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Schmutz bzw. Schund bzw. Geldverknappung

Ich bekämpfe den Schund
du bekämpfst den Schmutz
er hat in seiner Jugend nicht
genug geküßt
wir zensieren
ihr seid vom Zentrum
sie nehmen Anstoß.

Die Kulturreaktion schreitet munter vorwärts.

Was von der neuen Filmzensur zu erwarten steht, ist allen Beteiligten klar: die Geschäftsleute fürchten für ihren Laden, die »Erzieher des Volkes« frohlocken, und die andern sehen zu, wie hübsch der alte Metternich im Sakkoanzug aussieht.

Der Zensor aus dem Jahre 1903 trug ein Monokel und war konservativ; der Zensor aus dem Jahre 1930 trägt eine Hornbrille, ist Mitglied der sozialdemokratischen Partei und steht dem Zentrum nahe. Das neue Filmgesetz, ein Monstrum an Gummibestimmungen, ein wahres Kautschukwerk, gibt den Ortsbehörden die Möglichkeit, die Vorführung von Filmen auch dann zu verhindern, wenn die Zensurstelle sie durchgelassen hat. Die Ortsbehörden … Vorgeschmack gefällig –?

Das Landesjugendamt Düsseldorf belästigt die berliner Prüfstelle für Schmutz und Schund dauernd mit Anträgen, von denen die unsinnigsten heute noch mit sehr vernünftigen Begründungen abgelehnt werden. Das muß aufgefallen sein; denn ein Herr Hans Wingender, »Landesrat bei der Rheinischen Provinzialverwaltung«, hat ein Büchlein verfaßt: »Erfahrungen im Kampfe gegen Schund- und Schmutzschriften.« Das sieht so aus:

Das Schundgesetz, sagt die Einleitung, sei weder bös noch neu. »Im Kriege haben Generalkommandos ganze Listen von Schundschriften verboten.« Das war eine schöne Zeit … Wenn ich mich recht erinnere, ist auch Grellings »J'accuse« darunter gewesen, das die geistige Blockade, die Deutschland über sich selbst verhängt hatte, hat brechen wollen – die Generalkommandos und das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel aber waren auf dem Posten, und Richard Grellings Werk wirkte im Ausland. Diese selige Zeit wird von Herrn Wingender schmatzend zitiert. Nun aber hätten wir das neue Schmutzgesetz, zu seiner Ausführung seien die Landesjugendämter berufen, und nun gehts los.


Inserat:

Berlin.

30jähriger Junggeselle, Gehaltsgruppe XI, Doktortitel, 1,70 groß, blond, später Wochenendhäuschen in Vorgebirgsstadt, ersehnt Lichtfreundin, die berufstätig oder von Haus nicht unvermögend ist, zwecks Heirat. Bildangebote unter …

Komisch –? Schwer unzüchtig. Bemerkung des Landesrats:

»Das ›spätere Wochenendhäuschen‹ ist doch eine zu durchsichtige Lockung und hat wohl mit der Heirat nichts zu tun.« Und das will die deutsche Jugend erziehen.

Sein ernst erhobener Zeigefinger lehrt: Die Schreiber in den erotischen Zeitschriften hätten einen Komplex. (Die neue Zeit ist auch in die Amtsstuben hineingebrochen.) »Aber ihr Komplex läßt sie das Empfinden eines normal denkenden Menschen verlieren. Sogar ernstzunehmende Forscher geraten leicht bei der Abwandlung ihrer Spezialgebiete sexueller Art in diese Gefahr. Ist die Idee erschöpft, dann folgt die Steigerung, Übertreibung und das Spintisieren.« Im Gegensatz zur Zensur, die von vornherein ohne Idee auftritt. Die Gefahr dieser Wichtigtuerei besteht nun darin, dass richtige und gewichtige Argumente gegen die Sexualwissenschaft und die Popularisierung sexueller Themen als Grundlage für staatliche Eingriffe dienen – der Staat spielt hier die Rolle eines wissenschaftlichen oder ästhetischen Polemikers; letztes Argument: die Schupo. Und welche Begründungen!

»Die meisten der in den fünf Nummern enthaltenen Aufsätze sind weder wertlos noch aus sonstigen Gründen zu beanstanden. Dagegen geben einige Abbildungen zu Bedenken Anlaß, und zwar in Heft 16, S. 5. (Königin Karoline von England läßt sich von einem Herrn umfangen; der Rock ist hochgehoben, und die nackten Beine sind sichtbar, eine Hofdame schaut zu.) In Heft 19, S. 11 (ein Herr sieht durchs Fenster zu, wie ein Mädchen sich flöht).« Das aber ist immer noch hübscher mit anzusehen, als wenn ein Landesrat sich die Seele kämmt, und es ist gradezu albern, wie diese Kerle die Fassade eines Hauses abputzen, in dem der Flecktyphus herrscht. Von dem – nämlich von der sozialen Not – wissen sie wenig. Die Fassade, die Fassade! An einer Stelle gibt der Landesrat zu, er betrachte es als seine Aufgabe, »die Verleger zu erziehen«, während wir immer gedacht haben, die Jugendämter seien dazu da, die Jugend zu erziehen. Der sicherlich vorhandenen Minderwertigkeit mancher solcher Verleger und Zeitschriften, die noch lange keine so große Gefahr für die Jugend bilden wie mangelnder Schulunterricht auf dem Lande und die Wohnungsnot in der Stadt, steht eine Bureaukratie gegenüber, die auch in den Formen zeigt, wes Ungeistes Kind sie ist. Der Stellvertreter des Leiters der Prüfstelle Berlin, Herr Doktor Kneip, geht in der Abwesenheit seines Chefs daran, die Zeitschrift Liebe und Ehe auf die Liste zu setzen. »Doktor Kneip bezeichnete die Zeitschrift Liebe und Ehe geringschätzigerweise als Ableger und Konkurrenz der Zeitschrift Die Ehe. Schließlich erkundigte sich Herr Doktor Kneip noch nach der Religion und der Staatsangehörigkeit des Hauptschriftleiters, Herrn Molzahn, und wie lange er sich denn schon in Deutschland aufhielte.« Und der hat dem Kneip nicht sofort geantwortet: »Länger als Ihr Kaiser auf alle Fälle«? Welche feingebildeten Erzieher des deutschen Volkes!

