Panizza
Die Zensur ist fort. Es ist nicht zu merken: die Zeitungen erscheinen in derselben Tonart wie vor ihrem Fall, das Einerseits-Andrerseits, das Erwägen nach beiden Seiten, das zage Streicheln ist geblieben. Man hätte meinen sollen, dass nach dem Sturz des Zensors die Luft im Kessel mit einem Knall durch die Ventile puffen würde – aber es war offenbar keine drin.
Dem Bürger ist noch nicht wohl in der Freiheit. Er wackelt hin, er wackelt her, als wie ein alter Zottelbär. Und seine Theater?
Ja, da bringen sie nun ›Die Büchse der Pandora‹ und eine bisher verbotene Groteske und den ›Sohn‹ und ›Hans im Schnakenloch‹ – aber wie das so mit dem exorzierten Teufel ist: fein sauber gebügelt, im Frack und im hellen Licht der Lüster ist er längst nicht so pompös graulig wie damals im Flackerschein der Kellerlampen. Und eine leise Enttäuschung wird wach: Das ist alles? Die Zensur hat eine wunderschöne Reklame gemacht und ein unnützes Aufsehen dazu. Denn das Gehirn der Zensoren, soweit von einem solchen die Rede sein kann, ist nicht ganz das unsre.
Weil wir denn aber einmal bei den verbotenen Stücken sind: wie wäre es, ihr führtet nun doch einmal das ›Liebeskonzil‹ von Oskar Panizza auf? Dramatis personae sind der liebe Gott, als welchen Pallenberg zu spielen hätte, und sein Sohn und die Mutter Maria, und dazu der Teufel und seine Erfindung: die Syphilis. Nun ist dieses heitere Schäferspiel nicht jedermanns Sache, und man soll gewiß die Gefühle, und zumal die religiösen, seiner Mitbürger schonen. Aber es wäre eine Anmaßung der Mitbürger, zu verlangen, wir sollten im selben Tempo fühlen wie sie und im selben Rhythmus leben wie sie. Ihr Lachen ist nicht unser Lachen, und ihr Schmalzpathos ist uns keines.
Aber das ›Liebeskonzil‹? Panizza wurde wegen seines grandiosen Dramas zu anderthalb Jahren Gefängnis verdonnert, die er abgesessen hat. Das Stück ist etwas sehr Seltenes: nämlich eine wirkliche Gotteslästerung. Er hat Gott gelästert, aber aus einer tiefen Liebe zu jenem andern Ding heraus, das die Besten aller Zeiten im Herzen trugen, und das keinen Namen hat. Die Buchausgabe des Dramas ist heute selten genug, es gibt nur die alte verbotene Originalausgabe und einen Privatdruck mit Bildern von Kubin; sonst verkümmert das Stück wie fast alles andere, was Panizza geschrieben hat, unter dem Urheberunrecht, das in diesem Falle einer alten bigotten Verwandten gestattet, diese Feuerströme in der Lavendelkommode zu halten. Das Drama behandelt also die Erfindung der Syphilis durch den Teufel auf Wunsch des lieben Gottes, der die Menschen ad suam maiorem gloriam ihre Abhängigkeit fühlen lassen will. Es gibt Stellen in dem Stück, gegen die Wedekind wie eine brave ›Gartenlaube‹ wirkt.
Traut sich keiner der Herren Theaterdirektoren? Es müßte ein Abend sein, bei dem der selige Wedekind Pate stünde, der Wedekind von anno 1890, der alte, schweflige, lachende.
Und damit sich keiner beleidigt fühle: druckt eine kurze Einführung zu dem Stück und macht eine geschlossene Vorstellung! Es ist ja auch nichts für Kinder und Kappsteine. Denn wir wollen diese ruchlose Satire nicht hinterher ästhetisch beschönigt haben: der Dichter habe es nicht so schlimm gemeint, in Wirklichkeit sei er Ehrenmitglied der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten … Gott bewahre! Panizza hats gewagt. Wer wagts noch?
Wir wollen wieder einmal aus dem Theater gehen: im Innersten geschüttelt, zwischen Grauen und Komik hin und her geschleudert und zutiefst von dem Bewußtsein erfüllt, dass es eine pathetische Affenkomödie ist hienieden.
