Die Bühnenfächer
Idiot. Die Einteilung der Bühnencharaktere in Bonvivants, Helden, Intriganten, schüchterne Liebhaber usw. genügt euch nicht mehr? Sollen wir also die Bühnencharaktere nach innen oder nach außen spezialisieren? Sie nach innen spezialisieren ist Sache des literarischen Snobismus; sie nach außen spezialisieren, Sache des literarischen Idiotentums, also etwa der ›Neuen Freien Presse‹. Die läßt ihren Theaternotizler über den verstorbenen Burgschauspieler Witte wörtlich das Folgende schreiben: »Vortreffliche schauspielerische Leistungen bot er besonders in kleinen Rollen als Hotelwirt, Kellner und in klassischen Stücken als Arzt«. Es ist offenbar ein Verstoß Lessings gegen die Theaterregeln, dass er einmal einen Hotelwirt eine größere Rolle spielen läßt. Wäre der Hotelwirt ein Kellner, hätte Lessing es gewiß nicht getan. Aber der Arzt in den klassischen Stücken? Welche Funktion hat er eigentlich? Wir wissen bloß, dass Herr Witte in den klassischen Stücken den Arzt gespielt hat. Und »der den König spielt«, ist natürlich mehr, der einen Diener spielt, weniger als der Darsteller des Arztes. So empfinden die guten, dummen Bauernknaben. Sie sehen auf das Kostüm, nicht wie ihre Väter auf den Charakter (die bekanntlich hingehen und den Darsteller des Intriganten durchprügeln). Auch wenn sie auf der Gallerie des politischen Theaters sitzen. Der gute, dumme Bauernknabe, der in der ›Neuen Freien Presse‹ die Eindrücke einer Herrenhaussitzung wiederzugeben hatte, wußte zu erzählen: »Der tschechische Dichter Vrchlicky, von welchem man eine schwungvolle, gedankenreiche Rede erwartet hatte, enttäuschte ein wenig. Der Rede fehlte die poetische Würze.« Vrchlicky spielt also im Herrenhaus den Dichter viel schlechter als Herr Witte im Burgtheater den Arzt gespielt hat. (Und bei dem Thema Wahlreform ergibt sich doch bekanntlich der poetische Schwung von selbst.) Solche Enttäuschung kann dem Vertreter der ›Neuen Freien Presse‹ auch sonst nicht erspart bleiben. Was hätte denn der Bildhauer Zumbusch, der im Herrenhaus sitzt, zur Wahlreform zu sagen? Seiner Rede fehlte gewiß die erwartete Plastik! Oder hat der Rede des Professors Gomperz nicht der erwartete klassische Zug gefehlt? Und wie hätte erst Dr. von Widerhofer enttäuscht, der den Arzt im Herrenhaus gespielt hat?
Nr. 216, VIII. Jahr
9. Jänner 1907.