4. Kapitel

Liebenberg unter Karl von Hertefeld
1816–1867


Seinem Vater Friedrich Leopold folgte Karl von Hertefeld, der sogenannte »alte Hertefeld«, im Besitze von Liebenberg. Er stand demselben fünfzig Jahre lang vor und starb kinderlos. Mit ihm erlosch das alte Clevesche Geschlecht, das den brandenburgisch-preußischen Landen so viele durch Geist, Charakter und freiere Lebensauffassung ausgezeichnete Männer gegeben hatte. Denn beinahe allen war ein reformatorischer Zug eigen, derselbe Zug, der sich auch in so vielen unsrer Hohenzollern unschwer erkennen und verfolgen läßt.

Karl von Hertefeld wurde den 27. Oktober 1794 auf Schloß Bötzlar geboren. Die Freude, »daß nun ein Erbe da sei«, war groß, und kein Brief aus jener Zeit, der nicht Zeugnis davon ablegte, wie von einem allerglücklichsten Familienleben überhaupt. »Karl schackert wie eine Elster. Er grüßt Dich und reitet, seit er ein Steckenpferd hat, täglich zu Schwester Dine.« So heißt es im Mai 1797. Und als nun im selbigen Herbst eben dieser Schwester (Alexandrine Dankelmann) ein Sohn geboren wurde, wurde es versucht, dem dreijährigen »Onkel Karl« eine Vorstellung von seiner neuen Würde beizubringen. Es schien nicht gelingen zu sollen, als aber, einige Tage später, »Onkel Wylich«, ein Bruder der Frau von Hertefeld, in den Schloßhof einfuhr, lief ihm Karl entgegen und rief schon von weitem: »Onkel, ich bin nun auch Onkel.«

Die frühesten Kindheitsjahre verliefen infolge der vielen, im vorigen Kapitel geschilderten Hin- und Herzüge ziemlich unruhig, und von »Erziehung« konnte wohl erst die Rede sein, als der alte Freiherr in Liebenberg ein für allemal eingebürgert war. In vielen seiner Briefe werden von diesem Zeitpunkt an pädagogische Fragen verhandelt (es war ja die Basedow- und Pestalozzi-Zeit) und die mannigfach eingestreuten Mitteilungen und Ratschläge geben uns, auch nach dieser Seite hin, ein Bild aus jenen Tagen. »Ich bin für harte Bestrafungen, aber für augenblickliche. Ein Klaps zur rechten Zeit wirkt wahre Wunder.« Und bald darauf: »Ich höre von allerhand Erziehungsnöten, in denen Du Dich befindest. Nun, ich bin mit Deinem Bruder Karl in der gleichen Lage. Was ich zu sagen habe, ist kurz das: studiere die Gesinnungen und Neigungen des Kindes. Ist er cholerisch-lebhaft, so suche, sobald er hartnäckig einen eigenen, ihm unzulässigen Willen zeigt, diesen Willen zu brechen. Entgegengesetzten Falles hast Du später einen schweren Stand. Ist er aber bloß lustig, wild und aus Leichtsinn unwillig, so mußt Du seine Aufmerksamkeit abzulenken suchen, was bei einem Kinde meistens nicht schwer ist. Das aber, worauf Du vor allem zu sehen hast, ist das, daß er erstens überhaupt und zweitens nach einer bestimmten Ordnung und seinem Naturell entsprechend beschäftigt ist. In einer solchen Ordnung erziehe ich jetzt Deinen Bruder.« Und im nächsten Briefe hören wir denn auch in welcher Ordnung. »Ich beginne mit dem Schlaf, dieser ›Nährmutter unsrer Natur‹. Er kann schlafen, solang er will, denn ich gehe davon aus, daß ein jugendlicher Körper, nach dem beständigen Umherspringen, auch wieder seine volle Ruhe haben muß. Gemeinhin ist er um 8 Uhr munter, wird gewaschen und gekleidet, frühstückt mit mir, liest unter Aufsicht und Anleitung und geht dann ins Freie. Gegen 11 Uhr ist er wieder um mich her, sieht sich Bilder an oder spielt, oder liest mir auch wohl aus seinen Kinderbüchern vor, wobei sich's gebietet, mit Geduld und Teilnahme zu folgen. Am Nachmittage beginnen dann seine Spaziergänge, zunächst wieder in den Garten, in dem er mit Hacke, Spaten und Schubkarren tätig ist, und danach, in meiner Begleitung, in Feld oder Wald. Ist schlimmes Wetter, so muß allerhand Spielzeug aushelfen. Und um 9 Uhr zu Bett.«39

