Die deutsche »Demokratie« und Rußland


(17.10.1917)

 

Was sich dieser Tage in Deutschland begeben hat, scheinbar ein Sieg der Reaktion über die Demokratie, ist in Wirklichkeit nur ein Sieg der preußischen Militärpartei über die bourgeoisen Bedenken der russischen Revolution gegenüber.

Unter dem Eindruck dieser Revolution regten sich im Frühjahr in Deutschland-Österreich allerhand Reformgelüste. Unter dem ersten Eindruck der russischen Freiheit entschlossen sich die bürgerlichen Parteien zu ihrer Resolution vom 19. Juli und die österreichischen Slaven zu einer entschiedeneren Aufstellung ihrer Forderungen. Der Wiener Hof unternahm jenen Schritt bei der Kurie; die Papstnote hatte Wilsons kategorische Demokratie-Note zur Folge, und einen Augenblick schien es, als ob nicht nur 1848, sondern sogar der österreichisch-preußische Gegensatz von 1866 wieder aufleben wollten.

Die Maßnahmen der preußischen Militärs und Bürokraten haben dem Wirrwarr und Durcheinander in den Parteien, Kleriseien und Journalen, sowie allen Emanzipationsschwärmern ein unmißverständliches Ziel gesetzt. Schien es erst, als sei die neue Gefahr ein habsburgisch-katholisches Deutschland, so scheint heute geplant eine Heilige Allianz der europäischen Regierungen unter Führung der Hohenzollern.

Regierung und Volk (das heißt Regierung und Bourgeoisie) sind wieder einig: fast so einig wie 1914. Alle Reichstagsparteien, mit Ausnahme der unabhängigen Sozialdemokraten, haben der Regierung ausdrücklich zugestimmt und eine Präzisierung der Kriegsziele für nicht angebracht befunden. Sie haben der Regierung bestätigt, daß die Antwort auf die Papstnote, im Einverständnis mit dem Resolutionsblock abgegeben wurde; sie stimmten der Regierungsnote nicht nur zu, sondern fanden sie sogar »herrlich gut«, weil sie entweder in der Tat glauben, es seien mit dieser Autokratie internationale Abmachungen möglich, oder aber, weil sie sogar für möglich halten, die deutschen Vorschläge (wie sie am deutlichsten in der bulgarischen Note formuliert sind) könnten zu einer unter deutschem Protektorat stehenden internationalen Staatenliga führen, die »die privaten Beziehungen der Untertanen beherrscht« (Note des Bulgarenkönigs). Drei Sätze aus den Reden der Herren Michaelis und Kühlmann genügten, um — nicht die demokratischen Forderungen umzuwerfen, sondern um die Bourgeoisie, die geglaubt hatte, verzichten zu müssen, wieder zu bestärken. Die Sätze lauten: »Ein einiges Deutschland kann nicht geschlagen werden«; »haben wir Friede im Innern, so sind wir der neuen weltpolitischen Situation (man höre die Anspielung auf Rußland) Herr«; und »wenn sich die Mitglieder des hohen Hauses und der Presse auf unsere Seite stellen, ist die Situation unendlich erleichtert und der Weg von vermeidbaren Hindernissen befreit«.

Nun hat man aber in Deutschland in diesen Tagen wieder gesehen, was es heißt, uneinig zu sein. Der ganze Partikularismus der vor-achtundvierziger Jahre drohte wieder aufzukommen; unendlich mühselige Zänkereien gröbsten und perfidesten Kalibers: kurz, das ganze »deutsche Gemüt« drohte wieder aufzuleben. Was ist bequemer, als all dem auszuweichen, indem man sich der sicheren Hand von Militärs anvertraut und der Regierung des Herrn Dr. Michaelis keine Schwierigkeiten in den Weg legt. Wenn man wissen will, was für eine faszinierende Wirkung auf das deutsche Gemüt die Aussicht auf Macht, Annexion und Sieg ausübt, so blättere man in Grumbachs Buch »Das annexionistische Deutschland«.

