4. Helvetius
4. Als letzten der dem Kreise der Enzyklopädisten nahe Stehenden nennen wir den bereits kurz erwähnten Helvetius (1715-1771), eine persönlich achtungswerte und menschenfreundliche, aber der wissenschaftlichen Schärfe entbehrende und philosophisch keineswegs originale Persönlichkeit. Sein Hauptwerk De l'esprit (1758) trug auch ihm Verfolgung seitens der Kirche und des Staates ein, sodass er eine Zeitlang ins Ausland zu Friedrich dem Großen ging, gewann aber trotz der vielen (wie es heißt, fünfzig!) Auflagen, die es erlebte, nicht einmal Diderots, Buffons und Rousseaus Beifall. Nach seinem Tode erschien aus seinem Nachlaß eine Neubearbeitung und Weiterführung desselben unter dem Titel: De l'homme, de ses facultés et de son éducation (1772).
Helvetius' Bedeutung für die Geschichte der Philosophie beruht darauf, dass er Condillacs Sensualismus entschiedener als dieser auf das ethische Gebiet anwendet und so eine materialistische Sittenlehre ausbildet, deren alleiniges Prinzip, die Selbstliebe, er auf Condillacs Ableitung alles geistigen Inhalts aus der Empfindung (Sensibilität) zu gründen sucht. Gut und böse sind nach ihm völlig relative Begriffe, der Egoismus die Norm aller Handlungen. Unter Erziehung versteht Helvetius die Gesamtheit aller auf die Menschen einwirkenden Einflüsse; deshalb ist der Zustand der öffentlichen Verhältnisse und die diesen bestimmende Gesetzgebung von großer Wichtigkeit. Da nur Interesse und Leidenschaft die Seele wahrhaft befruchten und in Erregung versetzen, so muß die Gesetzgebung dieselben auf das öffentliche Wohl (bien public) als einzige Richtschnur zu lenken wissen. Neben den natürlichen Gesetzen des Egoismus und der von der staatlichen Gesetzgebung gelenkten Sittlichkeit sind religiöse Gebote entweder überflüssig oder schädlich. Die wahre Religion, die Helvetius von der Zukunft erhofft, nährt keine Geheimnisse und ist mit der wahren Moral einerlei.
Seine Schüler, St. Lambert (1717-1803) in seinem erst 1797 veröffentlichten Catéchisme universel und Volney (Graf Chassebœuf, 1758-1820) in seinem »Katechismus des französischen Bürgers« (1793), suchen das Prinzip der Selbstliebe weiter auszubauen und die Lehre des Meisters zu popularisieren. Sie ragen bereits in die Revolutionszeit hinein. Deren philosophischer Lehrer aber ist in erster Linie Jean Jacques Rousseau.