Überblicke ich alles an dieser und anderer Stelle Gesagte, so läßt sich leicht erkennen, daß er von einer auf Beispiel und Anschauung den Akzent legenden Erziehung sehr viel, von der eigentlichen »Schule« aber sehr wenig hielt. Er betonte Gesinnung, Form und gute Sitten, das Lernen dagegen mußte sich wie von selber machen. Und wenn er nichtsdestoweniger ein promptes Innehalten der Lehrstunden forderte, so geschah es vorzugsweise um Disziplin und Ordnung willen.

1804 entspann sich, bei Gelegenheit eines schon früher erwähnten Ferienbesuchs, ein intimes Freundschaftsverhältnis zwischen dem zehnjährigen »Onkel Karl« und seinem siebenjährigen Neffen Heinrich von Dankelmann. »Es ist meine tägliche Freude«, schreibt der Alte, »die Kinder zu sehen. Sie bauen und pflegen das Stück Gartenland, das ich ihnen gegeben habe, reiten und fahren, und gehen sogar auf Jagd, seit Karl eine Flinte hat. Er ist geschickt genug und hat neulich eine Elster, eine Krähe und ein Eichkätzchen geschossen. Auch im Hause wissen sie sich gut genug zu bewegen und selbst in den Unterrichtsstunden trennen sie sich nicht. Ich war heute bei einer Geographiestunde zugegen und sah, wie Heinrich, dem die Sache noch zu gelehrt vorkam, über einem Fabelbuche saß. Sie lesen viel aus dem Robinson und überhaupt aus Campes Kinderbibliothek. Alles aber verschwindet neben einem Schiff mit Segeln und mehr noch neben einer Elektrisiermaschine, die ich Karl zu Weihnachten geschenkt habe. Vor dieser sitzen sie stundenlang und drehen und laden Flaschen, und freuen sich, wenn der Funke überspringt.«

Ein halbes Jahr lang dauerten diese »Ferien«, und als endlich die Trennung erfolgen mußte, beschloß der alte Freiherr, um Karl in seiner Vereinsamung zu trösten oder schadlos zu halten, eine Reise mit ihm zu machen. Und zwar nach Hamburg. Das war im Mai oder Juni 1805, und der phantasievolle Knabe begeisterte sich nicht nur an der sich groß und neu vor ihm erschließenden Welt, sondern unterließ auch nicht, eine Beschreibung davon in einem sechzehn Quartseiten langen Briefe zu Papier zu bringen. Eben dieser Brief ist uns aufbewahrt geblieben und kann, als Elaborat eines Zehnjährigen, für musterhaft gelten. Er zeigt schon, neben einer überraschend scharfen Beobachtung, denselben guten Humor, der seine späteren Briefe, von denen ich einige mitzuteilen gedenke, kennzeichnet. In Vater und Sohn ist dasselbe talent épistolaire erkennbar, trotzdem ihre Schreibweise sehr verschieden ist. In dem Vater herrscht der Philosoph, in dem Sohn der matter of fact-Mann vor.

An die Rückreise von Hamburg schloß sich ein kurzer Aufenthalt in Berlin, wo Geheimrat Dr. Formey wegen Karls »anfälliger Gesundheit« konsultiert werden sollte. Formey gab aber Trost und Hoffnung und versicherte, »daß das alles mit einem schwachen Nervensystem zusammenhänge; später werde er gesund werden, ganz gesund.« Und er hatte wahr gesprochen.

