Die Annonce der Selbsterkenntnis


Inserent. Das kam nämlich so. Einer wühlte in alten Papieren und fand das Konzept etlicher Verse. Wie war er zum Lyriker geworden? Er erinnerte sich, dass er vor vielen, vielen Jahren die ›Neue Freie Presse‹ gerichtlich zur Aufnahme eines anständigen Inserats zwingen wollte, das die Administration angenommen, aber die Redaktion unterdrückt hatte. In der Verhandlung erklärte der verantwortliche Redakteur feierlich: »Die Redaktion prüft jedes Inserat auf seine Eignung fürs Blatt und kann nur jene Anzeigen aufnehmen, mit deren Tendenz sie einverstanden ist!« Aber es ist unwahr, dass die ›Neue Freie Presse‹ nur unanständige Annoncen druckt. Und der Kläger beschloß, sie in Versuchung zu bringen. Er schwor sich’s zu, bei der gewissenhaften Redaktion die Aufnahme einer Anzeige zu erreichen, die keine lügenhafte Anpreisung enthält, sondern in der der Satz vorkommt: »Die ›Neue Freie‹ ist ein Blatt, das für Geld Alles bringt.« So setzte er denn die Feder an, um diesen schönen Gedanken in die Form einer jener lyrischen Poesien zu bringen, die so oft auf dem Hinterteil der ›Neuen Freien Presse‹ prangen. Kam aber damals nicht zur Ausführung der Wette, die er mit sich selbst geschlossen hatte. Nun sah er das Konzept wieder. Und wieder fühlte er sich durch einen Gerichtsfall, der die Abweisung einer Annonce (durch ein anderes Blatt) betraf, lyrisch angeregt. Vollendete noch in derselben Stunde den Entwurf und schickte das Gedicht in die ›Neue Freie Presse‹. Es erschien pünktlich am nächsten Tage, am 18. Jänner 1907, und lautet:

 

Resignation.

Ja, Dein Leben war und ist das meine!

Die im Lenze wieder blühn und prangen,

Neue Blumen ich fortan beweine —

Freie Triebe, die im Frost gefangen.

Ist Verlust es oder ist’s Gewinn?

Ein und aus! Es zieh’n die blassen Stunden.

Blatt um Blatt, ich gab es freudig hin,

Das ich auf dem Lebensweg gefunden.

Für der Sklavenliebe alte Schuld

Geld und Ehr’ ließ ich am schnöden Ende,

Alles um der einen Närrin Huld.

Bringt das harte Schicksal nun die Wende?

 

Tags darauf brachte schon die ›Arbeiter-Zeitung‹ den Satz, den die Anfangsworte des Gedichtes bilden, in Sperrdruck. Wenn man jetzt auch noch wissen will, für wie viel Geld die ›Neue Freie‹ Alles bringt, so kann ich es verraten: Es hat 16 Kronen gekostet, das Blatt zur Einschaltung einer Selbsterkenntnis zu veranlassen.

 

 

Nr. 217, VIII. Jahr

23. Jänner 1907.


 © textlog.de 2004 • 15.11.2024 11:21:45 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.03.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen