Österreichs Kulturmission
(21.11.1917)
Die Kulturmission reicht zurück in die Zeiten der alten Ostmark, die den christlichen Staat gegen die Raubüberfälle der Avaren und Magyaren schützen sollte. Die alte Ostmark bestand schwere Kämpfe. Auf ihre oft gefährdete Position richteten sich die Blicke der ganzen Christenheit, und jene Fürsten, die dort gegen das Heidentum siegten, verdienten sich damit die ganz besondere Auszeichnung des Stellvertreters Christi in Rom. Mit den Kriegen dieser Zeit ist die höchste geistliche und weltliche Heldenehre verbunden; sie haben den Sinn von Kreuzzügen und schließen bereits allen Furor der Verchristlichung und der Entnationalisierung der unterworfenen Völker in sich. In diesen frühesten Zeiten der theokratischen Verteidigung und Eroberung ist es das christliche Ideal abendländischer Kultur und Sitte, das man nach Osten trägt oder verteidigt, und aus diesen Zeiten erhielt sich die deutschösterreichische Überzeugung, Werkzeug Gottes und Vorkämpfer der abendländisch-europäischen Kultur zu sein.
Im 17. Jahrhundert, nachdem die aus dem Ural kommenden Magyaren seßhaft und katholiziert worden waren, kam dazu die Mission gegen die Türkengefahr und der Befreiung vom Türkenjoch. Und in der ungarischen Fassung der Pragmatischen Sanktion vom Jahre 1712 kommt neben dem Zwecke der Abwehr äußerer Gewalt und der Unterdrückung verhängnisvoller innerer Unruhen das weitere Ziel zum Ausdruck, der Christenheit Ruhe und ständigen Frieden zu sichern. Auch dies war ein ehrwürdiges Ziel, das in der österreichischen Volkstradition solange weiterlebte, daß man darauf noch die »Friedensziele« des Dreibunds errichten konnte.
Seither bildet die Kulturmission den Hauptinhalt des k. und k. Selbstbewußtseins der österreichischen Dynastie, wenn es auch Herzog Karl von Lothringen und der Polenkönig Johann Sobieski waren, die 1683 den Großvezier Kara Mustapha schlugen. Mit der protestantischen Reformation, der Schwächung der Türkei und deren dem Weltfrieden eher förderlichen Haltung traten die hieratischen Aufgaben Österreichs im Orient etwas zurück: die Kulturmission richtete sich jetzt nach innen. Die energische Germanisierung, die Joseph II. in Gestalt von Einheits- und Reformbestrebungen im Reich zur Anwendung brachte, zeigt auch bereits den erbitterten Widerstand gegen die Kulturmission in der Monarchie selbst. Die Ungarn verbinden sich 1790 mit den Kroaten: die Habsburger als von Gottesgnaden auserwählte Dynastie und die Deutsch-Österreicher als von der Vorsehung bestimmtes Kulturvolk erfahren Widerspruch.
Der Germanisierungseifer Josephs II. war einfach die Reaktion auf das Abflauen der orientalischen Abwehr- und Kulturmission, auf den Zerfall des außenpolitischen Ideals der Pragmatischen Sanktion. Die Respektlosigkeit gegen die Habsburgische Dynastie geht so weit, daß die Ungarn, die allmählich die Funktionen der Pragmatischen Sanktion gegen die Türken übernommen haben, und mit ihnen das Volk von Wien, Prag und Venetien, 1848 sich gegen die unmodern gewordene Dynastie erheben. Damals, 1848, gelegentlich des ersten Slavenkongresses von Prag, verlangt man bereits die Auflösung Österreichs und eine Föderation aller Slaven im Bündnisse mit Ungarn. Doch damals erheben sich auch die ersten Stimmen in Deutschland, die Österreich eine neue Kulturmission, gegen den Panslavismus, zuweisen. Staatszweck Österreichs soll jetzt der Schutz der europäischen Kultur gegen das »barbarische« Rußland sein. Die europäische Kultur kommt aber seit 1793 nicht mehr von Rom, sondern von Paris. Nicht mehr das universale Christentum ist ihr Ideal, sondern die universale Revolution, die Österreich vom ersten Anfang an zu knebeln bestrebt ist, weil sie in erster Linie mit dem verzopften österreichischen Hofrats-Christochinesentum aufzuräumen bestrebt ist.
