2. Neue, selbständigere Ansätze (Euler, Lambert, Tetens)


Die pedantische Strenge der strengeren Wolffianer rief denn doch bei manchen, selbständiger gearteten Köpfen eine gewisse Gegnerschaft hervor, die sich zunächst als Eklektizismus äußerte und einen Teil von Wolffs Anhängern zu sich herüberzog. Thomasius' Prinzip der Systemlosigkeit fand Anhänger, so z.B. in dem Philosophiehistoriker Brucker (I, S. 7). Einer der Hauptgegner Wolffs war Rüdiger (1673-1731) in Leipzig, der die philosophische Wahrheit für eine höhere als die bloß logische erklärte, demgemäß die geometrische Methode, die nur nach der Möglichkeit, nicht nach der Wirklichkeit der Dinge frage, bekämpfte und eine empiristische Erkenntnistheorie aufstellte, wonach die sinnlichen Wahrnehmungen, zu denen auch die mathematische Anschauung gehört, für uns das höchste Prinzip der Gewißheit darstellen. Noch bedeutender war sein Schüler und Nachfolger Crusius (1712-1775), der gleichfalls aus dem Wolffschen Logizismus herauszukommen suchte. Er erklärte, die sinnliche Wahrnehmung könne durchaus »klar und deutlich« sein, und unterschied von dem Erkenntnisgrund den Realgrund der Dinge. Wir müssen nicht von den leeren Begriffen der Ontologie, sondern von der sinnlichen Erfahrung ausgehen, aus deren Bearbeitung schließlich die einfachen Begriffe und notwendigen Vernunftwahrheiten gewonnen werden können. Aus dem »ganz leeren« Satze des Widerspruchs, neben den er die zwei weiteren Sätze des »nicht zu Trennenden« und »nicht zu Verbindenden« stellt, lasse sich das Kausalprinzip nicht ableiten, aus bloßen Begriffen nicht auf die Existenz eines Dinges schließen; so bestreitet er u. a. die Gültigkeit des ontologischen Gottesbeweises. Er betont ferner kräftig die Freiheit des menschlichen Willens, ohne jedoch daraus die Konsequenz seiner vollen Selbständigkeit zu ziehen, hat sich auch eingehend mit dem Problem der historischen Wahrscheinlichkeit beschäftigt. Crusius ist von Einfluß auf Mendelssohn, Lambert und Kants vorkritische Periode gewesen.

Es bildete sich überhaupt neben dem Dogmatismus der Wolffschen Schule ein kleiner Kreis von skeptisch-kritisch-methodologischen Denkern, die das Bedürfnis nach einer neuen Grundlegung der Philosophie empfanden. Zu ihnen gehört, abgesehen von dem vorkritischen Kant selber, von der naturwissenschaftlichen Seite zunächst

a) der berühmte Mathematiker Leonhard Euler (1707 bis 1783), der als klassischer Vertreter des Geistes der mathematischen Naturwissenschaft (Newtons) in Deutschland bezeichnet werden kann. In seiner Mechanik (1736 ff.), seinen Réflexions sur l'espace et le temps (1748) und seiner Theorie der Bewegung (1765) sprach er es offen aus, dass die Naturphilosophie sich nach den realen Prinzipien der Mechanik zu richten habe, nicht umgekehrt diese nach den spekulativen Einbildungen jener; und dass der reine Raum und die absolute Zeit keine Dinge, sondern unentbehrliche mathematisch-physikalische Postulate seien, wenn er auch als echter empirischer Forscher der Materie unbedingte Realität zuspricht. Es sei eine »elende Chikane« der Philosophen, schreibt er in seinen populärer gehaltenen (natürlich französisch geschriebenen !) Briefen an eine deutsche Prinzessin (Petersburg 1768-72), den wirklichen Körpern ihre wichtigsten, d.h. mathematischen Eigenschaften abzustreiten, weil die Mathematik nicht in das »Wesen der Dinge« einzudringen vermöge. Eine große Gesamtausgabe von Eulers Werken hat die Berliner Akademie der Wissenschaften in Angriff genommen.

