3. von Holbach


3. Das systematische Hauptwerk des französischen Materialismus im 18. Jahrhundert ist das Système de la nature (1770), das auf seinem Titelblatte den Nebentitel Gesetze der natürlichen und der moralischen Welt trug und als Verfasser den 1760 gestorbenen Mirabaud nannte. Erst zwei Jahrzehnte später fand sich, dass als der wahre Verfasser der früh aus der Pfalz nach Frankreich ausgewanderte deutsche Baron Dietrich von Holbach (1723 bis 1789) zu gelten habe. Dieser hatte sich, nachdem er anfangs vor allem chemische Studien getrieben und auf dies Gebiet bezügliche Artikel für die Enzyklopädie geschrieben, unter Diderots Einfluß der Philosophie zugewandt und sein gastliches Haus zu Paris, wie desgleichen seinen Landsitz, zum Sammelpunkt eines Kreises von Freigeistern gemacht, von denen Diderot, Grimm und der Mathematiker Lagrange an einigen Abschnitten des Système mitgearbeitet zu haben scheinen. Holbach selbst wird als eine bescheidene, edle und warmherzige Natur geschildert.

Die Bedeutung seines häufig als Bibel des Materialismus bezeichneten und in der Tat dogmatisch gehaltenen Buches liegt nicht sowohl in der Entfaltung neuer, fruchtbarer Gedanken, als in der systematischen Folgerichtigkeit und ehrlichen Energie, mit der hier der Kampf gegen allen Spiritualismus und Dualismus geführt wird: nach deutscher Art ernst und wuchtig, aber auch lehrhaft und trocken, ohne den französischen Esprit. Holbach will, gleich Epikur und Lukrez, die Menschen von der Furcht vor dem Übersinnlichen befreien und zur Natur zurückführen. Es existiert in Wahrheit nichts als die ewige, durch sich selbst bestehende Materie und ihre Bewegung; alles stammt aus ihr und kehrt zu ihr zurück, Übersinnliche, übernatürliche Wesen sind bloße Geschöpfe unserer Einbildungskraft. Die Natur steht unter den ewig unverbrüchlichen Gesetzen streng mechanischer Notwendigkeit. Alles in ihr ist in beständiger Bewegung und Entwicklung, Ruhe und Stillstand nur scheinbar. Die sogenannten toten und lebendigen Kräfte, die Diderot noch unterschieden hatte, sind von derselben Art; es findet ein fortwährender Kreislauf und Austausch (Anziehung und Abstoßung) zwischen ihnen statt, von dem Sonnensystem bis zu den kleinsten Teilchen. Ordnung und Unordnung, Zwecke und Werte sind Dinge, die wir erst in die Natur hineintragen; sie handelt nach ihren eigenen, notwendigen, jeden Zufall ausschließenden Gesetzen: eine, wenn auch unkritische, so doch in sich festgeschlossene Weltanschauung, gegen die Voltaire vergeblich mit seinen gefühlsmäßigen Argumenten ankämpfte. Descartes, Malebranche und Leibniz werden von Holbach ziemlich geringschätzig behandelt. Weil er ihren metaphysischen Trieb nicht versteht, so erblickt er in ihren Hypothesen nur theologische Vorurteile. Am schwersten, meint er bezeichnenderweise, sei Berkeley zu bekämpfen.

Auch der Mensch steht durchaus unter den Naturgesetzen der Materie, seine »Seele« ist abhängig von den Gehirnnerven. Keine Willensfreiheit, keine Unsterblichkeit. Der Tod ist nur ein Übergang in eine andere Daseinsform. Auch die Ethik ruht auf physiologischem Grunde: was in der Physik Trägheit, Anziehung, Abstoßung, ist in der Moral Selbstliebe, Liebe, Haß. Ihr Zweck und einziges Motiv ist die Erlangung dauernder Glückseligkeit, ihr letzter Maßstab der praktische Nutzen und das »wohlverstandene« Interesse. Indessen erheben sich auf diesem materialistischen Fundamente manche ganz idealistische Sätze. Nachdrücklicher als viele seiner Gesinnungsgenossen hebt Holbach die Wichtigkeit der sozialen Tugenden hervor. Der wahre Wert der menschlichen Handlungen bestimmt sich nach dem Grade, in welchem sie die Zwecke der Gesellschaft fördern oder hemmen. Zum wahren Glück gehört nicht bloß die Liebe und der Beifall der Mitmenschen, sondern auch die Selbstachtung und das Bewußtsein, für die anderen gewirkt zu haben, ferner Arbeit und Bedürfnislosigkeit. Die Regierung hat ihre Gewalt nur von der Gesellschaft und ist zu deren Wohl erwählt. Statt dessen treibt die heutige, entartete Gesellschaft durch ihre Einrichtungen die Menschen selbst in Laster und Verbrechen hinein. Übrigens straft die Natur selbst schon die Wollüstigen, Habsüchtigen, Despoten usw.

