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Psychologie

Psychologie (vom gr. psychê = Seele und logos = Lehre, Seelenlehre) heißt die Wissenschaft, welche darlegt, wie die Erfahrung ihrem ganzen Umfange nach aus den Vorgängen im Subjekte entsteht. „Sie untersucht den gesamten Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subjekt und in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften“ (Wundt, Grundriß d. Psychologie, 7. Auflage, Leipzig 1905, S. 3). Sie hat die uns unmittelbar gegebenen Vorgänge unseres Bewußtseins zu ermitteln und durch Analyse auf ihre Grundlagen zurückzuführen, ihre Entstehung und die Verbindung ihrer Elemente untereinander und ihren Verlauf zu erforschen, und die Gesetze, nach denen sich die inneren Vorgänge für sich und in ihren Beziehungen zur Wirklichkeit abspielen, festzustellen. Sie beruht auf der Erfahrung und muß ihrer Methode nach zunächst streng empirisch sein. Sie, wie andere auf der Grundlage der Erfahrung beruhende Wissenschaften synthetisch zu einer Entwicklungsgeschichte umzugestalten, ist ein Ziel, dem zugestrebt werden muß, das aber zurzeit noch nicht erreicht ist. Die Psychologie ist kein Teil der Metaphysik. Nur in ihren Endhypothesen kann sie in metaphysische Spekulationen über das Wesen der Seele hinauslaufen, aber sie kann nicht mit metaphysischen Voraussetzungen beginnen. Wie sie sich von aller Metaphysik unabhängig halten muß, um fruchtbar zu sein, und nach dem Ausdruck von Lange (1828-1875) eine Psychologie ohne Seele sein muß, so kann sie auch nicht einfach die Wege der Naturwissenschaft gehen. Die Naturwissenschaft abstrahiert nach Möglichkeit von den Beziehungen des gegebenen Erfahrungsinhaltes zum Subjekt, während diese Beziehungen gerade der Gegenstand der Forschungen der Psychologie sind. So ist die Psychologie weder mit Hegel, der die Seelenvorgänge konstruktiv als Momente der Selbstentwicklung des Geistes bestimmt, nur für einen Teil der Metaphysik, noch mit Beneke, der von Erfahrungen ausgeht und dieselben rationell zu verarbeiten sucht, lediglich für Naturwissenschaft zu halten. Sie hat ihr eigenes Forschungsgebiet und ihre eigene Methode. Sie dient allen Geisteswissenschaften, wie Philologie, Geschichte, Rechtslehre, Staatslehre usw. zur Grundlage und erfreut sich, je mehr dies in der Gegenwart erkannt wird, eines steigenden Interesses. Die Psychologie ist in der Jetztzeit der am höchsten geschätzte Teil der Philosophie. Von der Logik, welche, ihren Gesichtspunkt enger wählend, die Gesetze des richtigen Denkens aufstellt und von der Ethik und Ästhetik, welche nur Normen für das Handeln und Empfinden des Menschen suchen, unterscheidet sie sich dadurch, daß sie die Vorgänge in unserm Inneren in ihrem ganzen Umfange und nach ihrem natürlichen Verlauf betrachtet, ohne sie beeinflussen zu wollen. Von der Erkenntnistheorie weicht sie darin ab, daß sie den genetischen Gesichtspunkt besitzt und die Entstehung der Erfahrung zu ermitteln versucht, während jene ausschließlich die objektive Beziehung und Gültigkeit unserer Vorstellungen ins Auge faßt, um ein sicheres Urteil über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik zu erlangen. Das Musterwerk der Erkenntnistheorie, Kants Kritik der reinen Vernunft, verfolgt keinen psychologischen Gesichtspunkt.

Das Verfahren der Psychologie besteht in experimentell geregelter Beobachtung an uns selbst und anderen gleichartigen oder verwandten Wesen bis hinab zu den einfachsten Organismen und darüber hinaus bis zu der unorganisch genannten Stoffwelt, in physiologischen und in psychophysischen Forschungen. Die Untersuchungen der Sprachwissenschaft, Ethnographie, Statistik unterstützen sie, und alle Geisteswissenschaften sowie die Schöpfungen der Kunst geben der Beobachtung Aufschlüsse. Der Psychologie des Menschen, die als Teil der Anthropologie (s. d.) gefaßt wird, gliedert sich die Tierpsychologie an, der Psychologie der reifen Seele die der Kindesseele (s. Psychogenese), der Psychologie des einzelnen Menschen (s. Individualpsychologie), die der Gesellschaften und Völker (Sozialpsychologie, Völkerpsychologie).