Es ist der Regierung von neuem gelungen, die Aussicht auf den Sieg nicht nur als wahrscheinlich, sondern als gewiß hinzustellen, und jener Siebenerausschuß des Reichstags, der laut »Frankfurter Zeitung« die preußische Bürokratie parlamentari-sieren sollte, bei sich nicht nur bürokratisieren lassen, sondern als Geheimkabinett seine ergebensten Dienste geleistet. Es scheint dabei jener rasch berüchtigt gewordenen »Vaterlandspartei« unter ihren ehrenwerten Vorsitzenden Tirpitz und Dr. Kapp nicht einmal wesentlich bedurft zu haben. Das deutsche Volk (die deutsche Bourgeoisie) ist selbständig genug. Sie weiß allein, wo sie am besten geknebelt wird. Es ist ihr nicht um die Demokratie zu tun, sondern um einen sogenannten »Siegfrieden«. Frieden will sie, aber nur wenn er Machtzuwachs bringt. Für dies Ideal ist sie bereit, Hunger und Tod auszustehen und es mit Resolutionen nicht so genau zu nehmen. Die gesamte Bourgeoisie (von wenigen Ausnahmen abgesehen) will: entweder völlig zugrunde gehen, oder völlig geknebelt sein. Zu sich selbst hat sie kein Vertrauen. Von sich selbst erwartet sie nichts. Vor sich selbst hat sie keine Achtung. Das sind die Gründe, weshalb jene deutsche Militär- und Beamtenkaste ebenfalls keine Achtung vor ihr empfindet und mit ihren Vertretern umgeht wie mit einer Sammlung von Hampelmännern.

Was Deutschland fehlt, ist eine politische Kultur. Man hat nie Überfluß an universalen freiheitlichen Ideen gehabt; wie sollte man welche zur Geltung bringen? Was heute mit wenigen Ausnahmen im Reichstag politisiert, sind schwache Köpfe, die den Herrgott für einen Patrioten halten, weil er so sichtbar mit Deutschland ist. Woher sollten sie die Kraft nehmen, einem ungeheuer verzweigten abstrakten Gebilde standzuhalten, das sie erdrückt, dessen Vorder- und Hintergründe zu durchschauen ihnen jegliches historisches Rüstzeug fehlt; wie sollten sie den Kampf mit einem Staate aufnehmen können, der über ihre patriotischen Köpfe hinweg in seinem Mechanismus internationale Politik treibt? Sie haben sich immer nur um ihr Winkelwohl und -Wehe gekümmert; sie sind keineswegs imstande, einem auf die europäische Unterdrückung eingestellten Großstaats-Mechanismus in seine Aspirationen und Wirklichkeiten zu folgen. Sie sehen an ihren Strategen nur die Tüchtigkeit, nicht die Gefahr, und sie sind moralisch so naiv, daß sie glauben, Tüchtigkeit und Gefahr schließen sich aus. Daher das unbändige Vertrauen zu ihren Hindenburg, Ludendorff und wie die Herren alle heißen, die moralisch wirklich Biedermänner sein mögen, aber eben deshalb politisch zu verderblichen Intrigants werden.

Was soll diese ganze belgische Frage, die keine Frage ist, sondern ein Vorwand, ein »Plänkler«, wie man so sagt? Bethmann-Hollweg hat doch wohl klipp und klar die Herausgabe und Wiederherstellung versprochen, wenn die »militärischen Ziele« erreicht sind. Die »militärischen Ziele« wurden nicht erreicht. Ist das ein Grund, die Wiederherstellung zu verweigern? Aber Wortbruch, Verrat und dummdreiste Hinterlist sind kein Vorwand gegen ein Staatswesen und eine Bürokratie, wie sie heute in Deutschland herrschen. Sie ergeben sich aus den Lebensbedingungen des Absolutismus und des bürokratischen Staatsungeheuers von selbst und sind nicht anders zu beseitigen als durch Sturz oder Niederlage des ganzen Systems.

