Die ausklingende Christlichkeit in der Moral
132.
Die ausklingende Christlichkeit in der Moral. — „On n’est bon que par la pitié: il faut donc qu’il y ait quelque pitié dans tous nos sentiments“ — so klingt jetzt die Moral! Und woher kommt das? — Dass der Mensch der sympathischen, uninteressierten, gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der moralische empfunden wird, — das ist vielleicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christentum in Europa hervorgebracht hat: obwohl sie weder seine Absicht, noch seine Lehre gewesen ist. Aber es war das residuum christlicher Stimmungen, als der sehr entgegengesetzte, streng egoistische Grundglaube an das „Eins ist not“, an die absolute Wichtigkeit des ewigen persönlichen Heils, mit den Dogmen, auf denen er ruhte, allmählich zurücktrat, und der Nebenglaube an die „Liebe“, an die „Nächstenliebe“, zusammenstimmend mit der ungeheuren Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit, dadurch in den Vordergrund gedrängt wurde. Je mehr man sich von den Dogmen loslöste, um so mehr suchte man gleichsam die Rechtfertigung dieser Loslösung in einem Kultus der Menschenliebe: hierin hinter dem christlichen Ideale nicht zurückzubleiben, sondern es womöglich zu überbieten, war ein geheimer Sporn bei allen französischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berühmten Moralformel vivre pour autrui in der Tat das Christentum überchristlicht. Auf deutschem Boden hat Schopenhauer, auf englischem John Stuart Mill der Lehre von den sympathischen Affektionen und vom Mitleiden oder vom Nutzen Anderer als dem Prinzip des Handelns die meiste Berühmtheit gegeben: aber sie selber waren nur ein Echo, — jene Lehren sind mit einer gewaltigen Triebkraft überall und in den gröbsten und feinsten Gestalten zugleich aufgeschossen, ungefähr von der Zeit der französischen Revolution an, und alle sozialistischen Systeme haben sich wie unwillkürlich auf den gemeinsamen Boden dieser Lehren gestellt. Es gibt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurteil, als dies: dass man wisse, was eigentlich das Moralische ausmache. Es scheint jetzt Jedermann wohlzutun, wenn er hört, dass die Gesellschaft auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedürfnissen anzupassen und dass das Glück und zugleich das Opfer des Einzelnen darin liege, sich als ein nützliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu fühlen: nur dass man gegenwärtig noch sehr schwankt, worin dieses Ganze zu suchen sei, ob in einem bestehenden oder zu begründenden Staate, oder in der Nation oder in einer Völker-Verbrüderung oder in kleinen neuen wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten. Hierüber gibt es jetzt viel Nachdenken, Zweifeln, Kämpfen, viel Aufregung und Leidenschaft; aber wundersam und wohltönend ist die Eintracht in der Forderung, dass das ego sich zu verleugnen habe, bis es, in der Form der Anpassung an das Ganze, auch wieder seinen festen Kreis von Rechten und Pflichten bekomme, — bis es etwas ganz Neues und Anderes geworden sei. Man will nichts Geringeres — ob man es sich nun eingesteht oder nicht —, als eine gründliche Umbildung, ja Schwächung und Aufhebung des Individuums: man wird nicht müde, alles das Böse und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzählen und anzuklagen, man hofft wohlfeiler, ungefährlicher, gleichmäßiger, einheitlicher zu wirtschaften, wenn es nur noch große Körper und deren Glieder gibt. Als gut wird Alles empfunden, was irgendwie diesem körper- und gliederbildenden Triebe und seinen Hilfstrieben entspricht, dies ist der moralische Grundstrom in unserem Zeitalter; Mitempfindung und soziale Empfindung spielen dabei in einander über. (Kant steht noch außerhalb dieser Bewegung: er lehrt ausdrücklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich sein müssen, wenn unser Wohltun moralischen Wert haben soll, — was Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, die Kantische Abgeschmacktheit nennt.)