Der Brief eines Staatsbeamten
Staatsbeamter. Wenn der österreichische Staat ahnte, wie viel geistiger Sprengstoff in der trägen Luft seiner Amtsstuben konserviert wird, er traute seinen Beamten nicht über die Gasse. Wenn er gar hören könnte, wie die manchmal über ihn sprechen! Ich höre es. Denn über meine Schwelle dringt mancher Seufzer und manches Hohnwort, so tief geschöpft und so echt gefaßt, dass man glauben könnte, sie kämen bloß von jenen, die für hohe Steuern schlecht regiert werden. Sie kommen aber auch von jenen, die für elenden Lohn gezwungen werden schlecht zu regieren. Ein Staatsbeamter, den ich schon einmal — in der Nr. 201 — zu Worte kommen ließ, sandte mir kürzlich einen Brief, der eine Reaktion des Kulturgefühls auf die allgemeine Vertrottelung anzeigt, in einer Sphäre, in der man solche Absage am wenigsten erwartet hat. Auch dieser Brief, an sich und nicht nur in der Fülle der mich täglich heimsuchenden postalischen Plagen erfreulich, verdient den Abdruck:
»Wien, 21. Dezember 1906. Werter Herr Kraus! In der sentimentalen Zeit der heiligen Nacht, auf die, ununterbrochen fast, zweitausendjährige Dunkelheit folgte; in dem Adventus der Ärzte- und Advokatenrechnungen; während des Rummels, in dem das ›bürgerliche‹ Jahr, will heißen, der Philister-Termin, kulminiert; unter den mannigfachen Belästigungen, die heuer gottlob eine passive Resistenz etwas mildert, werden Sie wohl die anspruchslosen Zeilen eines stillen Menschen nicht verschmähen, der just diese Zeit der Konventionen benützt, Ihnen zu schreiben, dass auch er anders denkt; dass wir, wenn auch nicht vielleicht in den Neigungen, so doch sicher in den Abneigungen einander völlig gleichen; endlich, dass er Sie zu dem wahrhaft größten Triumphe beglückwünscht: Auf dem Wege zu neuen Wahrheiten mitten durch das Unkraut uralter Lügen in den (selten leider) mutigen Söhnen und anmutigen Töchtern eben dieser unsrer lieben Philister treue Begleiter gefunden zu haben! Ihr getreuer ...., k. k. Staatsbeamter.«
Nr. 217, VIII. Jahr
23. Jänner 1907.