Unser Anrecht auf unsere Torheit
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Unser Anrecht auf unsere Torheit. — Wie soll man handeln? Wozu soll man handeln? — Bei den nächsten und gröbsten Bedürfnissen des Einzelnen beantworten sich diese Fragen leicht genug, aber in je feinere, umfänglichere und wichtigere Gebiete des Handelns man aufsteigt, um so unsicherer, folglich um so willkürlicher wird die Beantwortung sein. Nun aber soll hier gerade die Willkürlichkeit der Entscheidungen ausgeschlossen sein! — so heischt es die Autorität der Moral: eine unklare Angst und Ehrfurcht soll den Menschen unverzüglich gerade bei jenen Handlungen leiten, deren Zwecke und Mittel ihm am wenigsten sofort deutlich sind! Diese Autorität der Moral unterbindet das Denken, bei Dingen, wo es gefährlich sein könnte, falsch zu denken —: dergestalt pflegt sie sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Falsch: das heißt hier „gefährlich“, — aber gefährlich für wen? Gewöhnlich ist es eigentlich nicht die Gefahr des Handelnden, welche die Inhaber der autoritativen Moral im Auge haben, sondern ihre Gefahr, ihre mögliche Einbusse an Macht und Geltung, sobald das Recht, willkürlich und töricht, nach eigener, kleiner oder großer Vernunft zu handeln, Allen zugestanden wird: für sich selber nämlich machen sie unbedenklich Gebrauch von dem Rechte der Willkürlichkeit und Torheit, — sie befehlen, auch wo die Fragen „wie soll ich handeln? wozu soll ich handeln?“ kaum oder schwierig genug zu beantworten sind. — Und wenn die Vernunft der Menschheit so außerordentlich langsam wächst, dass man dieses Wachstum für den ganzen Gang der Menschheit oft geleugnet hat: was trägt mehr die Schuld daran, als diese feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der individuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar nicht gestattet, laut zu werden? Sind wir nicht daraufhin erzogen, gerade dann pathetisch zu fühlen und uns in’s Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten.