2. Sensualismus


a) Condillac (1715-80). Condillac, genauer Abbé Bonnot de Condillac, war mehr ein friedlicher Gelehrter als ein streitbarer Kämpe der Aufklärung. Er widmete sich schon früh dem geistlichen Stande, leitete 1758 bis 1768 die Erziehung eines Prinzen von Parma und verlebte die letzten zwölf Jahre seines Lebens in stiller Ruhe auf seinem Landgute. Er ist der am meisten philosophisch Beanlagte von den französischen Aufklärern. In seinen beiden ersten Schriften, Über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse (1746) und dem gegen Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz gerichteten Traktat von den Systemen (1749), ist er noch reiner Lockeaner. In seinem Hauptwerke dagegen, der Abhandlung von den Empfindungen (1754, deutsch mit Erläuterungen in der Phil. Bibl. Bd. 25), schreitet er über Locke hinaus zur Begründung des reinen Sensualismus fort, indem er als einzige Erkenntnisquelle die Empfindung (sinnliche Wahrnehmung) gelten läßt.

Alle Bewußtseinstätigkeit hat sich aus der sinnlichen Wahrnehmung entwickelt, ist umgeformtes Empfinden. So besteht Aufmerksamkeit in der Hingabe an eine Empfindung, Erinnerung in deren Nachwirkung. Vergleichen und urteilen ist nichts anderes als: zwei Empfindungen zu gleicher Zeit haben und auf sie achten; das bloße Nebeneinandersein beider bringt von selbst die Empfindung des Verhältnisses oder der Beziehung mit sich. Abstrahieren heißt: eine Empfindung aus den anderen absondern. Die allmähliche Entstehung und Entwicklung der Sinnesempfindungen macht Condillac an dem fingierten Beispiel einer menschlichen Statue klar, an der die einzelnen Sinne nacheinander erwachen: zuerst der niedrigste, der Geruchsinn, zuletzt der höchste, der Tastsinn, welcher zuerst die Vorstellung einer Außenwelt in uns hervorruft und die übrigen Sinne über sie urteilen lehrt. An dem hypothetisch angenommenen Beispiel eines isoliert lebenden Menschen macht er dann weiter klar, wie auch die Ethik sich auf einer Empfindung, nämlich dem Gefühl der Lust und Unlust, aufbaut, aus dem nacheinander das Bedürfnis, das Verlangen, die Leidenschaften, das Wollen entstehen.

Gut und schön nennen wir das, was uns Lust gewährt. Das Abstrahieren geschieht mit Hilfe von Zeichen, deren Theorie erst die letzten Schriften Condillacs (Logik 1781, Sprache der Calcüle 1798) ausbauen. Alle Wahrheiten betreffen die Verhältnisse zwischen den Ideen, insbesondere die Gleichheitsbeziehungen zwischen ihnen. Alles Denken ist im letzten Grunde ein Rechnen, ja selbst das Drama eines Corneille eigentlich nur ein richtig gelöstes Rechenexempel. Die Dekomposition der Erscheinungen und Kombination von Ideen erfolgt vermittelst der Sprache, deren Dialekte die Gebärden-, Laut-, Ziffern-, Buchstabensprache und Infinitesimalrechnung, deren Grammatik die Logik ist. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht nur darin, primitive und ungenügende Bezeichnungen durch schärfere und feiner ausgebildete zu ersetzen.

Seiner sensualistischen Erkenntnislehre zum Trotz hält sich Condillac persönlich doch von gewissen spiritualistischen Anwandlungen nicht frei. Nicht nur, dass er als guter Katholik die Zeit vor dem Sündenfalle und nach unserem Tode von seiner Theorie ausnimmt und Gott als unseren Gesetzgeber sowie die Geltung des Sittengesetzes anerkennt: er hält auch an einer gewissen Einfachheit der Seele, im Gegensatz zu der teilbaren Materie, fest. Die Empfindung ist von der Ausdehnung grundsätzlich verschieden, und, obwohl das Ich nur aus der Summe der Empfindungen besteht, so setzt doch die Einheit unseres Bewußtseins ein allerdings gänzlich unerkennbares Substrat voraus.