Oh, sie können auch Deutsch. Unter den grammatisch inkriminierten Sätzen findet sich zum Beispiel dieser: »Er empfand den fruchtartigen Geschmack ihrer Lippen auf seinem Munde.« Wobei der Landesrat mit etwas, was in seinen Kreisen wohl als Ironie gilt, hinzusetzt: »Der Lippenstift hatte jedenfalls Zitronengeschmack.« Der Landesrat hat gar keinen.

Die Oberprüfstelle hats so gestrengen Sittenrichtern gegenüber nicht leicht. Einmal wird ihre Stellungnahme »als etwa befriedigend« zensiert, und da hilft es auch wenig, dass man in Berlin heute noch vernünftiger denkt als in Düsseldorf, allwelche Stadt hinwiederum gegen Köln ein Hort der Geistesfreiheit ist. Weist Berlin ab: Düsseldorf läßt sich nicht mürbe machen. »Diese Rechtsprechung hat uns nicht befriedigen können, und wir werden weitere Fälle selbst auf die Gefahr weiterer Ablehnungen beantragen müssen, wenn auch damit nur ein Protest gegen die Aufmachung einzelner Nummern erreicht wird.« Ja, sie werden wohl müssen …

Damit wir uns ganz recht verstehen: Ich halte auch die ablehnende Entscheidung der Prüfstelle Berlin für richtig, die sich geweigert hat, ein gradezu widerwärtiges Elaborat des nationalsozialistischen Westdeutschen Beobachters zu verbieten. Darin wird geschildert, wie Juden unter dem Patronat des kölner Warenhausbesitzers Tietz kleine Mädchen vergewaltigen, eine ebenso unsinnige wie scheußliche Schilderung, illustriert. Verstößt solch ein Zeug nicht gegen das Strafrecht, was einer Auslegung bedarf, um die wir nicht bange zu sein brauchen, dann soll man den Westdeutschen Beobachter boykottieren, bekämpfen, befehden – aber verbieten soll man ihn nicht.

Es gibt für alle solche Schriften und ihre amtlichen Bekämpfer ein merkwürdiges Gesetz: sie sind einander adäquat. Der Landesrat über die Abbildung von Mißgeburten: »Ich habe selbst in Hebammenanstalten viele Mißgeburten in Spiritus gesehen. Jedesmal habe ich hinterher einen Kognak trinken müssen. Einer primitiven Frau solche Möglichkeiten vorzudemonstrieren, halte ich für eine Gemeinheit.« Ich versage mir eine primitive Kennzeichnung des komplizierten Landesrats.

Da nimmt es denn kein Wunder, wenn er einem kitschigen Mädchenbrief anfügt: »Der Mann, der bei diesem Mädel ›tiefsten Geist und Seele‹ sucht, wird sicher nur eine Hintertreppenatmosphäre finden.« Im Gegensatz zur Vordertreppe des Landesrats, auf der es so zugeht: »Und wie sie ihren Körper gegen Bezahlung anbietet!« Es gibt da einen alten Dialog: »Du machst mich zur Dirne!« schrie das Mädchen. »Von Geld habe ich kein Wort gesagt«, rief der Verführer …

Der Landesrat repräsentiert die neue Form der deutschen Reaktion.

Er ist Dissident; er ist Sozialist; er zitiert Lenin; er weist auf die Arbeitslosigkeit hin, auf die Notwendigkeit, Jugendheime zu bauen … »Dann kann später vielleicht das Schundliteraturgesetz überflüssig werden.«

Es ist es heute schon. Es ist nicht nur überflüssig; es ist sinnlos und noch etwas andres.

Ein Staat, der sich zur Verübung solchen Unfugs von Monat zu Monat das Geld zusammenpumpen muß, hat nicht das Recht, die bei ihm eingehenden Steuern derart zu verschleudern. Wer selber derart verschuldet ist, wer sich so in der Hand der Banken, der Industrie und der Großgrundbesitzer windet –: der kümmere sich gefälligst um seine eignen Angelegenheiten.

Der Einwand, die Durchführung des Schmutzgesetzes koste nicht viel, ist falsch. Wie wenig auch immer der Landesrat an Gehalt bezieht –: er ist überzahlt. Er wirkt nichts; er stört nur. Und ist eine Waffe in der Hand jener Kulturreaktionäre, die hinter ihm stehen, die ihn vorschicken, und die er nicht sieht, sowenig wie seine Partei sie niemals gewittert hat. Da taumeln sie von einer verschleierten Pleite zur andern; mit Ach und Krach kommen sie durch – und dann haben sie für dieses Zeug Geld, Zeit und Arbeitskraft übrig! Sie dehnen die Reaktion immer weiter aus. Sie haben den Rundfunk, sie haben die Zeitschriften, sie erobern sich Schritt für Schritt den Film – weil sie in ihrer bösartigen Dummheit nicht sehen, dass es nur ein, nur ein einziges Mittel gibt, gegen Schmutz und Schund anzukämpfen:

Die Lebensverhältnisse der Kinder zu verbessern und sie geistig gegen minderwertige Produktion zu immunisieren. Das allein wäre Jugenderziehung.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 29.04.1930, Nr. 18, S. 647.