3. Staatslehre und Sozialphilosophie
Auch die Staatslehre wird von Rousseau auf ein Gefühl gegründet, das Gefühl der Freiheit und Gleichheit, das den »natürlichen« Menschen beseelt. Die Ergänzung zu seinem zweiten Diskurs, der die Tatsache der Ungleichheit verkündet hatte, bildet der Contrat social (1762), der den neuen, auf dem Boden der liberté und égalité zu errichtenden Staat verkünden will.*) Wenn er zu diesem Zweck die Entstehung des Staates überhaupt aus dem »Gesellschaftsvertrag« darlegt, so soll das nicht, wie man oft geglaubt hat, eine geschichtliche Entwicklung, sondern einen idealen Maßstab bedeuten. Man muß wissen, was sein soll, um richtig zu beurteilen, was ist. Durch den Gesellschaftsvertrag verzichtet der einzelne freiwillig auf seine ursprüngliche Freiheit zugunsten der Gesamtheit, deren Glied er ist. Rousseau verficht nicht mehr den Konstitutionalismus eines Locke und Montesquieu, sondern die demokratische Republik, nicht mehr die Trennung der Gewalten, sondern die Volkssouveränität. Freilich ist die reine Demokratie ein nur annähernd und nur in kleinen Staaten (Rousseau mag an sein Genf gedacht haben) durch führbares Ideal. Je größer das Land, desto stärker wird die Zentralgewalt sein müssen; für sehr große Staatsgebilde empfiehlt sich am besten die Konföderation (wie sie bald nachher von den Vereinigten Freistaaten Nordamerikas praktisch durchgeführt ward). Während es nur eine einzige Staatsform, eben die der Souveränität des Volkes, das nie stirbt, geben kann, so können die Formen der Regierung wechseln. Die ausübende Gewalt kann nur in den Händen weniger, einer Art Wahlaristokratie, liegen; aber sie soll durch den direkt geäußerten Volkswillen kontrolliert werden. Dieser Gemeinwille (volonté générale), der Kernbegriff der Rousseauschen Sozialphilosophie, ist nicht einerlei mit der Summe der nur ihr persönliches Interesse verfolgenden Einzelwillen (volonté de tous); denn er ist seiner Natur nach nicht auf Einzelgegenstände oder -personen, etwa einen Monarchen, sondern auf das Wohl des Ganzen gerichtet. Ein sicheres Merkmal desselben fehlt freilich, ebenso die Durchführung im einzelnen. Nur ist zu bemerken, dass Rousseau sich in der Anwendung weit zurückhaltender zeigt, als man nach seinem abstrakt-radikalen Prinzip erwarten sollte. Sein Gefühlsstandpunkt zeigt sich auch hier in der Bevorzugung des Landlebens vor dem Stadtleben, des Ackerbaus und des Handwerks vor dem Handel und der Industrie.
Schon aus diesem Grunde ist es nicht angebracht, ihn als Vorläufer des modernen Sozialismus zu betrachten. In der Richtung des letzteren geht höchstens sein Kampf gegen eine immer mehr sich steigernde Arbeitsteilung, die den wirtschaftlich Schwächeren vom Willen des Stärkeren abhängig macht. Die persönliche Abhängigkeit des Menschen vom Menschen will Rousseau in eine rein gesetzliche verwandeln. Von einer Aufhebung des Privateigentums ist jedoch keine Rede. Im Gegenteil, wie sein »Staatsbürger« (citoyen) durch den Gesellschaftsvertrag statt der natürlichen die bürgerliche Freiheit eintauscht, so erhält er durch denselben, statt des unbeschränkten Rechtes auf alles, das »Eigentumsrecht von allem, was er besitzt«.
Überhaupt zeigt sich bei Rousseau ein Schwanken zwischen Individualismus und Staatsallmacht. Der citoyen wird gezwungen, frei zu sein! Dass Rousseaus Freiheitsstaat im letzten Grunde doch despotisch ist, zeigt die den Schluß des Contrat social bildende Forderung einer Staatsreligion, die aus vier Artikeln besteht: 1. Dasein Gottes, 2. Vergeltung nach dem Tode, 3. Heiligkeit der Staatsverfassung und der Gesetze und 4. Ausschließung der - Intoleranz, während zu dieser Staatsreligion doch jeder Bürger bei Strafe der Verbannung verpflichtet sein soll!
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*) Neben dieser Hauptschrift kommt noch der für die Enzyklopädie geschriebene Artikel Economie politique in Betracht, in dem eine mehr ethische Auffassung vorherrscht.