Was übrigens diesen Oskar Panizza angeht, so hat er dem Münchner Dichterkreise angehört, dessen damaliger Mittelpunkt, Michael Georg Conrad, heute ein alter Mann ist, der nicht mehr ahnen läßt, was da einst unter seiner Obhut gärte. Der politische Wille dieser Münchner war – wie hätte es in dem wilhelminischen Deutschland auch anders sein können! – viel zu eingeengt, und eine Verbindung mit der praktisch arbeitenden Sozialdemokratie, die die Literaten wieder geistig hätte befruchten können, war kaum vorhanden. So blieb alles ästhetische Geste, was doch befeuernde politische Kraft hätte sein müssen, um wirken zu können, und verebbte schließlich in Bürgerbohème. Ähnlich wie in Friedrichshagen. Aber wie in Friedrichshagen Gerhart Hauptmann Kreis Kreis sein ließ und selber einer wurde, so ragte über die Münchner der unglückliche Oskar Panizza weit hervor.
Er hat noch hassen können, wie heute nur Heinrich Mann haßt. Er hat sein Land geliebt und die verabscheut, die es zu einem Kasernenhof und zu einer Tretmühle gemacht haben, derweil sie selbst nicht mitzutun brauchten: denn für sie galten keine Gesetze. Vorschriften gelten nie für die, die sie gemacht haben.
Aus einem Versbüchlein Panizzas, ›Parisiana‹ geheißen, pflücke ich einige bunte Blüten, die heut noch nicht verwelkt sind, und die der lieben Mama Germania ins schwarz-weiß-rote Glas zu stellen mir eine besondere Freude ist.
Es sind erstaunlich prophetische Verse in dem Buch. So dieser:
Denn Blut wird fließen, Blut soll fließen –
mit Worten werdet Ihr nicht quitt –
soll neu Gedankensaat euch sprießen,
wills Einen, der am Kreuze litt,
und wollt Ihr neue Bünde schließen,
bedarfs des Bluts dazu als Kitt.
Aber der Prophet kehrte sein Gesicht nicht nur in die Zukunft, sondern sah auch in die Gegenwart, und sein Blick von Paris nach Berlin herüber war schärfer als der mancher Braven im Lande. Prallen Romanen und von ihnen beeinflußte Geister mit den schlechten Seiten des Deutschtums zusammen, so gibt es immer denselben Klang; und wenn er den Deutschen nicht lieblich in den Ohren klingt, wessen Schuld mag das sein? Heinrich Mann haben wir hier neulich betrachtet; in einem sonst mäßigen Tendenzwerk von Maurice Barrès: ›In deutschen Heeresdiensten‹ steht: »Ein deutscher Soldat sieht immer wie ein geprügelter Hund aus«, und: »In dem dritten Saale bemerkten wir den großen Tisch, wo sich allabendlich die Offiziere einfanden. Meine Kameraden waren überzeugt, daß ein Lokal, welches Hauptleute und Leutnants besuchten, dadurch ein vornehmer Ort wurde; wenn sie ihre Vorgesetzten auch nur aus der Ferne betrachteten, schien ihre Kleinheit einen Anteil an dieser Größe zu haben.« So Panizza in Versen.
Sein Haß schäumt wie jeder gute Haß weit über die Ufer; es ist die maßlose Verbitterung eines Mannes, der in der Welt gesehen hat, dass eine solche Unterdrückung wie die der Deutschen nirgends sonst möglich wäre, und das nicht etwa, weil die Unterdrücker fehlten, sondern weil es keinen gibt, der sie sich gefallen ließe. Es heißt einmal: »Ein Volk, das im Lakaientume sich wohl fühlt als geborner Knecht.«
Das hat ihn so maßlos gewurmt und bohrend und quälend an ihm gefressen, dass das Volk seiner Fürsten wert war, und er sah mit haßgeschärftem Blick die groteske Außenseite und das Herz. Die Außenseite:
Der Männerchor – o wie phantastisch
der schwarzgefrackte Männerbauch,
wie glasig-schön und wie bombastisch
das aufgeschlag'ne Männeraug',
vielleicht ein bißchen päderastisch
der weiblichen Tenöre Hauch …
So singt denn, wie die Redwitz sangen,
und zeigt, was Ihr vielstimmig wert,
mit Flöten zähmt man wilde Schlangen,
zähmt Ihr mit Singen euer Pferd.
