2. Die Philosophie des moralischen Gefühls.
(Shaftesbury, Hutcheson, Butler, Mandeville)


Die deistische Aufklärung im Bunde mit einer auf die ursprüngliche moralische Anlage, das Gefühl des Menschen sich gründende Moralphilosophie vertritt vor allem

a) Lord Shaftesbury (1671-1713), Enkel des mit Locke befreundeten Ministers und von dem Philosophen selbst in dessen Grundsätzen erzogen. Schon als Knabe mit Griechisch und Latein wie mit seiner Muttersprache vertraut, begeistert für die Antike, ein feiner Welt- und Menschenkenner, will er, der Politik entsagend, ganz der schriftstellerischen Muße leben, stirbt aber, von Natur aus kränklich, bereits mit 42 Jahren im Süden (Neapel), ehe er seine weitreichenden Pläne ausführen konnte. Zwei Jahre vorher (1711) hatte er seine gesammelten Abhandlungen unter dem Titel Characteristics of men, manners, opinions, times herausgegeben, die viele Auflagen erlebten und in fast alle Kultursprachen übersetzt wurden. Sie sind in leichter, gefälliger Sprache, oft in Brief- oder Plato nachgeahmter Dialogform geschrieben: nichts Systematisches oder Lehrhaftes, sondern ins Poetische und Rhetorische hinüberspielende Reflexionen. Außerdem wurden viel gelesen seine Briefe an einen jungen Mann auf der Universität. Seine erste Schrift: Untersuchung über die Tugend ist nach dem ursprünglichen Text von 1699 ins Deutsche übersetzt worden von P. Ziertmann (Phil. Bibl.) 1905; aus den Characteristics die zwei bedeutendsten: Ein Brief über den Enthusiasmus und Die Moralisten (mit guter Einleitung) von M. Frischeisen- Köhler (Phil. Bibl.) 1909; die letztere »philosophische Rhapsodie« auch von K. Wollf (Jena, Diederichs) 1910.

Der Grundzug von Shaftesburys Philosophie ist die Begeisterung für das Wahre, Gute und Schöne. Ethik, Religion und Ästhetik werden auf das Gefühl gegründet. Das moralische Gefühl (moral sense) ist abhängig von dem religiösen, findet aber in ihm seine Vollendung. Es entstammt nicht dem Katechismus, auch nicht bloß der Erfahrung, sondern liegt in der Natur des Menschen. Durch einen natürlichen Instinkt fühlt sich der Mensch mit seinen Mitmenschen verbunden (vgl. schon Cudworth und Cumberland, § 7). Alle Wesen streben nach dem Glück. Das wahre Glück beruht aber nicht auf den rein egoistischen Gefühlen, sondern auf ihrer Verbindung mit den sympathischen (heute würde man sagen: altruistischen), d.h. auf der inneren Harmonie. Harmonie herrscht auch in der gesamten Natur, die ihren letzten Grund in Gottes Gedanken hat; so führt die Ethik zur Religion.

Shaftesburys Weltanschauung ist Panentheismus, wie bei G. Bruno, und von freudigem Optimismus beseelt. Die Unvollkommenheit des einzelnen verschwindet für ihn, wie für Leibniz, in der großen Harmonie des Universums, daher denn auch von ihm und seinen Anhängern der physikotheologische Beweis für das Dasein Gottes mit Vorliebe gepflegt wird. Bei allem Edelsinn ist seine Moral von Grund aus eudämonistisch. Ihren psychologischen Unterbau bildet eine Theorie der selbstischen, geselligen und vernunftmäßigen Affekte, die richtige Selbstliebe ist ihm der Gipfel der Weisheit. Freilich muß sich das moralische Gefühl durch Kultivierung und Übung erst ausbilden. Hoffnung und Furcht vermögen den Menschen nur zu bändigen, nicht ihn sittlich zu machen. Sein Ideal ist die harmonische Ausbildung der Persönlichkeit, die kalokagathia der Griechen, also ein wesentlich ästhetisches. Das einzige wahre Gut ist die uneigennützige Liebe zum Schönen, dessen Urbild Gott selbst ist. Diese ästhetische Stimmung gibt uns auch die Kraft, tugendhaft zu handeln. Shaftesbury hat auf seine Zeitgenossen und die Nachlebenden mächtig gewirkt, von den Franzosen namentlich auf Diderot und Voltaire, von Deutschen insbesondere auf Wieland, Herder und den jungen Schiller.

