Erstes Kapitel:
Die selbständige, symbolische Architektur


Das erste, ursprüngliche Bedürfnis der Kunst ist, daß eine Vorstellung, ein Gedanke aus dem Geiste hervorgebracht, durch den Menschen als sein Werk produziert und von ihm hingestellt werde, wie es in der Sprache Vorstellungen als solche sind, welche der Mensch mitteilt und für andere verständlich macht. In der Sprache jedoch ist das Mitteilungsmittel nichts als ein Zeichen und daher eine ganz willkürliche Äußerlichkeit. Die Kunst dagegen darf sich nicht nur bloßer Zeichen bedienen, sie muß im Gegenteil den Bedeutungen eine entsprechende sinnliche Gegenwart geben. Einerseits also soll das sinnlich vorhandene Werk der Kunst einen inneren Gehalt beherbergen, andererseits hat sie diesen Gehalt so darzustellen, daß sich erkennen läßt, sowohl er selbst als seine Gestalt sei nicht nur eine Realität der unmittelbaren Wirklichkeit, sondern ein Produkt der Vorstellung und ihrer geistigen Kunsttätigkeit. Sehe ich z. B. einen wirklichen lebendigen Löwen, so gibt mir die einzelne Gestalt desselben die Vorstellung »Löwe« ganz ebenso wie ein abgebildeter. In der Abbildung jedoch liegt noch mehr: sie zeigt, daß die Gestalt in der Vorstellung gewesen sei und den Ursprung ihres Daseins im Menschengeist und dessen produktiver Tätigkeit gefunden habe, so daß wir nun nicht mehr die Vorstellung von einem Gegenstande, sondern die Vorstellung von einer menschlichen Vorstellung erhalten. Daß nun aber ein Löwe, ein Baum als solcher oder irgendein anderes einzelnes Objekt zu dieser Reproduktion gelange, [danach] ist kein ursprüngliches Bedürfnis für die Kunst vorhanden; im Gegenteil haben wir gesehen, daß die Kunst, und vornehmlich die bildende Kunst, gerade mit Darstellung solcher Gegenstände, um an ihnen die subjektive Geschicklichkeit des Scheinenmachens zu bekunden, schließt. Das ursprüngliche Interesse geht darauf, die ursprünglichen objektiven Anschauungen, die allgemeinen wesentlichen Gedanken sich und anderen vor Augen zu bringen. Dergleichen Völkeranschauungen jedoch sind zunächst abstrakt und in sich selber unbestimmt, so daß nun der Mensch, um sie sich vorstellig zu machen, nach dem in sich ebenso Abstrakten, dem Materiellen als solchem, dem Massenhaften und Schweren greift, das zwar einer bestimmten, aber nicht einer in sich konkreten und wahrhaft geistigen Gestalt fähig ist. Das Verhältnis des Inhalts und der sinnlichen Realität, durch welche derselbe aus der Vorstellung in die Vorstellung eingehen soll, wird hierdurch bloß symbolischer Art sein können. Zugleich aber steht nun ein Bauwerk, das eine allgemeine Bedeutung für andere kundtun soll, aus keinem anderen Zwecke da, als um dies Höhere in sich auszudrücken, und ist deshalb ein selbständiges Symbol eines schlechthin wesentlichen, allgemeingültigen Gedankens, eine um ihrer selbst willen vorhandene, wenn auch lautlose Sprache für die Geister. Die Produktionen dieser Architektur sollen also durch sich selbst zu denken geben, allgemeine Vorstellungen erwecken, ohne eine bloße Einhüllung und Umgebung sonst schon für sich gestalteter Bedeutungen zu sein. Deshalb darf denn aber die Form, die solch einen Gehalt durch sich hindurchscheinen läßt, nicht nur als Zeichen gelten können, wie man z. B. bei uns Verstorbenen Kreuze errichtet oder Steine zur Erinnerung an Schlachten zusammenhäuft. Denn Zeichen dieser Art sind wohl geeignet, Vorstellungen zu erregen, aber ein Kreuz, ein Steinhaufen deuten nicht durch sich selbst auf die Vorstellung hin, welche zu erwecken der Zweck ist, sondern können ebensogut an vieles andere erinnern. Dies macht den allgemeinen Begriff dieser Stufe aus.

