Raubzüge der Nordmänner
Ehe diese Entwicklung höherer Bildung aber auf das Volk zurückwirken konnte, wurde sie unterbrochen durch die Raubzüge der Nordmänner. Diese Raubzüge, die den Hauptstapelartikel des skandinavischen, besonders dänischen Patriotismus bilden, kamen zu spät und gingen von zu kleinen Völkern aus, als daß sie in Eroberungen, Kolonisationen und Staatenbildungen auf großem Maßstab hätten ausmünden können, wie dies bei den früheren Einfällen der Germanen der Fall gewesen. Der Vorteil für die geschichtliche Entwicklung, den sie hinterlassen haben, ist verschwindend klein gegen die ungeheuren und selbst für Skandinavien fruchtlosen Störungen, die sie angerichtet.
Irland war um das Ende des 8. Jahrhunderts weit davon entfernt, von einer einigen Nation bewohnt zu sein. Ein Oberkönigtum der ganzen Insel existierte nur zum Schein, und auch das bei weitem nicht immer. Die Provinzialkönige, deren Zahl und Landbesitz fortwährend wechselte, bekriegten sich untereinander, und die kleineren Territorialfürsten hatten ebenfalls ihre Privatfehden. Im ganzen aber scheint in diesen inneren Kämpfen ein gewisser Komment geherrscht zu haben, der die Verwüstungen in bestimmte Grenzen bannte, so daß das Land darunter nicht zu sehr litt. Aber es sollte anders werden. 795, einige Jahre nach der ersten Heimsuchung Englands durch dasselbe Räubervolk, landeten Nordmänner auf der Insel Rathlin an der Küste von Antrim und brannten alles nieder; 798 landeten sie bei Dublin und werden seitdem fast jährlich in den Annalen erwähnt, als Helden, Fremde, Seeräuber, nie ohne den Zusatz losccadh (Niederbrennung) eines oder mehrerer Orte. Ihre Niederlassungen auf den Orkneys, Shetlands und den Hebriden (Süderinseln, Sudhreyjar der altnordischen Sagas) dienten ihnen als Operationsbasis gegen Irland wie gegen das spätere Schottland und gegen England. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts waren sie im Besitz Dublins 20), das sie nach Giraldus erst in eine ordentliche Stadt umbauten, wie er ihnen auch die Erbauung von Waterford und Limerick zuschreibt. Der Name Waterford selbst ist nur die hier sinnlose Anglisierung des altnordischen Vedhrafiördhr, was entweder Sturmbucht (Wetterföhrde) oder Widderbucht bedeutet. Erstes Bedürfnis für die Nordmänner, sobald sie sich im Lande niederließen, war natürlich der Besitz befestigter Hafenstädte; die Bevölkerung dieser Städte blieb noch lange skandinavisch, hatte sich aber im 12. Jahrhundert längst den Iren in Sprache und Sitte assimiliert. Die Zwistigkeiten der irischen Fürsten untereinander erleichterten den Nordmännern die Ausplünderung und Niederlassung und selbst die zeitweilige Eroberung der ganzen Insel ungemein. Wie sehr Irland den Skandinaviern selbst als eins ihrer regelmäßigen Beuteländer galt, zeigt der um das Jahr 1000 verfaßte angebliche Sterbegesang Ragnar Lodbrôks im Schlangenturm König Ellas von Northumberland, das "Krâkumal". In diesem Lied rafft sich die altheidnische Wildheit gleichsam zum letztenmal zusammen, und unter dem Vorwand, König Ragnars Heldentaten zu besingen, werden vielmehr die Raubzüge des gesamten nordischen Volks im eignen Lande, wie an den Küsten von Dünamünde bis Flandern, Schottland (das hier schon Skotland heißt, vielleicht zum erstenmal) und Irland kurz geschildert. Von Irland heißt es:
"Wir schlugen drein mit Schwertern, häuften hoch Erschlagne,
Froh ward des Wolfes Bruder der Atzung durch Wutkampf;
Eisen traf auf Erzschild; nicht ließ Irlands Herrscher,
Marstein, Mangel leiden den Mordwolf, noch den Adler;
Ward im Vedhrafiördhr Walopfer gegeben den Raben.
Wir schlugen drein mit Schwertern, morgens ein Spiel anhuben,
Lustgen Kampf vor Lindiseyri, mit Landsfürsten dreien;
Freuten sich nicht viele, daß heil von dort sie flohen;
Falk kämpft ums Fleisch mit Wolfe, Wolfsrachen frahs manchen;
Stromweis floß im Streite am Strand Blut der Iren."21)
Bereits in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts gelang es einem nordmännischen Wiking, Thorgils, von den Iren Turgesius genannt, sich ganz Irland zu unterwerfen, aber mit seinem Tode 844 fiel auch sein Reich auseinander, und die Nordmänner wurden vertrieben. Die Invasionen und Kämpfe dauern fort mit wechselndem Erfolg, bis endlich im Anfang des 11. Jahrhunderts der Nationalheld Irlands, Brian Borumha, ursprünglich nur König eines Teils von Munster, sich zum Beherrscher von ganz Irland aufschwingt und den mit konzentrierter Macht in Irland einfallenden Nordmännern am 23. April (Karfreitag) 1014 bei Clontarf (dicht bei Dublin) die Entscheidungsschlacht liefert, wodurch die Macht der Eindringlinge für immer gebrochen wird.
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20) Die Angabe Snorris in der "Haraldsaga", daß Harald Hårfagrs Sohne, Thorgils und Frodi, zuerst von allen Nordmännern Dublin besessen hätten - also mindestens 50 Jahre später als angegeben -, steht mit den sämtlichen, für diese Zeit unbezweifelten irischen Nachrichten im Widerspruch. Snorri verwechselt offenbar Thorgils, den Sohn Harald Hårfagrs, mit dem untenerwähnten Thorgils = Turgesius.
21) "Hiuggu ver medh hiörvi, hverr lâthverr of annan;
gladhr vardh gera brôdhir getu vidh sôknar laeti,
lêt ei örn ne ylgi, sâ er Îrlandi styrdhi,
(môt vardh mâlms ok rîtar) Marsteinn konungr fasta;
vardh î Vedhra firdhi valtafn gefit hrafni.
Hiuggu ver medh hiörvi, hâdhum sudhr at morni
leik fyrir Lindiseyri vidh lofdhûnga threnna;
fârr âtti thvî fagna (fêll margr î gyn ûlfi,
haukr sleit hold medh vargi), at hann heill thadhan kaemi;
Yra blôdh î oegi aerit fêll um skaeru."
Vedhrafiördhr ist, wie gesagt, Waterford; ob Lindiseyri irgendwo aufgefunden, ist mir unbekannt. Keinesfalls bedeutete es Leinster, wie Johnstone übersetzt; das eyri (sandige Landzunge, dänisch öre) weist auf eine ganz bestimmte Lokalität hin. Valtafn kann auch heißen Falkenfutter und wird hier meist so übersetzt, da aber der Rabe Odins heiliger Vogel ist, so spielt das Wort offenbar in beiden Bedeutungen.