Herr Goldmann und Frühlingserwachen


Literat. Manchmal schreckt mich der Gedanke aus dem Schlaf, Herr Paul Goldmann könnte glauben, ich hätte seine letzten Feuilletons nicht gelesen. Aber ich muß ihm doch endlich die Beruhigung verschaffen, dass nur Raummangel mich davon abhielt, die Lektüre zu bestätigen. Also in aller Kürze. »Ritter Blaubart« von Herbert Eulenberg. Herr Goldmann beklagt sich über die »Perversität auf der Bühne«. »Wir haben es erlebt und erleben es noch, dass ein Berliner Theaterleiter, Max Reinhardt, sich aus der Aufführung perverser Stücke eine Spezialität gemacht, dass er gewisse Schauspieler und Schauspielerinnen in sein Ensemble aufgenommen hat, deren einzige künstlerische Qualitäten in der Darstellung perverser Rollen bestehen … Wir haben also hier (»Der Liebeskönig«) einen Fall, wo nicht etwa ein Drama aufgeführt worden ist, weil es, obwohl es durch manche Perversität abstößt, das Werk eines Dichters ist, sondern wo ein Drama eben wegen seiner abstoßenden Perversität für das Werk eines Dichters gehalten und der Aufführung für würdig erachtet worden ist. Und man kann sich wirklich kaum einen ärgeren Mißbrauch der Bühne denken, als dass ein Stück aufgeführt wird lediglich aus dem Grunde, weil es pervers ist.« So, in diesem Ton einer Klugheitsdiarrhöe, geht es durch die obligaten 11 Spalten. Und kein Mensch weiß, was dieser Normalmensch eigentlich unter »Perversität« und nun gar unter einem »perversen Stück« oder einer »perversen Rolle« sich vorstellt. »Was nun das Drama von Herbert Eulenberg anlangt, so gehört es, wie schon erwähnt, in die Reihe der Perversitätsdramen, mit denen die moderne Richtung uns beschenkt hat. Schon dass der Autor überhaupt einen solchen Helden sich gewählt hat, bekundet eine gewisse Perversität.« Und so fort. Dazwischen die typischen Schweißperlen der Trivialität: Der Snobismus »erklärt sich für das Neue, nicht weil es künstlerisch wertvoll, sondern weil es neu ist«. Oder: »Die Tragödie hat die Aufgabe, dadurch, dass sie Empfindungen des Schmerzes, also unangenehme Empfindungen hervorruft, zu erschüttern. Daraus folgt aber noch nicht, dass jedes Stück, das unangenehme Empfindungen hervorruft, eine Tragödie ist.« Oder: »Weil ein Leichenbegängnis tragische Wirkungen hervorzubringen vermag, glaubt Eulenberg tragisch zu wirken, indem er ein Leichenbegängnis auf die Bühne bringt.« Die Börseaner sind von solcher Klarheit entzückt; nie noch hat ein Kritiker tiefer unter das geistige Niveau eines Durchschnittslesers der ›Neuen Freien Presse‹ gelangt als dieser Goldmann. Darum muß man ausdrücklich Offenbachs Entzückendstes, »Blaubart«, gegen das Lob schützen, durch das er es herabsetzt. An dem Wort der Boulotte: »Dieser Blaubart ist doch ein reizender Mensch« wird Herr Goldmann leider zum Frauenpsychologen. Schließlich muß er zugeben, dass »die Neigung einer Frau zu einem Manne in der Regel von dem Tun oder Lassen dieses Mannes völlig unabhängig ist«. Ist das nicht »pervers«? Hat er sich nicht kurz zuvor über die »zwingende psychologische Motivierung« Eulenbergs lustig gemacht, der ein Mädchen am Grabe ihrer Schwester sich in deren Mörder verlieben läßt? Wie »pervers« wäre die Boulotte, wenn sie von Eulenberg wäre! — Herr Goldmann über Wedekinds »Frühlingserwachen«. Schon die erste Notiz war vielversprechend. »Nach einem Gespräch mit dem kopflosen Gespenst seines Freundes, der sich erschossen hat, übergibt er sich für den Rest seines Lebens der Führung des Teufels, der in der Gestalt eines vermummten Herrn auftritt, welcher von Wedekind selbst gespielt wird … Das Publikum hatte offenbar keine Ahnung, was es eigentlich mit dem Stücke anfangen sollte«. Wie sollte also Herr Goldmann, der tief unter dem Publikum steht, eine Ahnung davon haben? Dem auf die Literatur losgelassenen Vernunftreporter mußte es passieren, dass er den »vermummten Herrn«, der das Prinzip der Lebensbejahung vertritt, für den »Teufel« hielt. Es wird mir natürlich nicht in den Sinn kommen, Wedekinds wundervolle Kindertragödie, dieses dichterischeste Werk der modernen Kunst und stärkste Bekenntnis modernen Geistes, das die deutsche Dramaturgie fünfzehn Jahre liegen ließ — ich erkenne zum erstenmale ein Verdienst des Direktors Reinhardt —, gegen einen Schnittwarenkommis in Schutz zu nehmen. Mag er dem Lesepöbel eines Weltblattes erzählen, dass es nichts tauge, mag er an dem genialen zweizeiligen Lehrerdialog, der eine Abhandlung über den pädagogischen Jammer ersetzt, seine Beschränktheit erweisen. Aber der Gedanke ist doch unerträglich, dass uns ein Vertreter des plattfüßigsten Menschenverstands immer wieder als Kunstrichter aufgedrängt wird. Ein Gehirn, dessen Schmalz ununterbrochen in Wendungen glänzt, wie: »Da das Genie sich manchmal über die technischen Regeln der Kunst hinwegsetzt, so folgt daraus nach moderner Logik, dass derjenige, der die technischen Regeln nicht befolgt, ein Genie ist«. Und solch ein Flachkopf erdreistet sich, Frank Wedekind über sexualpsychologische Fragen Weisungen zu geben! Einem Rationalisten, der die Regeln des Börsenverkehrs auf die Kunst zu übertragen gewohnt ist, wird vor keinem Problem bange. Im Notfall wird er zum Ethiker und beruhigt die Familienväter, für die zwischen Valuten und Devisen die Kindererziehung eine Aktie ohne Ertrag darstellt, mit der gehirnweichen Versicherung: »In den weitaus meisten Fällen wird, wie bei den Erwachsenen, so auch bei den Kindern, die sinnliche Begierde von der Moral im Schranken gehalten.» Nur schnell, der Alte muß auf die Börs’! Dass sich solche Fibelweisheit der Erwachsenen nach jener Dichtung, die sie der Lebensweisheit der Kinder in einer Reihe tragischer Karikaturen als Fluch gesellt, noch ans Licht traut! Aber das Sprüchlein, dass »kindliche Reinheit kein leerer Wahn« sei, wird, wie man sieht, von Pastoren nicht besser aufgesagt als von Feuilletonisten. Was Frank Wedekind auf die Bühne bringt, gibt’s natürlich im Leben nicht. Zum Beispiel: »Ein Mädchen veranlaßt aus sadistischem Gelüste einen Knaben, sie durchzuprügeln …« Nein, so etwas gibt’s wirklich nicht!

 

 

Nr. 217, VIII. Jahr

23. Jänner 1907.


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