Adalbert von Goldschmidt


Musiker. Weil sich einem das Leben nur in der Form der Niedrigkeit eines Charakters, der Beschränktheit des Geistes und der Kulturlosigkeit der Manieren aufdrängt, kommt man erst dann dazu, der wertvollen Menschen zu gedenken, wenn sie sterben. Aber dann muß es auch erlaubt sein, zu sagen, dass die Art, wie Adalbert von Goldschmidt, der Komponist, saß und ging, erzählte und schaute, hundertmal feineren Kunstgehalt hatte, als die Art, wie andere komponieren, und dass mit ihm einer jener seltenen Menschen gestorben ist, deren Wert zu erkennen nicht eine Fähigkeit ist, die die Kenntnis ihres Faches voraussetzt, sondern eine Angelegenheit des Kulturgefühls. Und da die Wiener Musikkritik den Angelegenheiten des Kulturgefühls ferner steht, als der Tabulatur, so dürfte die systematische Mißhandlung eines Künstlers und mit ihr die systematische Verbitterung eines gütigen und vornehmen Menschen leicht zu erklären sein. Aber gegen diesen unverbesserlichen Verschwender von Menschlichkeit, dem kein Azur am Lebensabend gesammelten Bettel zurückgab, hatte sich nlcht nur die Fachgehässigkeit verschworen. Wiens Möglichkeiten reichen weiter. Dass ein Künstler in ein Sanatorium flüchten muß, um Ruhe vor Wucherern zu haben, und dass ein Weltblatt nach seinem Tode von ihm rühmt, er sei der Sohn eines Prokuristen des Hauses Rothschild gewesen, ist eine wienerische Tatsache. Von seinem musikalischen Schaffen heißt es, dass »der Stoff des Oratoriums ›Die sieben Todsünden‹ ihn zwang, die Nachtseiten des menschlichen Daseins in Tönen darzustellen.« Viel mehr weiß der Advokat Korngold, der Hanslicks Nachfolge angetreten hat, ein Musikkritiker, der ausschließlich Expensnoten lesen kann, über Adalbert von Goldschmidt, der ja tatsächlich ein armer gehetzter Klient war, nicht zu sagen. Dafür hat seinerzeit das ›Neue Wiener Tagblatt‹ umsomehr verraten. Ich habe den Fall behandelt. Und heute ist es angebracht, wieder daran zu erinnern, dass Herr Wilhelm Singer sich für private Bemerkungen Goldschmidts — vermutlich über den musikkritischen Horizont des Herrn Kalbeck — durch einen Artikel über das privateste Unglück des Künstlers gerächt hat. Wenn es frevelhaft war, diesem liebenswürdigen Menschen auch nur einen Tag zu trüben, Herr Singer hat sich von diesem Vorhaben auch nicht durch die Rücksicht auf die von ihm so hartnäckig vertretene »Würde der Presse« abhalten lassen. Möge er heute der Tat froh werden! Damit, dass sein Musikreporter den Nachruf mit der Mitteilung einleitet, Goldschmidt sei »in Künstlerkreisen kurzweg Berti genannt« worden, ist sie nicht gut gemacht. Nicht einmal durch die schwachsinnige Wendung: »Goldschmidt machte sich an das Musikdrama ›Helianthus‹, zu dem er auch den Text verfaßte, was ihm den von Richard Wagner geprägten Titel eines Dichterkomponisten einbrachte«. Gegenüber solchem Trauerspott muß die durchaus anständige und liebevolle Würdigung des Toten durch Herrn Hans Liebstöckl ausdrücklich hervorgehoben werden, der schmerzlich bekennt, von Adalbert von Goldschmidts »köstlichem Humor, seiner unerschöpflichen Menschlichkeit, seinen letzten Hoffnungen und Träumen mehr als einmal lebendige Nachricht empfangen« zu haben, und es beklagt, dass keiner der Verleger seiner Werke es verstanden habe, ihn »in Szene zu setzen, wie es oft minderwertigen Künstlern glückt«. Am Grabe echter Künstlerschaft steht im modernen Wien eine »Lustige Witwe«.

 

 

Nr. 216, VIII. Jahr

9. Jänner 1907.


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