So gestaltet, sucht die Psychologie die ersten Elemente des psychischen Lebens auf, die Triebanlagen und Triebe, welche Empfindung und Bewegung in sich einschließen, verfolgt die Empfindungen nach Qualität und Intensität, ermittelt die assoziativen Vorbindungen der Empfindungselemente, die Komplikationen, Assimilationen und Verschmelzungen derselben und verfolgt den Vorgang der Reproduktion der aus ihnen hervorgehenden Vorstellungen bis zur Entstehung der aktiven Apperzeption im aufmerksamen Denken. Ebenso zergliedert sie den die Empfindungen begleitenden Gefühlston in seine Elemente und zeigt die Entstehung der Gefühle, der Affekte, der Ausdrucksbewegungen, der Willenshandlungen, des Ichgefühls und des Selbstbewußtseins. An die Untersuchung der Vorstellungen nach Qualität, Intensität und Gefühlston schließt sich folgerichtig die Ermittlung der komplizierten Vorgänge des Denkens, der Beziehung, der Vergleichung, der Kontrastbildung, der Analyse und Synthese der Vorstellungen an. So werden die allgemeinsten Gesetze des Seelenlebens, das Gesetz der psychischen Relationen, das Gesetz des psychischen Kontrastes und das Gesetz der psychischen Resultante aufstellbar und so wird das Wesen der psychischen Kausalität bestimmbar. Erst von hier aus führt der Weg der Psychologie in ergänzende und abschließende metaphysische Hypothesen hinein.

Zu dieser Gestaltung, zu einer klaren Erfassung ihrer Aufgaben und zu einem erfolgreichen methodischen Verfahren ist aber die Psychologie, deren Anfänge in die Zeit der Sophisten (5. Jahrh. v. Chr.) zurückreichen und deren Versuche bis zur Gegenwart ununterbrochen fortdauern, erst im 18. und namentlich im 19. Jahrhundert gelangt. Auch erst im 18. Jahrhundert ist ihr Name, der im 16. Jahrhundert durch Melanchthon geschaffen ist, durch Wolf (1679-1754) zur allgemeinen Verbreitung gekommen. Die Psychologie ist so lange unfruchtbar geblieben, als sie in Verwechslung mit der Metaphysik von Spekulationen über das Wesen der Seele (s. d.) ausging und aus dem Begriff der Seele die Tatsachen des Seelenlebens ableiten wollte. Sie ist überall da fruchtbar geworden, wo sie mit Beiseitesetzung der metaphysischen Spekulationen von den Seelenvorgängen ausging und von den einfachem Phänomenen zu den komplizierten aufzusteigen versuchte. Die Entstehung der englischen deskriptiven Psychologie, deren Schöpfer Locke (1632-1704), der Geograph des Bewußtseins, gewesen ist, die Ausbildung der englisch- schottischen Assoziationspsychologie durch Berkeley (1685-1753), Hartley (1704 bis 1757), Hume (1711-1776), Priestley (1733-1804), James Mill (1775-1836), Stuart Mill (1806-1873), Alexander Bain (1818-1903), George Lewes (1817 bis 1878), Herbert Spencer (1820-1904), H. Münsterberg (geb. 1863), die Begründung der Psychophysik durch E. H. Weber (1795-1878) und Fechner (1817-1881), die Verbindung der Psychologie mit physiologischen Forschungen durch Hartley, Priestley, durch Mediziner und Naturforscher und vor allem durch Wundt (geb. 1832) hat die Psychologie vorwärts gebracht und allmählich zur methodisch verfahrenden Wissenschaft mit gesicherten Resultaten emporgehoben. Wie langsam sie aber hierzu gekommen ist, lehrt der Blick auf den zwei bis drei Jahrtausende umfassenden Werdegang der Psychologie. In der Geschichte der Philosophie treten nach- und nebeneinander hervor: 1. eine metaphysische Psychologie, die entweder a) auf dem dualistischen Prinzip der Scheidung von Seele und Körper oder b) auf dem monistischen Prinzip entweder α) des Materialismus, daß der Stoff das Wirkliche sei, oder β) des Idealismus (Spiritualismus), daß der Geist das Wirkliche ist, oder γ) der Philosophie des Absoluten, daß ein über Geist und Körper stehendes Göttliches das Wirkliche sei, beruht; 2. eine empirische Psychologie, die a) als Psychologie des inneren Sinns sich auf Selbstbeobachtung zu stützen versuchte, die seelischen Vorgänge beschrieb (deskriptive Psychologie) und auf Seelenvermögen reduzierte (Vermögenspsychologie) und eine Neigung in spekulative Betrachtungen einzulenken nie verleugnet hat, und b) als Psychologie der unmittelbaren Erfahrung sich als experimentelle Psychologie zu entwickeln angefangen und entweder mehr intellektualistisch dem Verlauf der Vorstellungsprozesse das Interesse zugewandt oder mehr voluntaristisch auch den Gefühls- und Willensvorgängen gleiche Beachtung geschenkt hat. (Vgl. Wundt, Grundriß d. Psychol. § 2, S. 6-24.) Ganz metaphysisch war die Psychologie des Altertums und des Mittelalters. Platon und Aristoteles streben einem idealistischen Monismus zu, bleiben aber noch im Dualismus stecken. Denn Platon läßt neben der geistigen Welt der Ideen auch den Stoff als ein Nichtseiendes, Veränderliches der Erscheinungswelt bestehn, und Aristoteles hält zwar die Form (eidos) für die einzige vollendete Wirklichkeit (energeia, entelecheia), schreibt ober dem Stoffe (hylê) die Anlage zur Wirklichkeit, die Möglichkeit (dynamis) zu.

