Ort- und Zeitsinn
Nicht so tiefgreifend, darum auch nicht so leicht mit Begriffen abzutun ist die erste Metapher, die von den Raumbegriffen zu den Zeitbegriffen führt. Warum ist unsere Welt, wie sie sich in unserer Sprache darstellt, so überaus räumlich? Warum orientieren wir uns in dem dreidimensionalen Raume früher als in der eindimensionalen Zeit? Denn dies allein kann der Grund sein, weshalb Zeitabschnitte immer nur durch Raumabschnitte ausgesagt werden können. Warum ist der Raum im menschlichen Verstande früher gewesen als die Zeit?
Weil unser Sehorgan uns von der Wirklichkeitswelt reichere Daten zuführt als irgend ein anderes Sinnesorgan. Weil unser Sehorgan nebenbei immer als Raumorgan dient. Weil wir im Gehör nicht in ebensolchem Maße nebenbei ein Zeitorgan besitzen. Der Streit darüber, ob unsere Augen uns unmittelbare Raumvorstellungen in allen drei Dimensionen (auch die Tiefendimensionen) gewähren oder ob Raumvorstellungen aus den Daten des Gesichts erst im Verstande entstehen, ist für unsere Frage ganz nebensächlich.
Für die wissenschaftliche Erkenntnis läßt sich die Zeit, die längste und die kürzeste, ebensogut bestimmen wie der Raum. Anders für den schlichten Menschenverstand oder für den Tierverstand. Das Rennpferd, das über einen Graben oder eine Hecke springt, der Schütze, der einen Falken im Fluge trifft, legt seinen Muskelbewegungen Raummaße zugrunde, denen sich in seiner unwillkürlichen Schätzung der Zeit nichts auch nur entfernt an die Seite stellen läßt. Der Grund ist so außerordentlich einfach. Auf den Ortpunkt läßt sich mit dem Finger hinweisen, auf den Zeitpunkt nicht. Wir nehmen die Zeit mit keinem Sinnesorgane wahr. Ich möchte unsere Wahrnehmung der Zeit etwa mit der Ortswahrnehmung vergleichen, die uns das Gehör bietet, wenn wir es für Ortswahrnehmungen nicht besonders geschult haben. Wir hören dann ungefähr einige Unterschiede von Nähe und Ferne, ungefähr einen Unterschied der Richtung; nicht mehr. Und der tiefere Grund hierfür ist wohl der, dass bei den Daten des Auges der handgreiflichste Raumsinn, der Tast- und Muskelsinn, wesentlich mitbeteiligt ist, bei den Daten des Gehörs nicht, wenigstens nicht nachweisbar beim Menschen. Stellen wir uns ein Gehörorgan vor, welches die Ohrmuschel durch Muskelbewegungen jedesmal so stellte, dass der Schall auf einen Fleck des deutlichsten Hörens träte, ein Gehörorgan, welches außerdem das innere Ohr der Entfernung des Schallerregers akkommodierte, stellen wir uns ferner Einrichtungen vor, welche bei jedem Hören beide Ohren in ihren innern und äußern Teilen koordinierten, dann hätten wir von den Ohren ebensolche Ortsangaben zu erwarten wie jetzt durch unsere Augen. Solche Ohren haben wir nicht. Aber auch solche Ohren wären noch nicht imstande, im Nebenamte den Zeitsinn so zu versorgen, wie unsere Augen den Ortsinn versorgen. Und zwar aus einem Grunde, der so zureichend ist, dass man niemals anderswo hätte suchen sollen. Bei der Orientierung im Raume kommt das Gedächtnis erst in zweiter oder dritter Linie; Zeitvorstellungen werden erst durch das Gedächtnis allein geschaffen. Dieser Grundunterschied zwischen Raum und Zeit ist noch niemals zur Aufhellung dieser Fragen benützt worden.