinavischen Sagas und das Leben des Heiligen Malachias von St. Bernhard zu erwähnen, welche wenig Ausbeute geben, und kommen dann sofort zu dem ersten Engländer, der aus eigner Kenntnis über Irland schreibt.
Sylvester Gerald Barry, genannt Giraldus Cambrensis, Archidiakonus von Brecknock, war ein Enkel der galanten Nesta, Tochter von Rhys ap Tewdwr, Fürst von Südwales, der Mätresse Heinrichs I. von England und der Stammutter fast aller normännischen Hauptleute, die zur ersten Eroberung von Irland mitwirkten. Er ging 1185 mit Johann (später "ohne Land") nach Irland und schrieb in den folgenden Jahren zuerst "Topographia Hibernica", eine Beschreibung des Landes und der Einwohner, sodann "Hibernia Expugnata", die hochgefärbte Geschichte der ersten Invasionen. Hier geht uns hauptsächlich das erstere Werk an. In einem höchst prätentiösen Latein geschrieben, erfüllt mit dem tollsten Wunderglauben und allen kirchlichen und nationalen Vorurteilen der Zeit und der Race des eitlen Verfassers, ist das Buch dennoch als erster, einigermaßen ausführlicher Bericht eines Ausländers von hoher Wichtigkeit.17)
Von jetzt an werden die anglo-normannischen Quellen über Irland natürlich reichlicher; gering aber bleibt die Ausbeute für die Kenntnis der sozialen Zustände des unabhängig gebliebenen Teils der Insel, woraus Rückschlüsse auf den alten Zustand gemacht werden könnten. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als Irland zuerst systematisch und vollständig unterworfen wurde, erhalten wir ausführlichere, natürlich stark englisch gefärbte Berichte über die wirkliche Lebenslage des irischen Volks. Wir werden später finden, daß im Lauf der seit der ersten Invasion verflossenen 400 Jahre der Zustand des Volks sich nur wenig, und das nicht zum Bessern, verändert hatte. Aber eben deswegen sind diese neueren Schriften - Hanmer, Campion, Spencer, Davies, Camden, Moryson u.a. -, die wir noch öfter werden zu Rate ziehen müssen, eine unsrer Hauptquellen für eine fünfhundert Jahre ältere Periode und eine unumgängliche, sehr erwünschte Ergänzung der dürftigen Originalquellen.
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16) Jobberei, jobbery, nennt man in England die Benutzung von Staatsämtern zum eignen Privatvorteil oder zu dem von Verwandten und Freunden, desgleichen Verwendung von Staatsgeldern zu indirekter Bestechung in Parteizwecken. Die einzelne Handlung heißt job. Die englische Kolonie in Irland ist das Haupttreibhaus aller Jobberei.
17) "Giraldi Cambrensis Opera", ed, J. S. Brewer, London, Longmans, 1863. - Eine (schwache) englische Übersetzung der historischen Werke, worunter auch obige zwei Schriften ("The Historical Works of G[iraldus] C[ambrensis]"), kam heraus 1863 in London bei Bohn.