Von der Erkenntnis des Leidenden
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Von der Erkenntnis des Leidenden. — Der Zustand kranker Menschen, die lange und furchtbar von ihren Leiden gemartert werden und deren Verstand trotzdem dabei sich nicht trübt, ist nicht ohne Wert für die Erkenntnis, — noch ganz abgesehen von den intellektuellen Wohltaten, welche jede tiefe Einsamkeit, jede plötzliche und erlaubte Freiheit von allen Pflichten und Gewohnheiten mit sich bringen. Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte hinaus auf die Dinge: alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden: ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und Farbe. Gesetzt, dass er bisher in irgend einer gefährlichen Phantasterei lebte: diese höchste Ernüchterung durch Schmerzen ist das Mittel, ihn herauszureißen: und vielleicht das einzige Mittel. (Es ist möglich, dass dies dem Stifter des Christentums am Kreuze begegnete: denn die bittersten aller Worte „mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ enthalten, in aller Tiefe verstanden, wie sie verstanden werden dürfen, das Zeugnis einer allgemeinen Enttäuschung und Aufklärung über den Wahn seines Lebens; er wurde in dem Augenblicke der höchsten Qual hellsichtig über sich selber, so wie der Dichter es von dem armen sterbenden Don Quixote erzählt.) Die ungeheure Spannung des Intellektes, welcher dem Schmerz Widerpart halten will, macht, dass Alles, worauf er nun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet: und der unsägliche Reiz, den alle neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allen Anlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben dem Leidenden als höchst begehrenswert erscheinen zu lassen. Mit Verachtung gedenkt er der gemütlichen warmen Nebelwelt, in der der Gesunde ohne Bedenken wandelt; mit Verachtung gedenkt er der edelsten und geliebtesten Illusionen, in denen er früher mit sich selber spielte; er hat einen Genuss daran, diese Verachtung wie aus der tiefsten Hölle heraufzubeschwören und der Seele so das bitterste Leid zu machen: durch dieses Gegengewicht hält er eben dem physischen Schmerze Stand, — er fühlt es, dass gerade dies Gegengewicht jetzt nottut! In einer schauerlichen Hellsichtigkeit über sein Wesen ruft er sich zu: „sei einmal dein eigener Ankläger und Henker, nimm einmal dein Leiden als die von dir über dich verhängte Strafe! Genieße deine Überlegenheit als Richter; mehr noch: genieße dein Belieben, deine tyrannische Willkür! Erhebe dich über dein Leben wie über dein Leiden, sieh hinab in die Gründe und die Grundlosigkeit!“ Unser Stolz bäumt sich auf, wie noch nie: es hat für ihn einen Reiz ohne Gleichen, gegen einen solchen Tyrannen wie der Schmerz ist, und gegen alle die Einflüsterungen, die er uns macht, damit wir gegen das Leben Zeugnis ablegen, — gerade das Leben gegen den Tyrannen zu vertreten. In diesem Zustande wehrt man sich mit Erbitterung gegen jeden Pessimismus, damit er nicht als Folge unseres Zustandes erscheine und uns als Besiegte demütige. Nie ist ebenfalls der Reiz, Gerechtigkeit des Urteils zu üben, größer, als jetzt, denn jetzt ist es ein Triumph über uns und den reizbarsten aller Zustände, der jede Ungerechtigkeit des Urteils entschuldbar machen würde; — aber wir wollen nicht entschuldigt sein, gerade jetzt wollen wir zeigen, dass wir „ohne Schuld“ sein können. Wir befinden uns in förmlichen Krämpfen des Hochmuts. — Und nun kommt der erste Dämmerschein der Milderung, der Genesung — und fast die erste Wirkung ist, dass wir uns gegen die Übermacht unseres Hochmutes wehren: wir nennen uns darin albern und eitel, — als ob wir Etwas erlebt hätten, das einzig wäre! Wir demütigen ohne Dankbarkeit den allmächtigen Stolz, durch den wir eben den Schmerz ertrugen und verlangen heftig nach einem Gegengift des Stolzes: wir wollen uns entfremdet und entpersönlicht werden, nachdem der Schmerz uns zu gewaltsam und zu lange persönlich gemacht hatte. „Weg, weg mit diesem Stolze! rufen wir, er war eine Krankheit und ein Krampf mehr!“ Wir sehen wieder hin auf Menschen und Natur — mit einem verlangenderen Auge: wir erinnern uns wehmütig lächelnd, dass wir Einiges in Bezug auf sie jetzt neu und anders wissen, als vorher, dass ein Schleier gefallen ist, — aber es erquickt uns so, wieder die gedämpften Lichter des Lebens zu sehen und aus der furchtbaren nüchternen Helle herauszutreten, in welcher wir als Leidende die Dinge und durch die Dinge hindurch sahen. Wir zürnen nicht, wenn die Zaubereien der Gesundheit wieder zu spielen beginnen, — wir sehen wie umgewandelt zu, milde und immer noch müde. In diesem Zustande kann man nicht Musik hören, ohne zu weinen. —