Völker desselben Stammes
Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto mehr verschwinden die Kennzeichen, wodurch Völker desselben Stammes sich voneinander unterscheiden. Einerseits liegt dies in der Natur der Quellen, die im Verhältnis des höheren Alters dürftiger werden und sich auf das Wesentlichste beschränken, andrerseits aber auch in der Entwicklung der Völker selbst. Die einzelnen Zweige des Stammes standen sich um so näher, glichen einander um so mehr, je weniger sie vom Urstamm selbst abstanden. Mit vollem Recht hat Jacob Grimm stets alle Nachrichten von den römischen Historikern, die den Cimbernzug beschrieben, bis auf Adam von Bremen und Saxo Grammaticus, alle Literaturdenkmäler von "Beowulf" und "Hildebrandslied" bis auf die "Edden" und Sagas, alle Rechtsbücher von den leges barbarorum bis auf die altdänischen und altschwedischen Gesetze und die deutschen Weistümer als gleich wertvolle Quellen für deutschen Nationalcharakter, deutsche Sitten und Rechtsverhältnisse behandelt. Der spezielle Charakter mag nur lokale Bedeutung haben, der Charakter, der sich in ihm spiegelt, ist dem ganzen Stamme gemein; und je älter die Quellen, desto mehr schwinden die lokalen Unterschiede.
Wie Skandinavier und Deutsche im 7. und 8. Jahrhundert sich weniger unterschieden als heute, so müssen auch irische Kelten und gallische Kelten ursprünglich einander ähnlicher gewesen sein, als heutige Irländer und Franzosen sind. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn wir in Cäsars Schildrung der Gallier eine Menge Züge finden, die Giraldus zwölf Jahrhunderte später wieder den Iren zuschreibt und die wir noch heute, trotz aller Beimischung germanischen Bluts, im irischen Nationalcharakter wiederfinden ...