Ein Plaidoyer für Wilhelm Voigt
Kriminalist. »Der hervorragende Wiener Verteidiger Dr. Richard Preßburger hat ein Plaidoyer verfaßt, in welchem er die Gestalt des ›falschen Hauptmanns von Köpenick‹ nach ihrer psychologischen und kriminalistischen Seite schildert.« So meldet das ›Extrablatt‹ und druckt das Plaidoyer ab. Wirklich und wahrhaftig. Bisher habe ich immer geglaubt, dass das Erbrechen der schleimigsten Verteidigerphrasen des Anstoßes durch den Wunsch des Klienten, oder des Auftrags des Gerichtes bedürfe. Die Angelegenheit spielt sich aber noch viel automatischer ab. Der Herr Preßburger hat sich durch die bedauerliche Tatsache, dass Wilhelm Voigt ihn nicht zu seinem Verteidiger bestellt hat, nicht davon abbringen zu lassen, ein »Plaidoyer« für ihn zu halten oder vielmehr das Plaidoyer, das er für ihn gehalten hätte, im ›Extrablatt‹ abzulagern. Welche Fülle neuer Erkenntnisse hätte er im Falle Voigt dem Gerichtshofe zu übermitteln gehabt! »Wir lieben unsere Mutter, weil sie die Liebe in unser Herz pflanzte, wir ehren unseren Vater, weil er uns vorbildlich ist und den Weg ebnet, auf dem wir in die Zukunft schreiten, wir schließen uns an das Vaterland, weil es uns die Heimat bietet, und die Gesetze können wir nur achten, wenn sie uns Schutz gewähren«. Herr Preßburger hat’s nicht zurückhalten können. Und so mußte die schlichte Tragödie des Wismarer Schusters zu einem Wiener Schundstück voll Schwurgerichtspathetik herabgedrückt werden. Darin wird natürlich »die Milch der frommen Denkart in gährend Drachengift« verwandelt und Erynnien »heften sich an die Fersen des Unseligen«. Herr Preßburger hätte natürlich auch die Vertretung des Wilhelm Tell oder des Orestes ohne Vollmacht übernommen.
Nr. 216, VIII. Jahr
9. Jänner 1907.