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Die ältesten moralischen Urteile

102.

Die ältesten moralischen Urteile. — Wie machen wir es doch bei der Handlung eines Menschen in unsrer Nähe? — Zunächst sehen wir darauf hin, was aus ihr für uns herauskommt, — wir sehen sie nur unter diesem Gesichtspunkt. Diese Wirkung nehmen wir als die Absicht der Handlung — und endlich legen wir ihm das Haben solcher Absichten als dauernde Eigenschaft bei und nennen ihn zum Beispiel von nun an „einen schädlichen Menschen“. Dreifache Irrung! Dreifacher uralter Fehlgriff! Vielleicht unsre Erbschaft von den Tieren und ihrer Urteilskraft her! Ist nicht der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen: „was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohltuendes und Nutzenbringendes); was mir einmal oder einigemale schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich; was mir einmal oder einigemale nützt, das ist das Freundliche an sich und in sich“. O pudenda origo! Heisst das nicht: die erbärmliche, gelegentliche, oft zufällige Relation eines Anderen zu uns als sein Wesen und Wesentlichstes auszudichten, und zu behaupten, er sei gegen alle Welt und gegen sich selber eben nur solcher Relationen fähig, dergleichen wir ein- oder einigemal erlebt haben? Und sitzt hinter dieser wahren Narrheit nicht noch der unbescheidenste aller Hintergedanken, dass wir selber das Prinzip des Guten sein müssen, weil sich Gutes und Böses nach uns bemisst? —