XVII.1. Ursprung des Christentums samt den Grundsätzen, die in ihm lagen
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4. Das Christentum bekam heilige Schriften, die, einesteils aus gelegentlichen Sendschreiben, andernteils, wenige ausgenommen, aus mündlichen Erzählungen erwachsen, mit der Zeit zum Richtmaß des Glaubens, bald aber auch zum Panier aller streitenden Parteien gemacht und auf jede ersinnliche Weise gemißbraucht wurden. Entweder bewies jede Partei daraus, was sie erweisen wollte, oder man scheute sich nicht, sie zu verstümmeln und im Namen der Apostel falsche Evangelien, Briefe und Offenbarungen mit frecher Stirn unterzuschieben. Der fromme Betrug, der in Sachen dieser Art abscheulicher als Meineid ist, weil er ganze Reihen von Geschlechtern und Zeiten ins Unermeßliche hin belüget, war bald keine Sünde mehr, sondern zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen ein Verdienst. Daher die vielen untergeschobenen Schriften der Apostel und Kirchenväter; daher die zahlreichen Erdichtungen von Wundern, Märtyrern, Schenkungen, Konstitutionen und Dekreten, deren Unsicherheit durch alle Jahrhunderte der altern und mittlern Christengeschichte, fast bis zur Reformation hinauf, wie ein Dieb in der Nacht fortschleicht. Nachdem einmal das böse Principium angenommen war, daß man zum Nutzen der Kirche Untreue begehen, Lügen erfinden, Dichtungen schreiben dörfe, so war der historische Glaube verletzt; Zunge, Feder, Gedächtnis und Einbildungskraft der Menschen hatten ihre Regel und Richtschnur verloren, so daß statt der griechischen und punischen Treue wohl mit mehrerem Rechte die christliche Glaubwürdigkeit genannt werden möchte. Und um so unangenehmer fällt dieses ins Auge, da die Epoche des Christentums sich einem Zeitalter der trefflichsten Geschichtschreiber Griechenlandes und Roms anschließt, hinter welchen in der christlichen Ära sich auf einmal, lange Jahrhunderte hin, die wahre Geschichte beinahe ganz verliert. Schnell sinkt sie zur Bischofs-, Kirchen- und Mönchschronik hinunter, weil man nicht mehr für die Würdigsten der Menschheit, nicht mehr für Welt und Staat, sondern für die Kirche oder gar für Orden, Kloster und Sekte schrieb und, da man sich ans Predigen gewöhnt hatte und das Volk dem Bischöfe alles glauben mußte, man auch schreibend die ganze Welt für ein glaubendes Volk, für eine christliche Herde ansah.
5. Das Christentum hatte nur zwei sehr einfache und zweckmäßige heilige Gebräuche, weil es mit ihm nach seines Stifters Absicht auf nichts weniger als auf einen Cerimoniendienst angesehen sein sollte. Bald aber mischte sich, nach Verschiedenheit der Länder, Provinzen und Zeiten, das Afterchristentum dergestalt mit jüdisch- und heidnischen Gebräuchen, daß z.B. die Taufe der Unschuldigen zur Teufelbeschwörung und das Gedächtnismahl eines scheidenden Freundes zur Schaffung eines Gottes, zum unblutigen Opfer, zum sündenvergebenden Mirakel, zum Reisegeld in die andere Welt gemacht wurde. Unglückseligerweise trafen die christlichen Jahrhunderte mit Unwissenheit, Barbarei und der wahren Epoche des Übeln Geschmacks zusammen, also daß auch in seine Gebräuche, in den Bau seiner Kirchen, in die Einrichtung seiner Feste, Satzungen und Prachtanstalten, in seine Gesänge, Gebete und Formeln wenig wahres Großes und Edles kommen konnte. Von Land zu Lande, von einem zum andern Weltteil wälzten sich diese Cerimonien fort; was ursprünglich einer allen Gewohnheit wegen noch einigen Lokalsinn gehabt hatte, verlor denselben in fremden Gegenden und Zeiten; so wurde der christliche Liturgiengeist ein seltsames Gemisch von jüdisch -ägyptisch-griechisch-römisch-barbarischen Gebräuchen, in denen oft das Ernsthafteste langweilig oder gar lächerlich sein mußte. Eine Geschichte des christlichen Geschmacks in Festen, Tempeln, Formeln, Einweihungen und Komposition der Schriften, mit philosophischem Auge betrachtet, würde das bunteste Gemälde werden, das über eine Sache, die keine Cerimonien haben sollte, je die Welt sah. Und da dieser christliche Geschmack sich mit der Zeit in Gerichtslind Staatsgebräuche, in die häusliche Einrichtung, in Schauspiele, Romane, Tänze, Lieder, Wettkämpfe, Wappen, Schlachten, Sieges- und andere Lustbarkeiten gemischt hat, so muß man bekennen, daß der menschliche Geist damit eine unglaublich schiefe Form erhalten und daß das Kreuz, das über die Nationen errichtet war, sich auch den Stirnen derselben sonderbar eingeprägt habe. Die pisciculi Christiani schwammen jahrhundertelang in einem trüben Elemente.