Platon (427-347) philosophiert zum Teil in der Form des Mythus (im Timaios) über die Welt- und Menschenseele, in der er ein Mittelglied zwischen Idee und Erscheinung sieht, über Präexistenz und Erinnerungsfähigkeit, über Postexistenz und Wanderung der Seele, über sterbliche und unsterbliche Teile der Seele, über deren Sitz im Körper und deren Zusammenhang mit den menschlichen Tugenden und den Teilen des Staatsorganismus. Aristoteles (384-322), der das erste psychologische Werk peri psychês, de anima, über die Seele verfaßt hat, geht planmäßiger und weniger phantastisch vor. Er kritisiert die Aufstellungen der älteren Philosophen, bestimmt den Begriff der Seele als erste Entelechie des organischen Körpers, verfolgt den Seelenbegriff bis in die Tierund Pflanzenwelt, verfeinert die Lehre Platons von Seelenteilen zu einer Vermögenstheorie (threptikon; aisthêtikon, orektikon, kinêtikon kata topon; nous) und trennt den nous poiêtikos, das formgebende Prinzip der Seele, als den unsterblichen Teil von den anderen sterblichen Teilen ab. – Über die platonische und aristotelische Psychologie, auf der auch die stoische Psychologie beruht, kommt das Altertum und Mittelalter nicht wesentlich hinaus. Die Psychologie ist in dieser Zeit noch kein klar abgegrenzter Teil der Philosophie, sondern ein Teil der Physik gewesen.

Von den monistischen Richtungen der Psychologie hat im Altertum nur die materialistische (atomistische) in Leukippos (5. Jahrh. v. Chr.), Demokritos (um 460-360) und den Epikureern (vom 4. Jahrh. ab) einen kräftigeren Ausdruck empfangen, ohne rechte Ausbildung zu finden, die auch der moderne Materialismus (Hobbes, Holbach, Diderot, Helvetius, vgl. Seele) der Seelenlehre nicht zu geben verstanden hat. Über die Hypothese, daß die Seele, wie das Feuer, aus feinen, glatten und runden Atomen bestehe, über die Forschung nach dem Sitz der Seele, die sie als im ganzen Körper verbreitet annahmen (sôma leptomeres par’ holon to athroisma paresparmenon Diog. Laert. X, 1 § 63), und über eine mangelhafte Theorie von der Entstehung der Sinneswahrnehmung ist der antike Materialismus nicht hinausgekommen. Der moderne Materialismus hat dagegen entschieden das Verdienst, mit dahin gewirkt zu haben, daß die Psychologie sich auf physiologische Untersuchungen stützt.