Aus den Jahren, die nun unmittelbar folgen, erfahren wir wenig, und erst um 1808 werden die Mitteilungen wieder reicher. Karl von Hertefeld ist nun vierzehn Jahre geworden und hat ganz die Beschäftigungen und Allüren eines angehenden Junkers. »Er bengelt jetzt viel und seine Passion fürs Umhertummeln wächst, seit ich ihm letzte Weihnachten die kleine Fuchsstute geschenkt habe. Beständig liegt er draußen, um einen seltenen Hasen aufzuspüren, denkt an nichts mehr als an Hunde und Pferde, und pflegt, wenn sich die Gelegenheit bietet, die sechs Meilen zwischen Liebenberg und Berlin im Sattel zu machen.«

Er wurde nun auch ganz als »Erbprinz« gehalten, und im folgenden Jahre veranstaltete der alte Freiherr, der die Menschen und ganz besonders seine Liebenberger kannte, einen erbprinzlichen Geburtstag. »Am 27. vorigen Monats haben wir Karls Geburtstag durch eine Hochzeit gefeiert. Eins unserer Hausmädchen, das von mir ausgestattet war, wurde mit ihrem Bräutigam getraut, den ich vorher eigens zum Hofmeier ernannt hatte. Fockes aus Berlin waren mit zugegen und freuten sich der ländlichen Szene, die für die Großstädter etwas Neues und für die Liebenberger ein Festtag war.«

In demselben Winter wurde Karl »in den Unterricht« geschickt, oder, um es noch märkischer auszudrücken, »in die Predigerstunde«, was, da Liebenberg keinen Prediger hatte, mit einer allwöchentlich zweimaligen Reise nach Zehdenick gleichbedeutend war. Ostern 1810 erfolgte dann die Konfirmation.

Und nun war die Zeit da, wo die längst angeregte Frage: »wie es mit der weitren wissenschaftlichen Ausbildung des Sohnes zu halten sei«, wenigstens auf ein paar Wochen hin eine wiederum viel ventilierte wurde. Das Liebenberger Leben in seiner Eingezogenheit und Stille konnte schließlich nicht ewig dauern, und Alexandrine, die, wie bei allem, so auch hierin zu Rate gezogen wurde, proponierte schließlich Pension oder Alumnat. »Ich habe selbst schon an dergleichen gedacht«, antwortete der Alte, »gestehe Dir aber, daß ich durch alles, was ich von Berliner Pensionsanstalten gesehen und geprüft habe, geradezu zurückgeschreckt worden bin. Bei dem Direktor des Joachimsthals, wo der junge Reck ist, kann man Griechisch und Latein genug in den Klassen lernen; aber damit Basta. Im übrigen ist der Umgang mit den dort studierenden Bengeln, trotzdem das Joachimsthal immer noch als das beste gilt, äußerst gefährlich. Lüderlichkeit herrscht in den meisten derartigen Anstalten, in der Stadt überhaupt,40 was Du schon daraus ersehen magst, daß man, um die neue Universität vor derartig üblen Einflüssen zu sichern, den ›Neustädtischen Bezirk‹, also den ganzen Stadtteil von der Schloßbrücke bis zum Brandenburger Tor, und von der letzten Straße (Dorotheenstraße) bis zur Kochstraße, von allen lüderlichen Etablissements gereinigt hat. Selbst die berüchtigte Madame Bernard hat ihr Haus in der Behrenstraße verkaufen und mitsamt ihren Nymphen sich außerhalb des eben angegebenen Bezirks niederlassen müssen. Dies ist geschehen, weil die meisten Studenten (um in Nähe der Universität zu sein) in dem Neustädtischen Bezirk Wohnung genommen haben.«

Erwägungen dieser Art führten begreiflicherweise zu dem Entschluß, es mit »Pension und Alumnat« nicht übereilen zu wollen, bis nach Ablauf von abermals anderthalb Jahren, eine Verpflanzung in die große Stadt nicht wohl länger hinausgeschoben werden konnte.