6. Christus lebte ehelos, und seine Mutter war eine Jungfrau; so heiter und fröhlich er war, liebte er zuweilen die Einsamkeit und tat stille Gebete. Der Geist der Morgenländer, am meisten der Ägypter, der ohnedem zu Anschauungen, Absonderungen und einer heiligen Trägheit geneigt war, übertrieb die Ideen von Heiligkeit des ehelosen Lebens, insonderheit im Priesterstande, vom Gottgefälligen der Jungfrauschaft, der Einsamkeit und des beschauenden Lebens dermaßen, daß, da schon vorher, insonderheit in Ägypten, Essäer, Therapeuten und andere Sonderlinge geschwärmt hatten, nunmehr durchs Christentum der Geist der Einsiedeleien, der Gelübde, des Fastens, Büßens, Betens, endlich des Klosterlebens in volle Gärung kam. In andern Ländern nahm er zwar andere Gestalt an, und nachdem er eingerichtet war, brachte er Nutzen oder Schaden; im ganzen aber ist das überwiegende Schädliche dieser Lebensweise, sobald sie ein unwiderrufliches Gesetz, ein knechtisches Joch oder ein politisches Netz wird, sowohl für das Ganze der Gesellschaft als für einzelne Glieder derselben unverkennbar. Von Sina und Tibet an bis nach Irland, Mexiko und Peru sind Klöster der Bonzen, Lamas und Talapoine sowie nach ihren Klassen und Arten aller christlichen Mönche und Nonnen Kerker der Religion und des Staats, Werkstätten der Grausamkeit, des Lasters und der Unterdrückung oder gar abscheulicher Lüste und Bubenstücke gewesen. Und ob wir zwar keinem geistlichen Orden das Verdienst rauben wollen, das er um den Bau der Erde oder um Menschen und Wissenschaft gehabt hat, so dürfen wir auch nie unser Ohr vor den geheimen Seufzern und Klagen verschließen, die aus diesen dunkeln, der Menschheit entrissenen Gewölben tönen, noch wollen wir unser Auge abkehren, um die leeren Träume überirdischer Beschaulichkeit oder die Kabalen des wütenden Möncheifers durch alle Jahrhunderte in einer Gestalt zu erblicken, die gewiß für keine erleuchtete Zeit gehört. Dem Christentum sind sie ganz fremde; denn Christus war kein Mönch, Maria keine Nonne; der älteste Apostel führte sein Weib mit sich, und von überirdischer Beschaulichkeit wissen weder Christus noch die Apostel.
7. Endlich hat das Christentum, indem es ein Reich der Himmel auf Erden gründen wollte und die Menschen von der Vergänglichkeit des Irdischen überzeugte, zwar zu jeder Zeit jene reinen und stillen Seelen gebildet, die das Auge der Welt nicht suchten und vor Gott ihr Gutes taten; leider aber hat es auch durch einen argen Mißbrauch den falschen Enthusiasmus genährt, der, fast von seinem Anfange an, unsinnige Märtyrer und Propheten in reicher Zahl erzeugte. Ein Reich der Himmel wollten sie auf die Erde bringen, ohne daß sie wußten, wie oder wo es stünde. Sie widerstrebten der Obrigkeit, lösten das Band der Ordnung auf, ohne der Welt eine bessere geben zu können, und unter der Hülle des christlichen Eifers versteckte sich pöbelhafter Stolz, kriechende Anmaßung, schändliche Lust, dumme Torheit. Wie betrogene Juden ihren falschen Messien anhingen, rotteten hier die Christen sich unter kühne Betrüger, dort schmeichelten sie den schlechtesten Seelen tyrannischer, üppiger Regenten, als ob diese das Reich Gottes auf die Erde brächten, wenn sie ihnen Kirchen bauten oder Schenkungen verehrten. So schmeichelte man schon dem schwachen Konstantin, und diese mystische Sprache prophetischer Schwärmerei hat sich Umständen und Zeiten nach auf Männer und Weiber verbreitet. Der Parakletus ist oft erschienen; liebtrunkenen Schwärmern hat der Geist oft durch Weiber geredet. Was in der christlichen Welt Chiliasten und Wiedertäufer, Donatisten, Montanisten, Priscillianisten, Circumcellionen u. f. für Unruhe und Unheil angerichtet; wie andere mit glühender Phantasie Wissenschaften verachtet oder verheert, Denkmale und Künste, Einrichtungen und Menschen ausgerottet und zerstört; wie ein augenscheinlicher Betrug oder gar ein lächerlicher Zufall zuweilen ganze Länder in Aufruhr gesetzt und z.B. das geglaubte Ende der Welt Europa nach Asien gejagt hat: das alles zeigt die Geschichte. Indessen wollen wir auch dem reineren christlichen Enthusiasmus sein Lob nicht versagen; er hat, wenn er aufs Gute traf, in kurzer Zeit für viele Jahrhunderte mehr ausgerichtet, als eine philosophische Kälte und Gleichgültigkeit je ausrichten könnte. Die Blätter des Truges fallen ab; aber die Frucht gedeiht. Die Flamme der Zeit verzehrte Stroh und Stoppeln; das wahre Gold konnte sie nur läutern.
So manches von diesem als einen schändlichen Mißbrauch der besten Sache ich mit traurigem Gemüt niedergeschrieben habe, so gehen wir dennoch der Fortpflanzung des Christentums in seinen verschiedenen Erdstrichen und Weltteilen beherzt entgegen; denn wie die Arznei in Gift verwandelt wurde, kann auch das Gift zur Arznei werden, und eine in ihrem Ursprunge reine und gute Sache muß am Ende doch triumphieren.
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