Haltet den Dieb!
Dieb. Das ›Neue Wiener Journal‹ hat eine »Plagiataffaire« behandelt. Die »Plagiataffaire Weininger«. Unter diesem Titel wagt das schäbigste Diebsblatt der Welt über das Lebenswerk eines toten Denkers und über den Ausgang jener gleichgiltigen Prozeßsache zu berichten, in der der Wiener Privatdozent Dr. Swoboda vergebens bemüht war, sich gegen den Verfolgungswahn des Berliners Fließ zu verteidigen. Swoboda hatte überflüssigerweise wegen Beleidigung geklagt, und die Klage wurde abgewiesen. Weil die Herren Fließ und Pfennig »in Wahrnehmung berechtigter Interessen« gehandelt hätten. Ein jeder Vertreter der Wissenschaft sei »befugt, wirkliche oder seiner Überzeugung nach vorhandene Plagiate aufzudecken«. Nach deutschem Strafgesetz scheint solche Ungeheuerlichkeit der a limine Abweisung einer Beleidigungsklage möglich zu sein. Der Geklagte muß nicht erst den Wahrheitsbeweis erbringen, sondern es genügt seine »Überzeugung«. In Deutschland wäre ich im Prozeß Bahr-Bukovics mit lebenslänglicher Verköstigung in einem eigens für mich zu erbauenden Prytaneum belohnt worden. Wenn die Abweise der Klage Swobodas irgend etwas beweist, so beweist sie vielleicht den guten Glauben des Geklagten, gewiß nicht die Plagiatschuld des Klägers oder seines toten Freundes. Trotzdem ruft Herr Lippowitz: »Haltet den Dieb!«, druckt frohlockend den richterlichen Ausspruch ab, ein Autor habe ein berechtigtes Interesse daran, dass an seinem Werke »kein geistiger Diebstahl begangen und ein etwa begangener Diebstahl schonungslos aufgedeckt wird.« Man denke nur, Herr Lippowitz! Kein Mensch begreift, warum. Keiner versteht, was den Wiener Schnittwarenhändler der deutsche Philosophenstreit angeht oder sagen wir schert. Weiningers Andenken und Swobodas Reputation werden durch den Berliner Gerichtsbeschluß, der eine rein juristisch-technische Wendung bedeutet, gewiß nicht berührt. Herr Lippowitz nennt ihn »vernichtend«. Swoboda habe »keine Beschwerde eingelegt, ja, die Beschwerde, die er bereits eingelegt hatte, wurde zurückgezogen«. »Damit hat er sich selbst gerichtet«. Hoffentlich hat das ›Neue Wiener Journal‹ den Bericht über diese Affaire gestohlen. Für einen Originalartikel — selbst des ›Neuen Wiener Journals‹ — ist er zu kompromittierend blöd. Swoboda hat die Beschwerde mit Recht zurückgezogen, und hatte Unrecht, die Klage einzubringen. In Deutschland kann bei dem Fehlen einer formalen Beleidigung nicht anders entschieden werden. Ganz anders in Österreich. Und Herr Lippowitz hat nicht einmal eine Klage eingebracht, so oft man ihm ein Plagiat vorwarf, geschweige denn eine Beschwerde eingebracht oder zurückgezogen. Wenn je ein Beschuldigter es vorgezogen hat, »sich selbst zu richten«, so war es Herr Lippowitz. Dennoch rief er an jedem Quartalschluß unbefangen: Abonniert das ›Neue Wiener Journal‹! Zu deutsch: Haltet den Dieb!
Nr. 216, VIII. Jahr
9. Jänner 1907.