Man weiß, daß die Panslavistenhetze Wilhelm I. bitter geschmerzt hat, richtete sie sich doch gegen seinen Freund und Neffen, Alexander II. Aber Bismarck übernahm die Idee der Pragmatischen Sanktion, wie er die konterrevolutionären Ideen der Heiligen Allianz und Metternichs übernahm, und das »Kultur-nach-Osten-Tragen« unter dem Vorwand der panslavistischen Gefahr lieferte den phraseologischen Überbau für die Germanisierungsinteressen in Österreich und im Orient. In Deutschland selbst erhoben sich dagegen vereinzelte Stimmen. So war z. B. der Philosoph des Unbewußten, Ed. v. Hartmann, für ein slavisches Österreich. Aber die ganze pangermanistische Sozialdemokratie von Lassalle über Wilhelm Liebknecht bis zu Bebel und Lensch verlangte den »Wall bis zur Adria« gegen das Slaventum. Die päpstliche und die revolutionäre Universalidee sollen ersetzt werden von der Hohenzollerschen. Systematisch bestärkt man den Deutsch-Österreicher in seiner »angestammten« politischen Führerrolle, und auch der alte Friedensgedanke der Pragmatischen Sanktion taucht wieder auf. In der Überzeugung, daß Habsburg gerade durch seine »bindende« Macht berufen sei, der Welt den Frieden zu erhalten, leistet man sich den schlechten Scherz von dem im österreichischen Staatsproblem konzentrierten europäischen Friedensproblem. Die geistige und die wirtschaftsimperialistische »Kulturmission« verbinden sich, wobei man unter Kultur, wenn man jetzt Überwindung des Orientalismus sagt, bismarckisch-neudeutsche Kultur, Bürokratie und Offiziersdrill versteht. Und Voraussetzung ist die »Überlegenheit« dieser mitteleuropäischen Kultur: Statt Spiritualismus Arroganz. Hindenbürgerliche Pastoralsymphonie anstelle des nach dem Jenseits gerichteten Habsburger Kreuzzüglerepigonentums. Wie man im tiefen Mittelalter nur das Latein als Staatssprache gelten ließ, so soll jetzt in der Donaumonarchie nur das Deutsche geduldet werden, die Vulgär- und Lokalsprachen aber sollen verschwinden. Einer grammatikalischen Beamtenpolitik substituiert man den Titel Kulturmission. Denn als Beamtenpolitik enthüllt sich dieser auf die bäuerliche Bevölkerung berechnete Suggestionsversuch. Aber 1866 sind die Nichtdeutschen aus der Minderheit in Deutschland die Mehrheit in Österreich geworden infolge der Niederlage von Königgrätz. Der auf die politische Unabhängigkeit (von der Kontrolle der wirklichen Kulturwelt) bedachte magyarische Staatshintergedanke wehrt sich verzweifelt gegen die Wiederholung des pragmatischen Gesamtstaats. Die deutschen Kulturpioniere, Beamte, Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, besonders aber Verwaltungsbeamte auf einträglichen Staatsstellen begegnen als Missionare heftigstem Widerstand.
Das Jahr 1871 ist die Geburtsstunde des eigentlichen Nationalitätenkampfes in Österreich. Den Deutschösterreichern liefert das neudeutsche Prestige die Hoffnung, jetzt oder nie mehr in Österreich die Oberhand zu bekommen. Von den alten Zeiten her ist ihnen das »kulturelle Verantwortlichkeitsgefühl« geblieben. Den Beruf zur Führerschaft wollen sie sich nicht nehmen lassen. Aber durch die den Magyaren 1868 notwendig, zugestandene Personalunion (in ihrem Ursprung und Verlauf eine Art friedlicher Okkupationsintrige Bismarcks) werden auch die Tschechen in ihren Selbständigkeitsbestrebungen bestärkt. Die Ungarn lehnen ein Zentralparlament ab, und ihnen zuliebe ist man gezwungen, Zollkriege mit Rumänien und Serbien zu führen. Es beginnt die ungarische Kulturmission, die Entnationalisierungsrazzia als Exploitationsmethode. Sie trägt nicht dazu bei, die deutschen Aspirationen zu befördern. Die Alldeutschen Iro, Wolf, Schönerer schreiben solange »Nieder mit Habsburg! Hoch Hohenzollern!«, bis der alte Kaiser Franz Joseph, als Eduard VII. ihn 1907 für ein Friedensarrangement zu gewinnen sucht, das Habsburgertum und Königgrätz dementiert und überraschenderweise gesteht: »Ich bin ein deutscher Fürst!« Die deutschösterreichische Erbitterung im Nationalitätenkampf wächst. Man erhoffte sich einen deutschen Staat über den Nationalitäten, gewissermaßen eine deutsche Militär-, Justiz-, Polizei- und Kulturhoheit; deutsche Amts- und Großverkehrssprache. Aber je mehr man darauf drängt, desto hartnäckiger ergibt sich das Problem der Dezentralisation aufgrund ausgiebiger Autonomien-Erteilung. Wie soll nun eine einheitliche Bürokratie Zustandekommen in einem Staatswesen, das nach Kautschitsch in sieben, nach Palachi in acht und nach Popovics in sechzehn Teile zerfällt?