b) Fortsetzer Condillacs sind die sogenannten Ideologen. Condillacs klare und verständliche, vielfach anregende Analyse des menschlichen Geistes erwarb sich viele Anhänger. Der philosophische Trieb, von den Systemen der Metaphysik abgestoßen, warf sich mit Eifer auf das bessere Ausbeute versprechende Feld der psychologischen Zergliederung oder, wie man seit Destutt de Tracy (S. 138) sagte, der Ideologie. So wurde Condillacs Philosophie in den Zeiten der Revolution und des ersten Kaiserreichs die herrschende in Frankreich, und die Bezeichnung als »Ideologe« die gewöhnliche für einen Philosophen. Ja, neuerdings (seit 1885) hat man sie sogar in den philosophischen Unterricht der höheren Lehranstalten aufgenommen. Metaphysisch an sich verschiedenen Richtungen Raum lassend, wurde Condillacs Sensualismus von seinen Nachfolgern nach entgegengesetzten Seiten hin weiter ausgebildet.

Nach der spiritualistischen durch den Genfer Naturforscher Bonnet (1720-1793), der in seinem Essai de psychologie (1755) zwar mit Condillac das geistige Leben aus den Empfindungen ableitet und mit Hartley und Priestley die physiologische Bedingtheit der Seele betont, die sich erst allmählich zur vernünftigen Persönlichkeit heranbildet, aber stärker als Condillac die Selbständigkeit der Seele und die Einheit des Bewußtseins hervorhebt, für die jene sinnlichen Reize nur die Gelegenheitsursachen ihrer Betätigung sind. Bonnet hat durch Tetens (s. § 29) auch auf die deutsche Philosophie Einfluß geübt. Seine Hypothese eines ätherischen Seelenleibes, durch die er seinen Unsterblichkeitsglauben zu stützen suchte, fand bei seinem phantastischen Landsmanne Lavater Anklang.

Nach der materialistischen Seite wurde dagegen die »Ideologie« Condillacs umgebildet von Cabanis (1757 bis 1808), dem Freunde Mirabeaus, Reorganisator der medizinischen Schulen Frankreichs und Vater der materialistischen Physiologie. Sein Hauptwerk (1799) behandelt die »Beziehungen der Physik und der Moral des Menschen« Moral, Psychologie (d.h. Zergliederung der Ideen) und Physiologie sind ihm nur drei Zweige einer und derselben Wissenschaft, derjenigen »vom Menschen« (also Anthropologie). Die »Seele« ist eine Fähigkeit, kein Wesen. Ihre und des sogenannten »Geistes« Tätigkeiten bestehen in Bewegungen und Empfindungen der Gehirnnerven; die Gedanken sind die Absonderungen des Gehirns! Übrigens hält Cabanis, trotz dieses vorgeschrittenen Materialismus, die Erkenntnis der »ersten Ursachen« für unmöglich und huldigt einer Art Pantheismus; die göttliche Ordnung besteht in dem Gesetz der Materie. Auch seine ethisch-politischen Ansichten stehen auf bemerkenswerter Höhe: das wahre menschliche Glück besteht in der freien, mit Kraft und Leichtigkeit ausgeübten Selbsttätigkeit.

In ähnlichen Gleisen bewegt sich der freisinnige Graf Destutt de Tracy (1754-1836), der seine Eléments d'idéologie (1801-05) Cabanis widmete. Auch ihm geht das Denken und Wollen aus den Empfindungen der Nerven hervor. Er hat die von jenem nur angedeutete »Naturwissenschaft des Geistes« vollständig durchzuführen gesucht, ist indes nicht zu Ende damit gekommen. Nur der erste Teil seines Systems, behandelnd die Geschichte unserer Erkenntnismittel und zwar die Lehre von der Bildung (Ideologie), dem Ausdruck (Grammatik) und der Verbindung (Logik) unserer Ideen, ist vollendet. Den zweiten Teil: die Anwendung auf unseren Willen (Ökonomie, Moral, Politik) hat er nur begonnen, den dritten, die Anwendung auf die Außenwelt (Physik, Geometrie, Kalkül) nicht mehr in Angriff genommen.

Auch auf die französische Ästhetik dehnte der Sensualismus seinen Einfluß aus. Bereits Dubos (1670-1743) hatte einen besonderen ästhetischen (sechsten) Sinn angenommen, und Batteux (1713-1780) sah rein empirisch das Wesen der Kunst in der bloßen Nachahmung der schönen Natur.

In der Ethik ist die bedeutendste sensualistische Erscheinung Helvetius' Buch De l'esprit, das wir jedoch besser im Zusammenhang mit den Männern der Enzyklopädie behandeln die Enzyklopädisten.


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