Denn eigentlich, bei Licht betrachtet,
was Deutsche, ist denn eure Lust?
Materie habt Ihr stets verachtet,
Ihr schwärmt nur, wenn in eurer Brust
ein riesiges Empfinden nachtet,
das zu Musik wird unbewußt.
Ließt Ihr euch nicht absichtlich treten
von euern Fürsten Tag und Nacht,
und habt aus euern Schmerzensnöten
dann einen Männerchor gemacht?
Das Herz:
Ihr meint: von Siebzig, Einundsiebzig
wär das 'ne heitere Vision –
das Siegen, das vererbt sich, gibt sich,
so weg vom Vater auf den Sohn,
und auch das Einkassieren übt sich
von Gold Milliarde und Million?
Nun, übt euch fleißig nur im Hoffen,
doch sagt es hier nicht allzulaut!
Was mich betrifft, so wünscht' ich offen,
Ihr würdet ordentlich gebaut,
gleichviel von wem, von welchem Feinde.
Eu'r Untergehn ist unser Sieg –
die große, geistige Gemeinde,
sie kennt nur einen einz'gen Krieg …
Der Haß Panizzas gegen das Haupt des deutschen Unheils war so groß wie die Liebe zu seinem Volk, und was ihm damals den Scheiterhaufen eingetragen hätte, ist heute kaum mehr wert als ein bejahendes Achselzucken:
Wo bist Du, Deutschland? O, in deinen Tannen
der dunkle und geheime Flüsterwind,
in dem du deine Seele auszuspannen
gewohnt, und der so freundlich und so lind,
er rauscht nicht mehr – die Geister all entrannen
vor einem Nordwind eisig und geschwind …
Du Büffelherde, trotzig-ungelenke,
die durch die Wälder raset mit Gestank,
folgst heute einem einz'gen Stier zur Tränke,
und dieser eine Stier ist geisteskrank.
Und als Mahnung und Aufschrei klingt durch die ungestüm polternden und holpernden Verse (wie schön hat diese Ottave rime Liliencron gehandhabt!) die Aufforderung an seine Deutschen: Tut etwas! Seid aktiv und tut etwas! Er glaubt nicht recht daran; er sagt, die Marseillaise würde in Deutschland erst ertönen, die Gendarmen würden erst präsentieren und Volk und Heer befreit sein:
Wenn einmal auf die Schlösser springen
und in der Spree fließt roter Wein,
dann wird man solche Lieder singen,
dann hört man solche Melodeien!
Und sein Traum ist, die Deutschen würden eines Tages so viel Verstand bekommen, die Bataillone nicht nur zu Schirm und Schutz vor die Fürsten aufzupflanzen, sondern zu ganz etwas anderm:
Herr Moltke brauchte einst die Phrase:
»Das Heer ist gegen Deutsche da,
man säubert damit von der Straße
die Menschen, die dem Schloß zu nah'
gewagt sich« – beim Champagnerglase
fand seine Rede viel Hurrah!
Doch irrt euch nicht, Ihr lieben Kinder
der Gasse, denn kommt einst die Uhr,
macht gegen Kronen und Cylinder
Ihr Front, und sagt: Choc en retour!
Und weil wir heute nicht mehr und noch nicht wieder – denn wir kennen unsre Pappenheimer – zensurpflichtig sind, deshalb sollten diese Klänge hier ertönen, aus denen noch einmal aufsteigt, was sich dieses Volk Jahrzehnte lang hat bieten lassen. Die Revolution vom neunten November war keine: um eine etwas erregt verlaufene Statutenänderung wird heute etwas reichlich viel Spektakel gemacht. Eingeschlagene Fenster und eingeschlagene Köpfe besagen gar nichts für einen Umsturz: aber es besagt wohl etwas, den Mut zu haben, das Alte herunterzureißen, dass es kracht und dann – dann erst! – etwas Neues aufzubauen.
Manches, was 1899 frisch klang, ist heute ein wenig veraltet, jung aber wie je sei unser Haß gegen die Pickelhauben und ihre Schützer, deren Väter und deren Söhne.
Wir gedenken des tapfern Oskar Panizza und grüßen die gefallenen Helden der deutschen November-Unruhen! Wird sich der Traum eines glücklich erwachten Deutschland einmal verwirklichen?
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 11.09.1919, Nr. 38, S. 321.