Der Trialismus, den Franz Ferdinand in dem Jahre kurz vor Kriegsausbruch anstrebt, läßt das finsterste Österreich noch einmal aufleben: die Polizeifarce, die Jesuitenpolitik und die magyarische Denunzianten-Demagogie als kinofähigen Kulturtrialismus. Die Unmöglichkeit jeder Lösung des Nationalitätenstreits von seiten der Dynastie beweist dieser letzte energische Habsburger mit seiner gegen die überhandnehmenden Preußen und Magyaren gerichteten Reformrevolte. Renner konstatierte ironische Rückwärtskonzentration der deutschösterreichischen Bourgeoisie, erst aus Ungarn, dann aus Galizien, dann aus Dalmatien und aus der Bukowina. Die Nötigung zur Verbreitung »gemeindeutscher Kultur« nach Osten bleibt gleichwohl bestehen. Sie ist ein integrierender Bestandteil der deutschen Expansion, und gegen sie ist nicht mehr aufzukommen. Aber aggressive Rohstoffpolitik — ist das nicht Kulturmission? Und nachdem es keinen Zaren mehr gibt, also auch keinen Panslavismus mehr — genügt die »Kulturmission«, um Annexionen zu sanktionieren?
Das Haus Habsburg, das in dunklem Drange, die Wirklichkeit durch den Geist zu vertilgen, die Geistlichkeit anstelle des Wirklichen setzte, hat mit Beginn der französischen großen Revolution kehrt gemacht und diese Art Kultur statt nach Osten, nach Westen getragen. Das europäische Konzert, das 1815 in Wien zustandekam, der erlauchteste Mystifikationskongreß weltlicher Herrscher Diplomaten, den je eine Welt gesehen hat, machte unter Metternichs Taktstock Kirchenmusik, ausgeführt von einer Rückversicherungsgesellschaft adeliger Herrschaften, die gegen den Friedens- und Ruhestörer, das verhaßte revolutionäre Frankreich, alle Art hohlklingender und mißtöniger Instrumente blies. Es wäre interessant, die Geschichte der Eifersüchte und der in den österreichischen Kabinetten ausspionierten reaktionären Regierungsmethoden zu erbitten, die Bismarck, dieser schlimme Metternichepigone, von da an nach der Spree verpflanzte. So sehr im anschließenden »Kulturkampf« das Haus HohenzoUern mit dem Hause Habsburg zusammenstieß, so tief sympathisch müssen den Habsburgern doch die wohlvertrauten Bismarckschen Staatsgrundsätze geblieben sein: Ordnung, Ruhe und Frieden, bis es ausreicht für einen Weltkrieg. Das auserwählte Volk ist jetzt Preußen. 1914 beginnen die Deutschen ihre Kulturmission bereits nach Belgien, ja nach Frankreich zu tragen, dem Herd aller Unruhe und alles »Revolutionsfiebers«. Man hat vorgearbeitet. Die Sorbonne und das Collège de France arbeiten mit den theologischen Methoden der deutschen Evangelienkritik. Die französischen Sozialisten rühmen die Marxistische Pfaffenschule. Die Syndikate nehmen Berlin für Rom und Legien für Pontifex. Hertling wird Reichskanzler, und Karl von Habsburg soll König des katholischen Polens werden. Das katholische Belgien hat man schon kultiviert. Der Papst wird helfen, Italien und Frankreich der Kultur zu gewinnen. Dem deutschen Gott aber wachsen Flügel.