Die Frage, die heute viel wichtiger und wirklich im Mittelpunkt steht, ist die Freigabe von Elsaß-Lothringen. Das ist eine Frage, die das Volk, nicht nur die Bourgoisie angeht. Die annexionistische Bourgeoisie wird man in ihren Demokratiebestrebungen nicht ernst nehmen können, bevor sie sich zur Freigabe von Elsaß-Lothringen entschließt, oder diese Frage wenigstens ernstlich debattiert. Denn Vertrauen wird sie nur wieder verdienen, wenn sie an diesem Punkte mit der Bismarckschen Tradition bricht. Anders steht es mit der Masse, dem Proletariat (zu dem heute die deklassierte Bourgeoisie gehört), dem eigentlichen Volk. Es ist nur annexionistisch, weil und solange die Regierung es will, eigene Annexions gelüste fehlen ihm und es würde sich wohl zur Abstimmung verstehen, wie die französischen Sozialisten sie vorgeschlagen haben. Von dem Reichstag jedoch, der heute am Ruder ist, bleibt nichts zu erwarten. Er hat sich kompromittiert bei Kriegsausbruch gegenüber der internationalen Demokratie, und zum zweitenmal jetzt gegenüber der russischen Revolution. Die Alldeutschen dringen auf Auflösung des Reichstages und Neuwahlen. Aber das Volk, die Masse, wird eines Tags darauf dringen müssen, und vielleicht zeigt sich dann, daß das Volk inzwischen gelernt hat und daß die Herren, die es heute im Reichstag vertreten, wirklich nicht mehr der Ausdruck seiner Wünsche sind. Die heutige Volksvertretung ist unfähig, Verträge zu schließen; sie würde das Volk nicht mehr vertreten können, wenn es ihr auch unter neuem Druck gelänge, sich als wirkliches Parlament zu etablieren. Sie wird immer wieder annexionistische Rückfälle bekommen, auch bei Friedensverhandlungen; denn sie stammt aus dem Jahre 1912, hat für die wirklichen Bedürfnisse der Nation kein Gefühl und ist mit der Regierung im Komplott.

Was will diese Regierung? Sie will den »Sieg«, das heißt die Oberherrschaft in der Welt, weil ja alle Welt gegen sie ist. Das heißt: Die Wiederkehr des russischen Absolutismus. Das heißt: Die Unterdrückung der ganzen Welt unter das Staatssystem einer Kaste, die sich bis jetzt in ihren Manifestationen keineswegs als höchstbegabt erwiesen hat. Sie weiß, daß die Aufrechterhaltung des Status quo ante nebst Unterseebooten und freiem Meer schon genügen würde, ihr in den nächsten 20 Jahren die Übermacht zu sichern. Was verlangt sie aber? »Wir müssen beim Friedensschlusse ohne schwächliche Rücksichten nur unser eigenstes Interesse bedenkend, dafür Sorge tragen, daß unser Deutschland in einer so überwältigenden Größe und Macht dasteht, daß keine denkbare Koalition in Europa es wagen kann, uns anzugreifen, oder wenn sie es wagt, daran verbluten muß« (Generalmajor von Wrochem). Man wird einwenden, das war im Februar 1915. Man vergleiche aber damit, was vor einigen Tagen (am 30. Sept. 1917) nach der »Neuen Zürcher Zeitung« die Friedensbedingungen der Bulgaren sind. Ein Vertreter der offiziösen bulgarischen Presse erklärt dort, nachdem er die bulgarischen Annexionswünsche offen als deutsche Versprechungen und Abmachungen bezeichnet hat: »Bis die Geister im Orient für einen Balkan- und Untern Donaubund reif sind, muß hier die Macht den Frieden aufrechterhalten. Einzig ein Staat, der stärker als die andern imstande ist, jeder Koalition seiner Nachbarn Widerpart zu halten, könnte dem Frieden Achtung verschaffen.«

Man sieht: die Theorie vom Machtstaat, der imstande ist, jeder möglichen Koalition Widerpart zu bieten, ist preußische Generalstabsschule, die wie in Europa, so im Orient Anwendung finden soll (Österreich eingekeilt in der Mitte). Und was ergibt sich daraus? Daß die internationalen Verträge, die Deutschland vorschlägt, nicht einen Völkerbund auf demokratischer Grundlage meinen, sondern einen Staatenverband unter imperialistischer Führung. Andere Verträge kann und will der preußische Absolutismus nicht schließen; denn jeder internationale Vorschlag, der von Gleichberechtigung ausgeht, muß in Preußen Ablehnung finden, weil er den Verzicht auf Macht und Waffe fordert, ohne Macht und Waffe aber eine Militärdynastie nicht denkbar ist.


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