Der Gingganz
Morgenstern ist der Busch unsrer Tage. Wie unsre Väter sich an den niederdeutschen Holzschnittzeichnungen des großen Philosophen verlustierten – unter uns: in dieser Beziehung bin ich mein eigner Papa –, so kugelt sich ein ganzes junges Geschlecht über Palmström, Korfen und Muhme Kunkel, dass es eine Art hat. Es ist aber auch zu hübsch: man lacht sich krumm, bewundert hinterher, ernster geworden, eine tiefe Lyrik, die nur im letzten Augenblick ins Spaßhafte abgedreht ist – und merkt zum Schluß, dass man einen philosophischen Satz gelernt hat. So kommt es denn, dass es uns gar nicht mehr wundert, in Morgensterns Nachlaß (›Der Gingganz‹ bei Bruno Cassirer in Berlin) Kantsche Sätze in Gedichtform zu finden; dergleichen verdaut man heute, erzogen durch Palmströms Galgenlieder, mühelos.
Das Bändchen enthält vielerlei: Galgenlieder – das sind die schwächsten Seiten; darunter allerdings eine Pallenbergsche Monatstafel (Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill … ), ein famoses Taschentüchergespenst und ein sehr fein pointiertes Gedicht von drei Advokaten. Dann nachdenkliche und fast wissenschaftliche Gedichte, über die Ohnmacht der Sprache, die Relativität aller Dinge, über das Ding als Ding an sich und Vorstellung, und was man sonst so braucht. Die schönsten Dinge stehen in Abschnitt III: Korfens Rat, in allzulauten Welthändeln einfach die Zeitungen von übermorgen zu lesen, ist sehr aktuell – wenn da aber steht:
Korf erfindet eine Zimmerluft,
die so korpulent, dass jeder
Gegenstand drin stecken bleibt,
so muß gesagt werden, dass er eine solche Luft nicht erst zu erfinden braucht. Es gibt sie. Beim Militär. Dann eine herrliche Ode an eine Palmströms Nachtruhe störende Nachtigall, die sich lieber in einen Fisch verwandeln solle – ich möchte die Nachtigall sehen, die sich auf eine solche inbrünstige Bitte hin nicht sofort in eine fliegende Makrele verkleidet. Von den Spatzen ganz zu schweigen, die gegen das Frösteln kleine Pelzchen aus Palmströms Spätzemäntelfabrik m. b. H. anziehen. Und der Herr von Kriegar-Ohs (der so heißt, damit er sich auf Figaros reimt)? Und die herrliche Definition des Bürgers? Lest, lest –!
Und lest vor allem den kleinen Prosa-Anhang, der eine ganz neue Art Humor darstellt.
Wenn das, was man so leichtsinnigerweise ›modernes Leben‹ zu nennen pflegt, und die Romantik zusammenstoßen, dann gibt es einen guten Klang – und es kommt ganz auf den Zusammenstößer an, obs tragisch oder humoristisch ausläuft. Morgenstern ist von der gradezu lächerlichen Schematisierung ausgegangen, die uns gefressen hat – einmal steht bei O. A. H. Schmitz: Nächstens wird man bei einer Aktiengesellschaft etwas einzahlen, und dafür wird man dann gelebt. Das ist es – und was Morgenstern auf ein paar Seiten aus diesem Thema macht, das ist einfach hinreißend. (Man könnte auch umgekehrt die Romantik verbürgerlichen: es wird nächstens von einem Freunde von mir ein Buch erscheinen, das das versucht.) Da wimmelt es bei Morgenstern von Anzeigen, in denen künstliche Köpfe angepriesen werden … ›English church, aus Gummi, zusammenlegbar; samt Koffer 1250 Mark‹ – oder ›Violinspieler, vorzüglicher – zum Vorspielen für meine Eidechse gesucht –‹: so in der Art tobt das über die Blätter.
Und man weiß zum Schluß nicht, was man mehr bewundern soll: die Clownerie oder die tiefe Weisheit; und es bleibt der tiefe Schmerz übrig, dass dieses reine Herz und dieser Kopf zu früh von uns gegangen ist. Wer ihn liebt, liebt das beste Teil am Deutschtum, fern, fern allen Ludendörffern.
Peter PanterDie Weltbühne, 11.09.1919, Nr. 38, S. 335.