Doch auch jetzt nicht in eine »Pension«. Es wurde vielmehr beschlossen, den nun Siebzehnjährigen ohne weiteres in den Kreis der Studierenden eintreten und im Hause des befreundeten Geheimrats Focke Wohnung nehmen zu lassen.

Das war im April 1812. Allerhand Kollegia kamen auch wirklich an die Reihe, viel regelmäßiger aber als diese wurden Visiten gemacht und Gesellschaften besucht, und aus zahlreichen Nachschriften und Randbemerkungen ersehen wir, daß es die Reckes und Itzenplitzes, die Beymes und Boguslawskis waren, in deren Zirkel er vorzugsweise verkehrte. Dazu die Fockes selbst. Zu den ihm gleichaltrigen Söhnen einiger dieser Häuser unterhielt er alsbald die herzlichsten Beziehungen, und wenn in Liebenberg ein Fuchs gejagt oder ein ländliches Fest gefeiert wurde, so brach die ganze Freundschaft auf, um auf einen Tag oder eine Woche daran teilzunehmen. »Am 1. August hatten wir Erntefest«, schreibt der Alte. »Karl und drei Söhne von Geheimrat Focke waren herüber gekommen, und als weitere Zuschauer hatten sich die Seilers und hernach auch die Gentzs und Bergemanns von Gransee her eingefunden. Die jungen Leute wollten tanzen, und es entstand nun ein Ball von sechs Paaren, der bis 10 Uhr dauerte. Ich hätte gewünscht, Du wärest mit dabei gewesen. Ein solches Impromptu verläuft oft besser als eine geplante Festivität.« Und vier Tage später: »Auch eine Goldene Hochzeit haben wir gehabt, die der alten Guichards, wobei sich's traf, daß Karl und die jungen Fockes noch hier waren. Alles verlief aufs beste. Die Neumann hat etwas davon in die Zeitung rücken lassen, was mit meinem Hange vergessen zu sein, wenig übereinstimmt.«

Er schreibt wörtlich: »mit meiner Gemütlichkeit vergessen zu sein.« Überhaupt finden sich viele sprachlich originelle Wendungen.

In dieser Weise ging das Leben Karls von Hertefeld und erst bei Beginn des Winterhalbjahres war er der gesellschaftlichen Zerstreuungen insoweit überdrüssig, daß er ein regelrechtes Studium anfing, statt sich bloß »Studierens halber aufzuhalten«. Er warf sich zunächst auf Physik und deutsche Literatur, insonderheit auf das »Alt-Deutsche«, was eben damals in die Mode gekommen war. Obenan das Nibelungenlied, über das man übrigens in Liebenberg ebenso klein und gering dachte, wie dreißig Jahre früher in Sanssouci. Wenigstens schrieb der Alte: »Gestern, beim Aufräumen, ist mir auch das Nibelungenlied in die Hände gekommen, und schick' ich es Dir, weil ich mittlerweile vernommen habe, daß Du Vorlesungen darüber hörst. Wenn übrigens der Nibelungen-Siegfried in Xanten seinen Sammelplatz gehabt hat, so ist vielleicht eine Dissertation über den Ort zu schreiben, wo er den Lindwurm totschlug. Ich, meinesteils, würde vermuten, daß es in der an Xanten grenzenden Bonnekater Heide geschehen sein müsse, die so wüst daliegt, als ob ein Lindwurm seine volle Bahn darauf gehabt habe. Vor Zeiten trugen unsere Bänkelsänger die Geschichte vom gehörnten Siegfried und vom Reineke Voß auf dem Lande herum und sangen ihre Knittelverse dazu. Wer damals gedacht hätte, daß solche Märchen noch aufs Katheder kommen würden! Tempora mutantur et nos mutamur in illis.«

 

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