c. Grundcharakter des Götterkreises
Wenn wir daher den Kreis der griechischen Gottheiten, d. i. den Kreis der sogenannten Hauptgötter, näher nach ihrem einfachen Grundcharakter betrachten, wie derselbe gefestigt durch die Skulptur in der allgemeinsten und doch sinnlich konkreten Vorstellung erscheint, so finden wir zwar die wesentlichen Unterschiede und deren Totalität festgestellt, im besonderen aber auch immer wieder verwischt und die Strenge der Durchführung zur Inkonsequenz der Schönheit und Individualität ermäßigt. So hält z. B. Zeus die Herrschaft über Götter und Menschen in Händen, ohne jedoch dadurch wesentlich die freie Selbständigkeit der übrigen Götter zu gefährden. Er ist der oberste Gott, seine Macht aber absorbiert nicht die Macht der anderen. Er hat zwar Zusammenhang mit dem Himmel, mit Blitz und Donner und der erzeugenden Lebendigkeit der Natur, doch mehr noch und eigentlicher ist er die Macht des Staats, der gesetzlichen Ordnung der Dinge, das Bindende in Verträgen, Eiden, Gastfreundschaft, überhaupt das Band der menschlichen, praktischen, sittlichen Substantialität und die Gewalt des Wissens und des Geistes. Seine Brüder sind gegen das Meer hinaus und hinunter zur Unterwelt gewendet; Apoll erscheint als der wissende Gott, als das Aussprechen und schöne Darstellen der Interessen des Geistes, als Lehrer der Musen; »Erkenne dich selbst« ist die Überschrift seines Tempels zu Delphi, ein Gebot, das sich jedoch nicht etwa auf die Schwächen und Mängel, sondern auf das Wesen des Geistes, auf Kunst und jedes wahrhafte Bewußtsein bezieht, List und Wohlredenheit, das Vermitteln überhaupt, wie es auch in untergeordneten Sphären eintritt, welche, obschon sich unmoralische Elemente einmischen, noch zum Bereich des vollendeten Geistes gehören, macht ein Hauptbereich des Hermes aus, der auch die Seelenschatten der Verstorbenen zur Unterwelt führt; die kriegerische Gewalt ist ein Hauptzug des Ares; Hephaistos erweist sich geschickt in technischer Kunstarbeit; und die Begeisterung, die noch ein Element des Natürlichen in sich trägt, die begeistigende Naturgewalt des Weins, Spiele, dramatische Aufführungen usf. sind dem Dionysos zugeteilt. Einen ähnlichen Kreis des Inhaltes durchlaufen die weiblichen Gottheiten. In Juno ist das sittliche Band der Ehe eine Hauptbestimmung; Ceres hat den Ackerbau gelehrt und verbreitet und damit dem Menschen die beiden Seiten geschenkt, die im Ackerbau liegen: die Sorge für das Gedeihen der Naturprodukte, welche die unmittelbarsten Bedürfnisse befriedigen, dann aber das geistige Element des Eigentums, der Ehe, des Rechts, der Anfänge der Zivilisation und sittlichen Ordnung.
Ebenso ist Athene die Mäßigkeit, Besonnenheit, Gesetzlichkeit, die Macht der Weisheit, technischen Kunstgeschicklichkeit und Tapferkeit und faßt in ihrer sinnenden kriegerischen Jungfräulichkeit den konkreten Geist des Volkes, den freien eigenen substantiellen Geist der Stadt Athen zusammen und stellt denselben objektiv als waltende, göttlich zu ehrende Macht dar. Diana dagegen, durchaus verschieden von der Diana zu Ephesus, hat die sprödere Selbständigkeit jungfräulicher Keuschheit zu ihrem wesentlichen Charakterzuge, sie liebt die Jagd und ist überhaupt nicht die still sinnende, sondern die strenge, nur hinausstrebende Jungfrau; Aphrodite mit dem anreizenden Amor, der aus dem alten titanischen Eros zum Knaben geworden ist, deutet auf den menschlichen Affekt der Zuneigung, Liebe der Geschlechter usf.
Von dieser Art ist der Inhalt der geistig gestalteten individuellen Götter. Was ihre äußere Darstellung angeht, so können wir hier wieder der Skulptur als derjenigen Kunst erwähnen, welche auch bis zu dieser Besonderheit der Götter mit fortgeht. Drückt sie jedoch die Individualität in deren schon spezifischeren Bestimmtheit aus, so überschreitet sie bereits die erste strenge Hoheit, obwohl sie auch dann noch die Mannigfaltigkeit und den Reichtum der Individualität zu einer Bestimmtheit, zu demjenigen, was wir Charakter heißen, vereinigt und diesen Charakter in seiner einfacheren Klarheit für die sinnliche Anschauung, d. h. für die äußerlich vollständigste, letzte Bestimmtheit in Göttergestalten fixiert. Denn die Vorstellung bleibt in Rücksicht auf das äußere und reale Dasein immer unbestimmter, wenn sie auch als Poesie den Inhalt zu einer Menge von Geschichten, Äußerungen und Begebenheiten der Götter herausarbeitet. Dadurch ist die Skulptur einerseits idealer, während sie andererseits den Charakter der Götter zu ganz bestimmter Menschlichkeit individualisiert und den Anthropomorphismus des klassischen Ideals vollendet. Als diese Darstellung des Ideals in seiner dem inneren, wesentlichen Gehalt dennoch schlechthin gemäßen Äußerlichkeit sind die Skulpturbilder der Griechen die Ideale an und für sich, die für sich seienden, ewigen Gestalten, der Mittelpunkt der plastischen klassischen Schönheit, deren Typus auch dann die Grundlage bleibt, wenn diese Gestalten in bestimmte Handlungen eintreten und in besondere Begebnisse verwickelt erscheinen.