Raum, Zeit und Kausalität
Ohne Phantasie geht es freilich nicht ab, wenn ich nun versuche — mehr schematisch als geschichtlich — die Entwicklung der Raumverhältnisse an den Redeteilen und dann die metaphorische Anwendung der Raumverhältnisse in den Redeteilen zu skizzieren. Natürlich ist in einer Urzeit, welche ich annehme und welche sich mit dem Auf und Nieder des Weges über ungemessene Zeiträume erstrecken kann, von einem grammatikalischen Bewußtsein der Redeteile noch keine Spur. Aber wir können nach der Erfindung der Grammatik von Grammatik nicht anders als grammatikalisch reden.
Es handelt sich also darum, wie sich die entwickelnde Sprache in den Weltanschauungsformen orientiert haben mag, die wir jetzt Raum, Zeit und Kausalität nennen. Die Psychologie der einfachsten Lebewesen, der Protisten, hat uns (I. 383 f.) vermuten lassen, dass es in der Geschichte der Vernunft eine Epoche gab, in welcher von diesen drei Vorstellungen nur die Raumvorstellungen vorhanden waren. Auä dem raumschaffenden Tastsinne haben sich auch bis zu den Menschen herauf die anderen Sinne entwickelt. Das kann aber unmöglich so zu verstehen sein, dass im unbewußten Leben der Organismen Zeit- und Kausalitätsvorstellungen, zuletzt nur Kausalitätsvorstellungen völlig fehlten. Wir müssen uns das Leben der Sprache oder des Denkens so denken, dass es instinktiv den Weg von der Kausalität zum Räume einschlug, um dann bei der bewußteren Verwendung der Raumbegriffe wieder zur Zeit und zur Kausalität zurück fortzuschreiten.
Ich stelle mir eine grammatisch undifferenzierte Begriffsfülle einer Urzeit vor, in welcher die einzelnen Worte mehr adjektivischen Charakter hatten, die Wirkung der Dinge und der Veränderungen auf das Individuum ausdrückten, also von der Kausalität lebten, ohne jedoch die Außenwelt als objektive Ursache dieser Eindrücke klar zu erfassen. Das Individuum wurde von der Frucht berötet, von der Sonne erwärmt, vom fallenden Aste gestoßen, ohne dass mit diesen Adjektiven, die wir verbal auszudrücken genötigt sind, Richtungs- oder Raumverhältnisse deutlich verbunden waren. Die Farbe, die Wärme, der Stoß wurden im Individuum empfunden. Darin, dass das Individuum sich in seinen Bewegungen diesen Empfindungen anpaßte, das Rote aß, die Wärme aufsuchte, dem Stoße auswich, erkannte es die Wahrnehmungen als Wirkungen an, gewiß ohne sie sprachlich als Kausalitätserscheinungen auszudrücken. Wir können recht wohl begreifen, wie dann später die objektive Außenwelt sich zunächst in Vorstellungen verbalen Charakters als Raumanschauung der Bewegungsrichtung, noch später in Vorstellungen substantivischen Charakters als Raumanschauung des Ortes ausbildete. So konnten bloße Orientierungen im Raume für dasjenige eintreten, was uns jetzt Vorstellungen des Raums, der Zeit und der Kausalität sind. Als nun die Sprache versuchte mit ihren Mitteln die Zeitvorstellungen und endlich die Kausalitätsvorstellungen, die sich gebildet hatten, zu formen, da machte es die Sprache wie das Denken, weil Denken Sprache ist: sie drückte durch Raumbegriffe zunächst zeitliche Verhältnisse und dann Kausalitätsbegriffe aus. Ich bemerke noch, dass der Sprachliche Ausgang vom Raume sich besonders stark aufdrängt, wenn wir uns erinnern, wie deiktische Hinweise, heute noch im Demonstrativpronomen vorhanden, an den ursprünglichen Gebrauch der Sprache geknüpft waren. Das uralte "da", welches für jedes Adjektiv, jedes Verbum und jedes Substantiv sich einstellen konnte und kann, ist räumlich gemeint, erst recht räumlich, wenn es die Gegenwart bedeutet. Gegenwart hängt mit wärts zusammen (vielleicht auch mit dem lateinischen verto), und dieses heißt soviel wie nach einer bestimmten Richtung gewendet.
Der Gebrauch der Raumbegriffe für Zeitverhältnisse ist in allen Sprachen bis zur Stunde so allgemein, dass die Beispiele dafür für den Sprachbeobachter überflüssig, für den Neuling verblüffend und überzeugend sind. Wir nennen eine Zeit einfach lang oder kurz, eine längere Zeit sogar noch kecker einen Zeitraum. Anfang und Ende wird ganz geläufig von der Zeit wie vom Raume gesagt. Sehr hübsch ist es, wie im Französischen die äußerste Nähe einer Zeit durch Richtungsworte des Raumes bezeichnet wird: il vient d'arriver und il va partir. Beide Redensarten sind eigentlich Pleonasmen. "Er kommt, er kommt", das heißt er kommt soeben; "er geht, er geht", das heißt er geht gleich.
Ein objektives Zeitverhältnis wird auch durch die sogenannten Adverbien der Zeit nicht — wie das fälschlich behauptet worden ist — ausgedrückt; genau dasselbe, was die Zeitformen des Verbums können, leistet auch nach dem Sprachgebrauche das Adverbium. Und man kann es vielen Adverbien heute noch ansehen, dass sie die Orientierung in der Zeit durch eine räumliche Metapher auszudrücken suchten. Das sehr interessante Adverbium "wo", das gewiß nach dem Orte fragt, wird im Relativsatze in zeitlichem Sinne angewendet, wenn auch nicht so häufig wie "da", das wiederum wie andere Zeitadverbien leicht kausale Bedeutung erhält. Die Richtung woher und wohin wurde früher durch eine Art Flexion von "wo", durch wannen und war, ausgedrückt; in "wann" oder "wenn" hat sich die aus dem räumlichen Bilde hervorgegangene Zeitbestimmung rein herausgelöst, nur dass die bedingende oder kausale Bedeutung wieder hinzugetreten ist. Eine scharfe Scheidung im Gebrauche von wann und wenn, wie schon Adelung sie verlangt hat, ist bis heute weder in der Umgangssprache noch in der dichterischen Sprache durchgesetzt worden. Gemeinsam ist für Raum- und Zeitverhältnisse auch das lateinische ubi. Doch selbst nach vollzogenem Bedeutungswandel, nachdem der Sprachgebrauch Zeit- und Ortsadverbien geschieden hat, läßt sich immer noch die Zeit durch den Ort und der Ort durch die Zeit darstellen; nur dass wir bei der zeitlichen Verwendung von "wann" das Bewußtsein einer metaphorischen Sprechweise nicht mehr fühlen, wohl aber uns einer leisen Metapher wieder bewußt werden, wenn wir z. B. "hie und da" als Zeitbestimmung, "dann und wann" als Ortsbestimmung verwenden.