b) Ferner gehört zu diesen selbständigeren Denkern der von Kant außerordentlich hoch geschätzte, gleichfalls gründlich mathematisch und naturwissenschaftlich gebildete Joh. Heinr. Lambert (1728-1777). In den Kosmologischen Briefen (1761) ist er der Kant-Laplaceschen Weltentstehungshypothese schon ganz nahe. In seinem philosophischen Hauptwerk, dem Neuen Organon (1764), definierte er die Metaphysik als »die Wissenschaft von den Formbeziehungen des Seins und des Denkens« Er unterschied nämlich von dem durch die Wahrnehmung gegebenen Inhalt oder Stoff des Denkens dessen in den logischen und mathematischen Gesetzen zu findende Form; keines von beiden sei schlechtweg aus dem anderen abzuleiten, wie es der Logizismus Wolffs und sein Gegenpol, Lockes Sensualismus, wollten. Eine Vorarbeit dazu bietet die deutsch geschriebene Abhandlung vom Criterium veritatis (hrsg. von K. Bopp, Berl. 1918). Ein einheitliches Prinzip freilich für die Formen der Erfahrung vermochte Lambert noch nicht zu finden, wie seine Architektonik (1771) und sein mit Kant, der ihm sein kritisches Hauptwerk widmen wollte, geführter Briefwechsel zeigen. Er sieht zwar die streng apriorischen Disziplinen der Geometrie, Chronometrie und Phoronomie als den festen Maßstab an, mit dem wir die physikalischen und astronomischen Tatsachen zur Wissenschaft machen, wie er denn einmal geäußert hat: »Was nicht gewogen und berechnet werden kann, davon verstehe ich nichts«; aber der letzte Vermittler zwischen Begriff und Wirklichkeit bleibt ihm doch - die Gottheit.

c) Wie Lambert, unterscheidet auch der bedeutendste Psychologe der Zeit, der Schleswiger Joh. Nik. Tetens (1736-1807, Professor in Kiel, starb als Staatsrat in Kopenhagen), Form und Inhalt der Erkenntnis. Schon als 24 jähriger hatte er in einer besonderen Schrift untersucht, »warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind« Seine Philosophischen Versuche über die menschliche Natur (1776/77) stehen bereits unter dem Einfluß der Kantschen Dissertation von 1770. Der Inhalt stammt aus der Empfindung, die Form aus der Denktätigkeit; erstere ist rezeptiv, letztere spontan. Alle bewußte Auffassung Ist Auffassung eines Verhältnisses. Die Akte des Denkens erweisen sich, in ihrer Anwendung als Naturgesetze des Denkens, als aus dem Wesen der Seele stammende »subjektivische Notwendigkeiten« Wir nehmen aber nur die Erscheinungen wahr, das Wesen der Dinge bleibt uns bei dem beschränkten Umfange und den Grenzen des menschlichen Verstandes unerkennbar. Tetens' Hauptverdienst besteht in der feinen psychologischen Analyse, die er übt, und die sich bei ihm mit scharfer Beobachtungsgabe, wissenschaftlichem Interesse an ihrer physiologischen Unterlage sowie einer genauen Kenntnis dessen paart, was Franzosen, Engländer und deutsche Leibnizianer auf diesem, Felde geleistet haben. Kant verdankt ihm in sachlicher wie namentlich in terminologischer Beziehung mancherlei. Tetens setzt u. a. die dann durch Kant allgemein üblich gewordene psychologische Dreiteilung der »Seelenvermögen« in Erkenntnis-, Beziehungs- und Gefühlsvermögen an Stelle der Wolffschen Zweiteilung in Vorstellen und Wollen. Auch die Einteilung der Einbildungskraft in perzeptive, produktive und reproduktive u.a.m. stammt von ihm. Selbst die heutige Psychologie kann noch manches von Tetens lernen. Aber er vermag sich nicht von den psychologischen Grundlagen zu lösen. Er dringt allerdings bis zu der transzendentalen Fragestellung vor: Nach welchen Grundregeln und auf welchem »unerschütterlichen Fundamente« errichtet die menschliche Denkkraft ihre allgemeinen Theorien, die »reellen und feststehenden Kenntnisse« der Geometrie, der Optik, der Astronomie? Allein er gibt keine Antwort darauf. Er vertritt gegenüber Lossius, der in seinen Physischen Ursachen des Wahren (1776) den Satz des Widerspruchs und damit die Wahrheit auf das »angenehme Gefühl aus der Zusammenstimmung der Schwingungen der Fibern im Gehirn« zurückzuführen suchte, die Notwendigkeit einer allgemeingültigen, unveränderlichen, »objektivischen« anstatt der veränderlichen »subjektivischen« Erkenntnis, aber er gelangt über die Forderung nicht hinaus. Das war erst Kants Kritizismus vorbehalten, bis zu dessen Grenze Tetens führt.


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