Die metaphysische, sich auf die Methode des Rationalismus stützende Richtung bildet sich in der Psychologie der Neuzeit fort. Auf dualistischem Standpunkte steht Descartes (1596-1650). Er scheidet Seele und Körper als Denken und Ausdehnung, betont die Wichtigkeit des Bewußtseins für das Seelenleben und erzeugt durch seinen Dualismus die Frage nach dem Zusammenhang von Seele und Leib, an deren Lösung nach ihm der Okkasionalismus* (s. d.) mit entschiedenem Mißerfolge arbeitete. Den idealistischen Standpunkt vertritt dagegen Leibniz (1646-1706), der die Seele oder Monade als das eigentlich Wirkliche hinstellte, intellektualistisch die Entwicklung der Vorstellungen in den Seelen verfolgte und dem Seelenleben auch in der Stufenfolge der Wesen nachgeht. Wolf (1679-1754), der sich an Leibniz anschloß, formulierte die Grundlehren der idealistischen Psychologie und begründete die moderne Vermögenstheorie, indem er Erkennen und Begehren schied und sowohl das Erkenntnis- wie das Begehrungsvermögen in ein niederes und höheres einteilte. Die Vermögenstheorie ist dann von Tetens (1736-1805), der Erkennen, Fühlen und Begehren schied, und von Kant (1724 bis 1804), der sich an Tetens anschloß, aber die rationale Psychologie verwarf, ausgebildet worden. Einen gewissen Übergang zu der empirischen Richtung leitete Wolf in Deutschland damit ein, daß er neben die rationale Psychologie, die rein spekulativ sein sollte, auch eine empirische stellte, um jener Stützen aus der Erfahrung zu geben, ohne aber sie fruchtbar gestalten zu können. Auch Herbarts Psychologie beruht im Wesen auf der Leibniz-Wolfschen. Doch hat Herbart (1776-1841), der von der inzwischen entstandenen Assoziationspsychologie nicht unberührt geblieben ist, sich bemüht, die spekulative Psychologie zu einer exakten Wissenschaft umzugestalten, indem er mit der Vermögenstheorie brach, das ganze Seelenleben streng intellektualistisch auf Vorstellungen, die er als Kräfte dachte, und ihre Verbindungen zurückführte und eine mathematisch gestaltete Statik und Mechanik der psychischen Prozesse zu liefern versuchte. Seine mathematische Psychologie, die nicht auf Psychophysik gestützt war, entbehrt aber eines Maßes für psychische Größen und schwebt daher völlig in der Luft. – Die Philosophie des Absoluten ist die Grundlage der Psychologie bei Spinoza (1632-1677), der eine Substanz (Gott-Natur) mit den Attributen Denken und Ausdehnung annahm, und der Grundgedanke Spinozas ist von Schelling* (1775 bis 1864) wieder aufgenommen worden.

Eine streng empirische Richtung in der Psychologie hat zuerst Locke (1632-1704) eingeschlagen. Sein Essay concerning human understanding 1690 ist ein epochemachendes Ereignis und bedeutet den Übertritt der Psychologie in die induktiven Wissenschaften. Locke beobachtete unbefangen und vorurteilsfrei, zergliederte scharfsinnig und gut, führte die Vorstellungen auf die Doppelquelle der Sinneswahrnehmung (sensation) und inneren Erfahrung (reflexion) zurück und ging der Zusammensetzung des Psychischen aus den einfachen Elementen ohne jede Gewalttätigkeit nach. Auch Beneke (1798-1854) folgte der induktiven Richtung, stand aber auf dem einseitigen Standpunkt des Sensualismus (s. d.). Scharf griffen englisch-schottische Forscher wie Berkeley, Hartley, Hume, Priestley seit dem 18. Jahrhundert zu und schufen die Lehre von der Assoziation der Vorstellungen, die von James Mill, Stuart Mill, Bain, Lewes und Spencer im 19. Jahrhundert fortgeführt und von letzterem mit dem Gedanken der Evolution verbunden wurde. Weber und Fechner begründeten die Psychophysik. in der Gegenwart hat die Herbartsche Schule ihr Fortleben in Zimmermann, Lindner, Volkmann u. a., ihre Fortbildung durch Lotze u.a. gefunden. Steinthal (1823-1899) und Lazarus (1824-1903) haben zur herbartschen Psychologie die Sprachforschung und Völkerpsychologie hinzugebracht. Die Fäden aller psychologischen Forschung laufen aber zusammen in Wundt (geb. 1832), der der Psychologie eine voluntaristische Richtung gegeben hat und dessen „Grundzüge der physiologischen Psychologie“ (3. Aufl. Lpz. 1887) und dessen „Grundriß der Psychologie“ (7. Aufl. Lpz. 1905) als die bedeutendsten Werke auf diesem Gebiete gelten. Vgl. Herbart, Lehrbuch der Psychologie. 2. Aufl. 1834. Drobisch, Empirische Psychologie. 1842. 2. Aufl. 1898. Fortlage, System der Psychologie als empir. Wissenschaft. 1855. Jessen, Versuch einer wissensch. Begründung d. Psychologie. 1855. Lotze, Medizinische Psychologie. 1852; Mikrokosmus 1856-1864. Strümpell, Psychologie. 1884. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie 1. Bd. 1902. Th. Ribot, la psychologie anglaise contemporaine. 1875. Guido Villa, Einleitung in die Psychologie der Gegenwart. 1902. W. Hellpach, die Grenzwissenschaften der Psychologie. 1902. Münsterberg, Aufgabe und Methode der Psychologie. 1891. Psychologische Gesellschaft zu Breslau, über die Entwicklung der Psychologie (Vortrags-Zyklus) 1903 f.