Man kann in dieser Hinsicht sagen, daß ganze Nationen sich ihre Religion, ihre tiefsten Bedürfnisse nicht anders als bauend oder doch vornehmlich architektonisch auszusprechen gewußt haben. Wesentlich jedoch, wie aus dem erhellt, was wir schon bei Gelegenheit der symbolischen Kunstform gesehen haben, wird dies nur im Orient der Fall sein; und besonders tragen die Konstruktionen der älteren Kunst Babyloniens, Indiens und Ägyptens, welche teils nur in Ruinen vorhanden sind, die allen Zeiten und Revolutionen zu trotzen vermochten und die uns ebenso wegen des bloß Phantastischen als wegen des Ungeheuren und Massenhaften in Verwunderung und Staunen setzen, entweder vollständig diesen Charakter oder sind zum großen Teil aus demselben hervorgegangen. Es sind Werke, deren Erbauung das ganze Wirken und Leben der Nationen zu bestimmten Zeiten ausmacht.

Fragen wir jedoch nach einer näheren Gliederung dieses Kapitels und der Hauptgebilde, welche hierher gehören, so kann bei dieser Architektur nicht wie bei der klassischen und romantischen von bestimmten Formen, von der des Hauses z. B., ausgegangen werden; denn es läßt sich hier kein für sich fester Inhalt und damit auch keine feste Gestaltungsweise als das Prinzip angeben, das sich dann in seiner Fortentwicklung auf den Kreis der verschiedenen Werke bezöge. Die Bedeutungen nämlich, welche zum Inhalt genommen werden, bleiben, wie im Symbolischen überhaupt, gleichsam unförmliche allgemeine Vorstellungen, elementarische, vielfach gesonderte und durcheinandergeworfene Abstraktionen des Naturlebens, mit Gedanken der geistigen Wirklichkeit gemischt, ohne als Momente eines Subjektes ideell zusammengefaßt zu sein. Diese Losgebundenheit macht sie höchst mannigfaltig und wechselnd, und der Zweck der Architektur besteht nur darin, bald diese, bald jene Seite für die Anschauung sichtbar herauszusetzen, sie zu symbolisieren und durch Menschenarbeit vorstellig werden zu lassen. Bei dieser Vielfachheit des Inhalts kann deshalb hier weder erschöpfend noch systematisch davon zu sprechen die Meinung sein, und ich muß mich deshalb darauf beschränken, nur das Wichtigste, soweit es möglich ist, in den Zusammenhang einer vernünftigen Gliederung zu bringen.

Die leitenden Gesichtspunkte sind kurz folgende. Als Inhalt forderten wir schlechthin allgemeine Anschauungen, in welchen die Individuen und Völker einen inneren Halt, einen Einheitspunkt ihres Bewußtseins haben. So ist denn der nächste Zweck solcher für sich selbständigen Bauten auch nur der, ein Werk zu errichten, welches eine Vereinigung sei der Nation oder Nationen, ein Ort, um den her sie sich sammeln. Damit kann sich jedoch auch näher der Zweck verbinden, durch die Gestaltungsweise selbst darzutun, was überhaupt das Vereinigende der Menschen sei: die religiösen Vorstellungen der Völker, wodurch dergleichen Werke dann zugleich einen bestimmteren Inhalt für ihren symbolischen Ausdruck erhalten.

Weiterhin zweitens aber kann sich die Architektur nicht in dieser anfänglichen totalen Bestimmung halten, sondern die symbolischen Gebilde vereinzeln sich, der symbolische Gehalt ihrer Bedeutungen bestimmt sich näher und läßt dadurch auch ihre Formen sich fester voneinander unterscheiden, wie z. B. bei den Lingam-Säulen, Obelisken usf. Auf der anderen Seite drängt sich die Baukunst in solcher vereinzelnden Selbständigkeit an ihr selbst dazu fort, zur Skulptur überzugehen, organische Formen von Tiergestalten, menschlichen Figuren anzunehmen, sie jedoch ins Kolossale hin massenhaft auszudehnen, aneinanderzureihen, Wände, Mauern, Tore, Gänge hinzuzufügen und dadurch das Skulpturartige an ihnen schlechthin architektonisch zu behandeln. Die ägyptischen Sphinxe, Memnonen und großen Tempelbauten z. B. gehören hierher.

Drittens beginnt die symbolische Baukunst den Übergang zur klassischen zu zeigen, indem sie die Skulptur von sich ausschließt und sich zu einem Gehäuse für andere, nicht unmittelbar selber architektonisch ausgedrückte Bedeutungen zu machen anfängt.

Zur näheren Verdeutlichung dieses Stufenganges will ich an einige bekannte Hauptwerke erinnern.



Inhalt:


1. Architekturwerke, zur Vereinigung der Völker erbaut
2. Architekturwerke, zwischen Baukunst und Skulptur schwankend
3. Übergang aus der selbständigen Architektur zur klassischen


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