Die größte Feindin dieser natürlichen Moral ist die Religion, gegen die der zweite Teil des Werkes seine scharfen Pfeile sendet. Sie entfremdet die Menschen der Natur und dem wirklichen Leben, sie trennt sie, anstatt sie zu einigen. Das Glück der Menschheit hängt am Atheismus. Schwerlich hat sich vor Holbach jemand - selbst Lukrez, Hobbes und La Mettrie nicht ausgenommen - so unumwunden als Atheisten bekannt wie er: er verdarb es dadurch auch mit den Deisten wie Voltaire und den Pantheisten. Uns, die 100 Jahre nach Kant Lebenden, ermüdet die Weitschweifigkeit, mit der Holbach gegen den ontologischen und kosmologischen Gottes»beweis« zu Felde ziehen zu müssen glaubt. Obwohl er den Hang des Menschen zum Geheimnisvollen und Wunderbaren als fast unüberwindlich anerkennt, schiebt er doch ein andermal alles den Erfindungen der Priester in die Schuhe. Für das innerste Wesen des Christentums fehlt ihm, wie fast allen französischen Aufklärern, das Verständnis. Holbach verschließt sich nun freilich der Einsicht nicht, dass seine Ideen heftigem Widerstand begegnen werden. Er will zwar keineswegs, wie manche andere, der »Masse« die Religion als Surrogat für die Philosophie überlassen, aber er fürchtet, es werde ihr noch auf lange an Zeit und Neigung zu den ernsten Studien fehlen, welche die Sache erfordere. Allein er hofft auf die Zukunft. Es gibt nur eine Wahrheit, und Wahrheit kann niemals schaden; deshalb muß sie allen verkündet werden. Den (wahrscheinlich von Diderot herrührenden) Schluß des Système bildet ein feuriger Appell der als Person dargestellten Natur an die Menschheit. Die Natur und ihre drei Töchter: Tugend, Vernunft und Wahrheit sollen für immer unsere einzigen Gottheiten sein!

Dass Geistlichkeit und Parlament gegen das aufrührerische Buch einschritten, war selbstverständlich. Aber diesmal stand auch die öffentliche Meinung, mit ihrem Wortführer Voltaire an der Spitze, auf der Gegenseite; auch ein von Holbach verfaßter populärer Auszug (1772) vermochte ebensowenig wie ein solcher von Helvetius (1774) hieran etwas zu ändern. Selbst so freie Geister wie Friedrich der Große, d'Alembert und der Italiener Galiani lehnten das Buch ab; und welchen Eindruck es auf die deutsche Jugend der Sturm- und Drangperiode machte, zeigt die bekannte Charakterisierung in Goethes »Dichtung und Wahrheit«: »Grau, cymmerisch, totenhaft.« Zu Holbachs Anschauungen bekannte sich nur Diderot und sein engster Kreis, darunter der Deutsche Melchior Grimm (1723-1807) aus Regensburg, der unter Gottsched in Leipzig studiert hatte, dann als junger Mann (1748) nach Paris gegangen war und seit 1763 die Correspondance littéraire, philosophique et critique übernommen hatte, d.h. die Abfassung eines alle vierzehn Tage an eine Anzahl deutscher und nordischer Höfe versandten handschriftlichen Berichtes über die neuesten Erzeugnisse der französischen Kunst und Literatur. Diese heute in 16 Bänden (ed. Tourneux, Paris 1878-82) vorliegende Korrespondenz, die als Beilage u. a. auch polizeilich verbotene Schriften Voltaires (La Pucelle) und Diderots (La Religieuse, Le Rêve de D'Alembert) brachte, war für das geistige Leben in Deutschland und Frankreich von nicht geringer Bedeutung. Grimm, eine kühle und diplomatische Natur, war seit 1776 russischer Staatsrat und Gesandter für Sachsen-Gotha in Paris. Bei dem Ausbruch der Revolution ging er nach Deutschland zurück, wo er 1807 in Gotha starb.

Endlich gehört hierher das schon den Enzyklopädisten (Voltaire und Holbach) bekannte, aber erst 1864 vollständig herausgegebene Testament des nordfranzösischen Dorfpfarrers Meslier (1664-1730) (Le Testament de Jean Meslier par R. Charles, Amsterdam, 3 Bde. 1864), das einen konsequenteren und philosophisch tieferen Materialismus und Atheismus als selbst Holbach predigt und in seinem kurzen positiven Teile sozialistische Anschauungen vertritt; während seine Hauptstärke in der kühnen und leidenschaftlichen Kritik der staatlichen und kirchlichen Zustände Frankreichs besteht.*)

 

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*) Näheres berichtet C. Hugo (Lindemann) in Vorläufer des neueren Sozialismus (Stuttg. 1895) I, 792-810. 


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