b) Eine systematischere Form erhielten Shaftesburys Ideen durch den Schotten Francis Hutcheson (1694 bis 1747, Professor in Glasgow). Seinen Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend (1725) folgte 1728 eine Abhandlung Über die Natur und die Leitung der Leidenschaften und Affekte und acht Jahre nach seinem Tode noch sein System der Moralphilosophie. Hutcheson will die Ethik auf die Beobachtung der wirklichen menschlichen Natur gründen. In dieser findet er, und zwar bei allen Menschen im wesentlichen gleich, neben den egoistischen von vornherein auch die Gefühle der Sympathie. Es gibt, entsprechend dem ästhetischen Geschmack, einen moralischen Sinn, der der Vernunftleitung wie anderseits des Erfahrungsmaßstabes bedarf. Diejenige Handlung ist am höchsten zu schätzen, welche »der größtmöglichen Anzahl das größtmögliche Glück verschafft« Der uns von der Gottheit verliehene moralische Sinn ist auch in den Nichtgläubigen wirksam und von theologischen Vorstellungen ganz unabhängig.

c) Im Gegensatz zu Hutcheson gab Bischof Butler (1692-1752) der Lehre Shaftesburys eine mehr theologische, dagegen weniger eudämonistische Wendung. Das unmittelbar Nötigende des moralischen Sinnes, den Butler lieber Gewissen nennen will, komme bei Shaftesbury nicht genug zu seinem Rechte, nämlich der Herrschaft über die Begierden. Die Befriedigung des Gewissens, die wir erstreben sollen, hat mit im voraus berechneten Lustgefühlen nichts zu tun und darf sich ebensowenig von der Erwägung der Folgen bestimmen lassen. Über die nicht von Begeisterung erfüllten, kühleren Stunden kann uns nur der Glaube an Gott und ein künftiges Leben hinweghelfen. Gegenüber dem platten Optimismus vieler Anhänger der natürlichen Religion weist Butler auf die Übel in der Natur, das ungerechte Leiden vieler Unschuldigen und andere Schwierigkeiten hin.

d) Den denkbar stärksten Gegensatz zu Shaftesburys Optimismus bildet der Pessimismus, der sich in Mandevilles merkwürdiger Bienenfabel ausspricht. Bernard de Mandeville, aus französischer Familie, um 1670 in Holland geboren, später Arzt in London, • 1733, ließ 1708 auf den Straßen Londons als Flugblatt ein Gedicht in 400 Versen verteilen, das den Titel führte: Der summende Korb oder die ehrlich gewordenen Schelme. In satirisch-poetischer Form verteidigt es den paradoxen Satz, dass Macht und Blüte eines Gemeinwesens nicht auf der Tugend, sondern auf den lasterhaften Neigungen der einzelnen (Eitelkeit, Ehrgeiz, Heuchelei, Betrug, Schwelgerei, Wollust) beruhen, Als man Ehrlichkeit, Zufriedenheit und Tugend in den Staat seiner Fabel eingeführt hatte, verschwanden Macht, Glanz und Glück. Größe und Rechtschaffenheit verbinden zu wollen, ist ein eitler Traum. Da seit 1711 Shaftesburys Optimismus immer mehr Anhänger gewann, gab Mandeville 1714 sein Flugblatt als besondere Schrift Die Bienenfabel oder: private Laster - Wohltaten für das Ganze, mit erläuternden Anmerkungen heraus; die späteren Auflagen - 1732 erschien bereits die sechste - wurden durch weitere Exkurse und Dialoge vermehrt. Gegen Shaftesbury erhebt er den richtigen Einwand, dass seine liebenswürdige Schönheitsphilosophie nicht bloß die Welt weit besser zeichne, als sie ist, sondern auch, dass sie eine Philosophie nur für die bevorzugten Klassen, für Glückliche sei. In Wahrheit treiben egoistische Interessen den Menschen zur Arbeit, zum gesellschaftlichen Leben und damit zur Kultur. Bei einer allgemeinen Zufriedenheit, die sich mit dem begnügt, was ein jeder hat, würde schließlich alle Kultur stille stehen. Was man gewöhnlich als »Tugenden« bezeichnet, ist von ehrgeizigen Politikern erfunden worden, um die Massen zu beherrschen. Gleichwohl hält Mandeville die Armut und Beschränktheit der niederen Klassen für nötig, damit die Kultur bestehe und weiter gedeihe. Im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen ist Mandeville noch heute interessant; in einzelnem erinnert er an Nietzsche.


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